Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 305416 - vom 25. April 2006.
Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 15. März 2006 angenommen.
Empfehlung des Europäischen Parlaments an den Rat zur Bewertung des Europäischen Haftbefehls (2005/2175(INI))
Das Europäische Parlament,
- - in Kenntnis des von Adeline Hazan im Namen der PSE-Fraktion eingereichten Entwurfs einer Empfehlung an den Rat zur Bewertung des Europäischen Haftbefehls (B6-0455/2005),
- - unter Hinweis auf den Vertrag von Amsterdam, durch den das Ziel, einen Europäischen Rechtsraum zu schaffen, erstmals in den Texten verankert wurde,
- - unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, durch die der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als ein Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit festgeschrieben wurde,
- - unter Hinweis auf seinen Standpunkt vom 6. Februar 2002 zu dem Entwurf für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten1,
- - unter Hinweis auf den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten2,
- - unter Hinweis auf den Bericht der Kommission vom 23. Februar 2005 auf der Grundlage von Artikel 34 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates (KOM (2005) 0063),
- - unter Hinweis auf den Bericht der Kommission vom 24. Januar 2006 auf der Grundlage von Artikel 34 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates (KOM (2006) 0008),
- - in Kenntnis der Urteile der Verfassungsgerichte Polens (27. April 2005), der Bundesrepublik Deutschland (18. Juli 2005) und Zyperns (7. November 2005) und der verschiedenen laufenden Verfahren, insbesondere vor der belgischen Cour d"Arbitrage,
- - unter Hinweis auf das Parlamentarische Treffen vom 17. und 18. Oktober 2005 zum Thema "Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Europa", an dem etwa hundert nationale Abgeordnete und Mitglieder des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres teilnahmen,
- - gestützt auf Artikel 114 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung,
- - in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (A6-0049/2006),
A. in Erwägung des innovativen und exemplarischen Charakters, den der Europäische Haftbefehl für die Entwicklung der justiziellen Zusammenarbeit und die Verstärkung des gegenseitigen Vertrauens darstellt, sowie seiner direkten Auswirkungen auf die bürgerlichen Freiheiten,
B. in der Erwägung, dass der Europäische Haftbefehl weiterhin eines der Hauptinstrumente der Europäischen Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit und auf dem Gebiet der Bekämpfung des Terrorismus und der Großkriminalität ist,
C. in der Erwägung, dass die von der Kommission durchgeführte erste Bewertung zeigt, dass sich der Europäische Haftbefehl im Vergleich zum Auslieferungsverfahren, das langsam schwerfällig und inzwischen überholt ist, als sehr effizient erwiesen hat; in der Erwägung, dass mit ihm auch die Gefahr verringert werden kann, dass ein Beschuldigter oder ein Verurteilter der Justiz aus Gründen der "gerichtlichen Souveränität" entkommt, und dass mit ihm somit die organisierte Kriminalität und der Terrorismus wirksamer bekämpft werden können,
D. unter Hinweis darauf, dass einer der Fortschritte des Europäischen Haftbefehls im Unterschied zum Auslieferungsverfahren in der Beseitigung der Einmischung der politischen Stellen in das Verfahren besteht,
E. in der Erwägung, dass mehrere Mitgliedstaaten ihren Willen deutlich bekundet haben, Elemente des klassischen Auslieferungsverfahrens zu erhalten (Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit, Einflussnahme der politischen Stellen auf das Gerichtsverfahren) oder aber zusätzliche Ablehnungsgründe einzuführen, die dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI zuwiderlaufen, wie etwa politische oder die nationale Sicherheit betreffende Gründe oder aber Gründe im Zusammenhang mit der Achtung der Grundrechte,
F. in Erwägung der praktischen Hindernisse, die bei der Anwendung des Europäischen Haftbefehls aufgetreten sind, insbesondere bei der Übersetzung, der Übermittlung oder dem Gebrauch unterschiedlicher Formblätter, die kaum mit den Erfordernissen des Europäischen Haftbefehls vereinbar sind,
G. in Erwägung der Schwierigkeiten, die in letzter Zeit mehrere Mitgliedstaaten (insbesondere Deutschland) bei der Umsetzung gehabt haben, und der Notwendigkeit, die einzelstaatlichen Verfassungstexte in Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI zu bringen, um die Übergabe von Staatsangehörigen zu ermöglichen (insbesondere in Polen und auf Zypern),
H. in der Befürchtung, dass diese Schwierigkeiten das gegenseitige Vertrauen beeinträchtigen und eine Kettenreaktion auslösen könnten, die die Anwendung des Europäischen Haftbefehls durch andere Mitgliedstaaten wieder in Frage stellen könnte, wie die Tatsache zeigt, dass nach der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses für nichtig zu erklären, mehrere Mitgliedstaaten mitgeteilt haben, dass sie bis zur Verabschiedung eines neuen verfassungsgemäßen Gesetzes zur Umsetzung vorübergehend wieder die vor dem Europäischen Haftbefehl geltenden Auslieferungsinstrumente anwenden müssten,
I. in der Erwägung, dass das mangelnde gegenseitige Vertrauen zwischen Richtern auf unzureichende gemeinsame Mindestnormen in Strafverfahren zurückzuführen ist, wodurch die Effizienz der justiziellen Zusammenarbeit verringert wird,
J. in der Erwägung, dass die Schaffung des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der auf gegenseitigem Vertrauen beruht, nicht ohne eine minimale Annäherung der nationalen Rechtsvorschriften denkbar ist, wie vom Parlament in seiner Empfehlung vom 22. Februar 20053 unterstrichen wurde,
K. in der Erwägung, dass die von der Kommission vorgelegte erste Bewertung (KOM (2005) 0063) sich nur auf 24 Mitgliedstaaten bezog und in Bezug auf Italien, den letzten Mitgliedstaat, der den Rahmenbeschluss 2002/584/JI umgesetzt hat, erst vor kurzem vervollständigt werden konnte (KOM (2006) 0008),
L. in der Erwägung, dass die Probleme der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung weitgehend gleicher Natur sind, wie die Aussprache während des Parlamentarischen Treffens am 17. und 18. Oktober 2005 gezeigt hat, und dass in Zukunft ein verstärkter Informationsaustausch und eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament erforderlich sind, um eine reibungslose Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI sowie weiterer Texte, die noch geprüft werden, zu gewährleisten M. in der Erwägung, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa zahlreiche Fortschritte im Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Europa beinhaltet in der Erwägung, dass zu diesen Fortschritten die Abschaffung der "Säulen" und die Vergemeinschaftung der Verfahren zählen, die die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sowie den demokratischen und transparenten Charakter der gefassten Beschlüsse stärken könnten; unter Hinweis darauf, dass dieser Teil des genannten Vertrags bei den jüngsten Ratifizierungskampagnen weder diskutiert noch abgelehnt wurde,
N. in dem Bedauern, dass die Rolle des Parlaments in Bezug auf die Annahme des Europäischen Haftbefehls und seine Bewertung sowie die Kontrolle seiner Anwendung durch den Gerichtshof durch die Tatsache begrenzt sind, dass es sich um ein Instrument der "dritten Säule" handelt, das auf den Artikeln 31 und 34 des EU-Vertrags (Titel VI) beruht O. in der Erwägung, dass die derzeit geltenden Verträge in ihrer Gesamtheit angewendet werden sollten und folglich die in Artikel 42 des EU-Vertrags vorgesehene Brückenklausel aktiviert werden sollte, die die Möglichkeit vorsieht, dass die Mitgliedstaaten beschließen, den Europäischen Haftbefehl in die "erste Säule" zu integrieren um die demokratische Kontrolle durch das Parlament und die juristische Kontrolle durch den Gerichtshof zu gewährleisten,
P. in der Erwägung, dass die Übereinkunft über die Einführung eines nordischen Haftbefehls am 15. Dezember 2005 von Dänemark, Finnland, Island, Schweden und Norwegen unterzeichnet wurde; in der Erwägung, dass der nordische Haftbefehl, obwohl er auf den Grundsätzen und der Struktur des Europäischen Haftbefehls beruht, einige Verbesserungen gegenüber dem Europäischen Haftbefehl enthält, da er ein effizienteres Übergabeverfahren vorsieht, das insbesondere erreicht wird durch die Verringerung der Zahl der fakultativen Gründe für die Nichtvollstreckung und Verfahrensfristen, die im Vergleich zu den für den Europäischen Haftbefehl vorgesehenen noch weiter verkürzt sind; in der Erwägung, dass sich die Europäische Union zweckmäßigerweise vom nordischen Haftbefehl inspirieren lassen könnte, um die Effizienz des Europäischen Haftbefehls zu erhöhen,
- 1. richtet folgende Empfehlungen an den Rat:
Umsetzung und praktische Anwendung
