958. Sitzung des Bundesrates am 2. Juni 2017
A
1. Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu dem vom Deutschen Bundestag am 18. Mai 2017 verabschiedeten Gesetz gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes die Einberufung des Vermittlungsausschusses aus folgendem Grund zu verlangen:
Zu Artikel 1 Nummer 8a (§ 62a Absatz 1 Satz 2 AufenthG)
Artikel 1 Nummer 8a ist zu streichen.
Begründung:
Artikel 1 Nummer 8a des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht sieht vor, § 62a Absatz 1 Satz 2 AufenthG dahingehend zu ändern, dass Abschiebungshaft anstatt in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden kann, wenn von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht.
Die Regelung, die im Ergebnis zu einer Unterbringung ausreisepflichtiger Gefährder in Justizvollzugsanstalten führen wird, ist zu streichen. Sie birgt erhebliche Sicherheitsrisiken, begegnet schwerwiegenden europarechtlichen Bedenken und bringt für den Justizvollzug Belastungen mit sich, die jedenfalls kurzfristig und mit den vorhandenen personellen, räumlichen und sächlichen Ressourcen nicht zu bewältigen sind.
Da eine Trennung der Gefangenen in Abschiebungshaft von Strafgefangenen weiterhin erforderlich ist, was auch die Begründung zu Artikel 1 Nummer 8a betont, wird die Gesetzesänderung in der Praxis nahezu zwangsläufig zu einer Unterbringung von ausreisepflichtigen Gefährdern in den Untersuchungshafteinrichtungen der Justizvollzugsanstalten führen.
Eine Unterbringung von Gefährdern in Untersuchungshafteinrichtungen birgt erhebliche Risiken: Der Ansatz, Gefährder zusammen mit Untersuchungshaftgefangenen unterzubringen, widerspricht der allseits geäußerten Prämisse, wonach die Gefahr einer Radikalisierung von (hier: Untersuchungshaft-)Gefangenen im Vollzug tunlichst vermieden werden sollte. In den meisten Untersuchungshafteinrichtungen fehlt es an ausreichenden Räumlichkeiten zur Binnendifferenzierung. Geschultes Personal, das auf eine solche Situation vorbereitet wäre, ist nicht vorhanden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, nach welchem Rechtsregime die Gefährder betreut werden sollen. Die Untersuchungshaftgesetze finden auf diesen Personenkreis mangels Existenz eines Untersuchungshaftbefehls jedenfalls keine Anwendung.
Des Weiteren begegnet die Regelung schwerwiegenden europarechtlichen Bedenken.
Artikel 16 der Richtlinie 2008/115/EG legt fest, dass die Inhaftierung von Abschiebungsgefangenen grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der vorhergehende Satz eng auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - C-473/13 und C-514/13 -, juris). Dies spricht für eine Erstreckung des Begriffs der Strafgefangenen auf Untersuchungshaftgefangene. Dem Sinn der Richtlinie nach dürfte es darum gehen, ausreisepflichtige Personen nicht dem Regime des Justizvollzuges unterfallen zu lassen - entsprechend sind die Abschiebeeinrichtungen bisher ausgestaltet worden.
B
2. Der federführende Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Ausschuss für Frauen und Jugend empfehlen dem Bundesrat, zu dem vom Deutschen Bundestag am 18. Mai 2017 verabschiedeten Gesetz einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen.