861. Sitzung des Bundesrates am 18. September 2009
A.
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 7. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission einer Weiterentwicklung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Zivilrecht und im Strafrecht wesentliche Bedeutung beimisst. Er begrüßt, dass dabei auch die Wahrung der nationalen Rechtstraditionen betont wird.
- 8. Bedenken hat der Bundesrat jedoch hinsichtlich der in diesem Zusammenhang geforderten Abschaffung des Exequaturverfahrens im Zivilrecht. Er bekräftigt insoweit die in seiner Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission zur Überprüfung der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vertretene Auffassung - vgl. Stellungnahme vom 10. Juli 2009, BR-Drucksache 440/09(B) -. Über die von der Kommission erwähnte vorherige Harmonisierung der Kollisionsnormen hinaus muss das Exequaturverfahren für Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aus Gründen des Schuldnerschutzes jedenfalls so lange beibehalten werden, wie alternative zuverlässige Rechtsschutzmöglichkeiten für den Schuldner nicht konkret zur Verfügung stehen. Denkbar wäre eine Abschaffung derzeit nur - wie bei der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (EuVTVO, ABl. L 143 vom 30. April 2004, Seite 15) - für Geldforderungen und nur für den Fall, dass diese nicht von einer Gegenleistung abhängig sind. Bei sonstigen Titeln kann das Problem bestehen, dass sie nach nationalem Verständnis nicht hinreichend bestimmt und damit nicht zur Vollstreckung geeignet sind. Darüber hinaus muss die Vollstreckbarerklärung untragbarer Entscheidungen (ordre public-Verstoß) weiterhin versagt werden können.
Der Bundesrat gibt weiter zu bedenken, dass der mit der Durchführung des Exequaturverfahrens verbundene Kosten- und Zeitaufwand für den Gläubiger nicht unverhältnismäßig erscheint, zumal für den Fall der Abschaffung des Exequaturverfahrens - auch nach Auffassung der Kommission - auf der anderen Seite Garantien zum Schutz des Schuldners installiert und jedenfalls die Gewährung rechtlichen Gehörs für den Beklagten bzw. Schuldner sichergestellt werden müssten.
- 9. Der Bundesrat steht einer Ausweitung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung auf die Bereiche des Erb- und Testamentsrechts, des Ehegüterrechts und die vermögensrechtlichen Folgen einer Trennung grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, soweit sich dies vor allem auf die Einführung einheitlicher Kollisionsnormen und Regelungen zur gerichtlichen Zuständigkeit sowie die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen beschränkt. Im Bereich des Erbrechts kommt auch ein europäischer Erbschein für grenzüberschreitende Sachverhalte in Betracht. Eine Vereinheitlichung des materiellen Rechts darf damit aber schon aus kompetenzrechtlichen Gründen nicht einhergehen.
- 10. Auch die Einführung von Mindestnormen zu bestimmten Aspekten des Zivilverfahrens, die mit dem Erfordernis der Schaffung gegenseitigen Vertrauens vor einer gegenseitigen Anerkennung zusammenhängen, wird vom Bundesrat grundsätzlich unterstützt. Es muss dabei jedoch gewährleistet sein, dass die grundlegenden Prinzipien der mitgliedstaatlichen Prozessordnungen unangetastet bleiben. Dies gilt auch für die Einführung verfahrensrechtlicher Mindestnormen im Bereich von Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen.
- 11. Der Bundesrat hat gegen die Erwägungen, die Legalisation öffentlicher Urkunden im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten vollständig aufzuheben und gegebenenfalls eine europäische öffentliche Urkunde einzuführen, nur unter den folgenden Voraussetzungen keine Bedenken:
Zunächst müssten die inhaltlichen Fragen, insbesondere die Frage des anwendbaren Rechts, geklärt werden, da über die Wirksamkeit und rechtliche Bedeutung des Urkundsinhalts auch künftig allein die differenzierten Regelungen des Internationalen Privatrechts entscheiden dürfen. Die öffentlichen Urkunden der Mitgliedstaaten müssen über eine gesicherte, dem derzeitigen Niveau deutscher öffentlicher Urkunden vergleichbare, hohe Qualität verfügen. Zudem muss eine Kompetenz der EU für eine umfassende Regelung zur Legalisation bzw. zu Apostillen gegeben sein, zumal es öffentliche Urkunden verschiedenster Art gibt. Bei Urkunden, für die inhaltlich keine Kompetenz besteht, dürften sich auch Regelungen über die Abschaffung von Legalisation und Apostille als problematisch darstellen. Weiter muss die Einführung einer europäischen öffentlichen Urkunde auch aus dem Blickwinkel des Bürgers von Vorteil sein. Insbesondere ist es aus Gründen der Rechtssicherheit wichtig, dass für den Anwender leicht erkennbar ist, ob es sich bei dem Schriftstück um eine öffentliche Urkunde handelt, die ohne weitere Formalitäten EU-weit Verwendung finden kann. Nicht zuletzt muss auch der Harmonisierungsaufwand für eine europäische öffentliche Urkunde verhältnismäßig sein. Öffentliche Urkunden werden zwar immer häufiger grenzüberschreitend benötigt, im Hinblick auf die sehr hohe Zahl an öffentlichen Urkunden sind die grenzüberschreitenden Fälle jedoch nach wie vor die Minderheit.