- a) schnellstmöglich den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union unter Berücksichtigung der vom Parlament in seinem Standpunkt vom 12. April 20054 vorgeschlagenen Änderungsanträge anzunehmen; diese Maßnahme ist nämlich von wesentlicher Bedeutung, um für die Bürger der Europäischen Union einen einheitlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, und dank der in ihr enthaltenen Garantien wird die Übergabe der Staatsangehörigen eines Staates an einen anderen erleichtert b) dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI nicht wieder eine systematische Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für ihre eigenen Staatsangehörigen einführen da dies der Effizienz des Europäischen Haftbefehls schaden und das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten schwächen würde;
- c) zu gewährleisten, dass keine Einflussnahme politischer Stellen auf das Anwendungsverfahren des Europäischen Haftbefehls möglich ist, da diese beim Auslieferungsverfahren Probleme bereitet hat; erinnert daran, dass künftig die zentrale Behörde ihre unterstützende Rolle in dem Übergabeverfahren beschuldigter oder verurteilter Personen nicht überschreiten darf;
- d) dafür Sorge zu tragen, dass die in einigen Mitgliedstaaten weiterhin bestehenden Schwierigkeiten bei der Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in zeitlicher Hinsicht behoben werden und dass sie nicht seine Anwendung durch diejenigen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, die ihn bislang ordnungsgemäß anwenden;
- e) dafür Sorge zu tragen, dass die Mitgliedstaaten unverzüglich die geeigneten Maßnahmen ergreifen, um verfassungsmäßige oder rechtliche Hindernisse für die Anwendung des Europäischen Haftbefehls auf ihre Staatsangehörigen zu beseitigen
- f) dem Parlament jährlich Bericht zu erstatten über die Maßnahmen, die er ergriffen hat um die Mitgliedstaaten dazu zu veranlassen, eine korrekte Umsetzung und effiziente Anwendung des Europäischen Haftbefehls, wie oben unter den Buchstaben b, c, d und e empfohlen, sicherzustellen;
Bewertung
- g) mit dem Parlament im Rahmen der Zuständigkeiten der beiden Haushaltsbehörden festzulegen dass die Kommission in ihrer Funktion als Hüterin der Verträge über die erforderlichen Mittel für eine gründliche Überprüfung der Qualität der Umsetzung verfügt;
- h) mit der Unterstützung der Kommission koordiniert eine objektive, unparteiische und tiefer gehende Bewertung der Schwierigkeiten vorzunehmen, die in der Praxis bei den Angehörigen der Rechtsberufe in den verschiedenen Mitgliedstaaten aufgetreten sind, und diese durch eine qualitative Bewertung mit Hilfe einer Aufschlüsselung der Europäischen Haftbefehle nach der Art der Straftat zu ergänzen
- i) eine Vielzahl von parallelen Untersuchungen zu diesem Thema zu vermeiden, selbst wenn der Rat versucht sein könnte, seine eigene Studie durchzuführen, da es sich um eine Maßnahme der "dritten Säule" handelt (Titel VI des Vertrags über die Europäische Union);
- j) das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente über die bei der Anwendung des Europäischen Haftbefehls erzielten Fortschritte regelmäßig zu unterrichten und zu konsultieren und sie im Geiste des Artikels III-260 des Vertrags über eine Verfassung für Europa in den Bewertungsprozess einzubeziehen;
Grundrechte
- k) dafür Sorge zu tragen, dass die Mitgliedstaaten durch die Umsetzung des Rahmenbeschlusses dem Richter, der einen Europäischen Haftbefehl vollstreckt, nicht auferlegen die Übereinstimmung mit den Grundrechten systematisch zu überprüfen was die Gefahr von Diskriminierungen in sich bergen würde, wo doch der Mechanismus auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht und bereits der ausstellende Mitgliedstaat diese Überprüfung vornimmt;
- l) der Achtung der Menschenrechte und der persönlichen Freiheiten bei der Anwendung des Europäischen Haftbefehls besondere Beachtung zu schenken, eine Aufgabe, bei deren Durchführung die künftige Agentur für Grundrechte um Unterstützung ersucht werden sollte;
Wirksamkeit und Demokratie
- m) so schnell wie möglich die in Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehene Brückenklausel zu aktivieren und somit den Europäischen Haftbefehl in die "erste Säule" zu integrieren, um den Maßnahmen, die im Rahmen des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ergriffen werden, einen umfassend demokratischen Charakter und eine größere Wirksamkeit zu verleihen;
- 2. beauftragt seinen Präsidenten, diese Empfehlung dem Rat und, zur Information, der Kommission sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.
1 ABl. C 284 E vom 21.11.2002, S. 193.
2 ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1.
3 ABl. C 304 E vom 1.12.2005, S. 109.
4 ABl. C 33 E vom 9.2.2006, S. 159.