- 12. Zu dem unter Nummer 2.1 (Uneingeschränkte Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit) angesprochenen Bereich des Personenstandswesens weist der Bundesrat auf Folgendes hin:
- 13. Für die beabsichtigte Einführung eines Verfahrens zur Beschaffung von Personenstandsurkunden ist eine sachliche Notwendigkeit nicht zu erkennen. Außerdem ist unklar, was konkret mit dem Beschaffungs"verfahren" gemeint ist. Soweit es darum geht, auch im EU-Ausland lebenden Bürgern und Bürgerinnen "ohne großen Aufwand und zusätzliche Kosten" die Beschaffung der "wichtigsten Personenstandsurkunden" zu ermöglichen, kann ggf. eine Änderung der nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten und nicht die Einführung eines neuen EU-weiten Verfahrens angezeigt sein. Anderenfalls würden durch ein - evtl. elektronisches - Verfahren u. U. erhebliche zusätzliche Aufwände geschaffen, die Zielsetzung aber wegen unterschiedlicher Rechtsregeln unerreicht bleiben. Außerdem muss die Gefahr einer Inländerdiskriminierung in Bezug auf die Kosten oder die sonstigen Anforderungen an die Urkundenbeschaffung möglichst ausgeschlossen werden.
- 14. Die "Gewährleistung der Beweiskraft der Urkunden" hängt ebenfalls nicht von einem etwaigen EU-weiten Verfahren, sondern zunächst von der Sicherheit und Verlässlichkeit der in der EU bestehenden Personenstandswesen ab.
- 15. Der langfristig angedachte ausführliche Gedankenaustausch über die gegenseitige Anerkennung der Wirkungen von Personenstandsurkunden wird vom Bundesrat mit der Maßgabe begrüßt, dass eine solche Anerkennung jedenfalls zunächst einheitliche Vorschriften zum anwendbaren Recht voraussetzen würde. Darüber hinaus muss auch der Umgang mit den der Urkunde zugrunde liegenden inhaltlichen Fragen, wie z.B. der Ehemündigkeit, erörtert werden.
- 16. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich das Anliegen, den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr rechtlich zu vereinheitlichen und damit einfacher und transparenter auszugestalten, um es den Wirtschaftsteilnehmern so zu erleichtern, das Potenzial des Binnenmarktes besser auszuschöpfen. Wie bereits in der Vergangenheit wiederholt ausgeführt, legt der Bundesrat aber zugleich Wert auf die Feststellung, dass für das Zivil- und Vertragsrecht primär die Mitgliedstaaten selbst verantwortlich sind und ihnen auch in Zukunft die Möglichkeit verbleiben muss, ihre Zivilrechtsordnungen selbst zu gestalten - vgl. zuletzt Stellungnahme des Bundesrates vom 6. März 2009, BR-Drucksache 765/08(B) ; dort Ziffern 6, 7, 9 und 13 bis 15 -.
- 17. Eher kritisch beurteilt der Bundesrat insbesondere die geplante Bereitstellung von Musterverträgen. Dabei wäre jedenfalls darauf zu achten, dass diesen allenfalls optionaler Charakter zukommt und deren Ausgestaltung lediglich im Sinne einer "tool box" erfolgen sollte. Grenzen wären solchen Musterverträgen im Übrigen vor allem durch die zwingenden Vorschriften der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen gesetzt, wie insbesondere im Bereich des zwingenden Schuldrechts und des Sachenrechts. Ob die in solchen Musterverträgen enthaltenen Regelungen daher auch vollumfänglich den Inhaltskontrollen in allen Mitgliedstaaten standhalten würden, dürfte sich kaum mit hinreichender Sicherheit feststellen lassen. Für die Verwender dieser Musterverträge bliebe daher stets ein erhebliches Risiko. Fraglich ist auch, ob solche Musterverträge tatsächlich zu spürbaren Erleichterungen führen würden, da in den meisten Fällen Anpassungen an den individuellen Sachverhalt und damit doch wieder eine entsprechende Rechtsberatung notwendig sein dürften.
- 18. Kritisch sieht der Bundesrat auch die angesprochene fakultative, rein europäische Regelung für Unternehmen. Diese geht erheblich über das Projekt eines Gemeinsamen Referenzrahmens für ein Europäisches Vertragsrecht hinaus, das sich lediglich als "tool box" für den Gesetzgeber und gerade nicht als rechtlich verbindliches zusätzliches Vertragsregime versteht. Bevor überhaupt ein solches europäisches Vertragsrecht in Angriff genommen wird, sollten zunächst die Entwicklungen aus dem Prozess um einem Referenzrahmen abgewartet und die dort gewonnen Erkenntnisse sorgfältig evaluiert werden. Zudem erschließt sich schon nicht, welche Rechtsbereiche bzw. Vertragstypen diese fakultative europäische Regelung erfassen soll und ob auch eine Einbeziehung von Verträgen zwischen Unternehmen und Verbrauchern beabsichtigt ist. Im grenzüberschreitenden Verkehr dürfte ein solches fakultatives "28. Regime" zwar einige Vorteile bieten. Gerade bei einer Anwendbarkeit auch auf rein innerstaatliche Verträge wäre jedoch u. a. problematisch, dass die schwächeren Vertragspartner (insbesondere kleinere Unternehmen oder Verbraucher) dem faktischen Zwang ausgesetzt sein könnten, sich neben dem nationalen Recht mit einem weiteren, ihnen unbekannten Vertragsrecht auseinandersetzen zu müssen. Jedenfalls dürfte ein solches optionales Instrument nur bei einer ausdrücklichen Wahl der Vertragspartner zur Anwendung kommen. Eine Optout-Lösung ist nach Auffassung des Bundesrates insoweit abzulehnen.
- 19. Der Bundesrat sieht eine "Regelung des Gesellschaftsrechts" auf europäischer Ebene ebenfalls eher kritisch. Dies gilt vor allem, soweit das materielle Gesellschaftsrecht und nationale Schutz- und Kontrollmechanismen betroffen sind. Wie auch einzelne Vorschläge zur Europäischen Privatgesellschaft zeigen, können sich hier deutliche Verschlechterungen gegenüber dem deutschen Schutzniveau ergeben. Diese Auswirkungen wären auch bei der von der Kommission geforderten Festlegung gemeinsamer Kollisionsnormen im Bereich des Gesellschaftsrechts zu berücksichtigen.
- 20. Der Bundesrat begrüßt hingegen die geforderte Stärkung der Rechtsstellung der Gläubiger durch schnelle Verfahren und effiziente Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen. Beides dürfte allerdings in Deutschland vorbildlich sein. So hat die Kommission mit dem Grünbuch "Transparenz des Schuldnervermögens" vom 6. März 2008 Anregungen zum Vollstreckungsrecht aufgegriffen, die in Deutschland durch die Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung bereits Gesetz geworden sind.
- 21. Entsprechendes gilt nach Ansicht des Bundesrates für das Ziel eines ungehinderten Zugangs zur Justiz. Auch dieses ist uneingeschränkt zu unterstützen. Für in Deutschland ansässige EU-Bürger und -Bürgerinnen sind allerdings auch insoweit Defizite nicht erkennbar: Die Verfahren vor deutschen Zivilgerichten werden in angemessener Zeit abgeschlossen; auch die Verfügbarkeit von Prozesskostenhilfe sowie die grenzüberschreitende Rechtsverfolgung lassen keine strukturellen Mängel erkennen. In Deutschland besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten zur alternativen Streitbeilegung. Zudem fördert das Verfahrensrecht diese auch in laufenden Verfahren. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass sich für deutsche Bürger und Bürgerinnen künftig insofern Vorteile ergeben können, wenn die Regelungen anderer Mitgliedstaaten dem auf nationaler Ebene bereits erreichten Niveau angepasst werden. Daher sollten Maßnahmen zur Förderung eines ungehinderten Zugangs zur Justiz sich darauf konzentrieren, Schwierigkeiten in grenzüberschreitenden Verfahren zu beseitigen.
- 22. Soweit die Kommission in diesem Zusammenhang den Aufbau eines europäischen Justizportals und die Vernetzung einer Reihe von nationalen Registern anspricht, sieht der Bundesrat darin notwendige Maßnahmen für den elektronischen Informationsaustausch und den Zugang zu justizbezogenen Informationen. Sie sind ein Schritt in die richtige Richtung. Auch das Ziel, den Zugang zu gerichtlichen Verfahren möglichst online zu ermöglichen, verdient Unterstützung und steht insoweit in Einklang mit nationalen Vorhaben zum Ausbau von eJustice und eGovernment.
- 23. Festzustellen ist insofern allerdings, dass wesentliche einheitliche Strukturvoraussetzungen für eine verbindliche grenzüberschreitende elektronische Kommunikation in gerichtlichen Verfahren noch nicht geschaffen sind. Dabei sind allen voran die Verständigung auf ein einheitliches Kommunikationsverfahren sowie die grenzüberschreitende Implementierung kompatibler digitaler Signaturen zu nennen. Die Überlegungen der Kommission zum Aufbau eines interoperablen elektronischen Identitätsmanagements (D.I.M.- Distributed Identity Management) sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus ist zur Zeit weder geklärt noch überhaupt thematisiert, ob der im Bereich der deutschen Justiz verwendete OSCI-Standard, mit dem z.B. in allen deutschen Ländern seit 1. Januar 2007 der elektronische Rechtsverkehr mit den Registergerichten sicher und vertraulich abgewickelt wird, als europäischer Standard in Betracht kommt. Im Bereich der qualifizierten digitalen Signatur muss zunächst der Aktionsplan zur Behebung der im Rahmen der sogenannten "Signaturrichtlinie" aufgetretenen Probleme zeitnah und konsequent unter Mitwirkung der Wirtschaft (z.B. Trustcenter) umgesetzt werden.
- 24. Im Rahmen einer Erleichterung des Zugangs zur Justiz begrüßt der Bundesrat auch die beabsichtigte Vernetzung der Dolmetscher-Übersetzer-Datenbanken. Ob die Erbringung von Dolmetschleistungen per Videokonferenz im Bereich der Justiz sinnvoll ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab.
- 25. Der Einsatz von Videoanlagen in Verfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen ist geeignet, zu deren Vereinfachung und Beschleunigung beizutragen. Ein koordinierter Einsatz kann jedoch insoweit an Grenzen stoßen, als die Verwendung in gerichtlichen Verfahren auf der Seite des ersuchenden Gerichts vor allem der richterlichen Entscheidung unterliegt.
- 26. Im Bereich des Strafrechts weist der Bundesrat darauf hin, dass die Ausführungen im Stockholmer Programm zur Fortführung der Angleichung materiellen Strafrechts jedenfalls nicht über die Regelungen im Vertrag von Lissabon hinausgehen dürfen. Soweit von der Kommission insofern gefordert wird, dass in Bezug auf bestimmte schwere, typischerweise grenzüberschreitende Straftaten gemeinsame Straftatbestände und Strafen festgelegt werden müssten, geht dies über die Regelung in Artikel 83 Absatz 1 AEUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon hinaus. Danach können Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festgelegt werden, die eine grenzüberschreitende Dimension haben.
Eine besondere Notwendigkeit, wie sie Artikel 83 Absatz 1 AEUV voraussetzt, liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die Organe der EU einen entsprechenden politischen Willen gebildet haben. Die allgemeine Ermächtigung zur Festlegung von Straftaten und Strafen ist vielmehr begrenzend auszulegen. Der Katalog des Artikels 83 Absatz 1 Unterabsatz 2 AEUV macht deutlich, dass es sich um typischerweise grenzüberschreitende schwere Kriminalitätsbereiche handelt, für die Mindestvorschriften festgelegt werden dürfen. Diese müssen den Mitgliedstaaten substantielle Ausgestaltungsspielräume belassen. Die demokratische Selbstbestimmung ist in einer besonders empfindlichen Weise berührt, wenn die nationale Rechtsgemeinschaft gehindert wird, über die Strafbarkeit von Verhaltensweisen und gar die Verhängung von Freiheitsstrafen nach Maßgabe eigener Wertvorstellungen zu entscheiden. Das gilt umso mehr, je enger diese Wertvorstellungen mit historischen Erfahrungen, Glaubenstraditionen und anderen für das Selbstgefühl der Menschen und ihrer Gemeinschaft wesentlichen Faktoren verknüpft sind.
- 27. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission hinsichtlich der Festlegung gemeinsamer Straftatbestände und Sanktionen in anderen Bereichen der EU-Politik auf die vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Voraussetzungen verweist. Von diesen geht auch Artikel 83 Absatz 2 AEUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon aus. Danach können Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen in harmonisierten Politikbereichen nur festgelegt werden, wenn sich dies für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, als unerlässlich erweist. Dies setzt voraus, dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann.
- 28. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Ausführungen zu strafrechtlichen Sanktionen für Betrugshandlungen, die das Finanzsystem und die Wirtschaft in der EU gefährden können, zu weit gefasst sind und insbesondere nicht erkennen lassen, an welche Bereiche und Sanktionen hier genau gedacht wird. Ob insoweit tatsächlich ein Bedarf für ergänzende Sanktionen besteht, ist im Übrigen noch nicht belegt.
- 29. Jedenfalls sieht der Bundesrat keinen Bedarf für die Einführung strafrechtlicher Sanktionen für juristische Personen. Das bestehende Instrumentarium des deutschen Rechts reicht nach Auffassung des Bundesrates aus. So kann im Ordnungswidrigkeitenrecht nach §§ 30, 130 OWiG eine Geldbuße gegen ein Unternehmen verhängt werden, ohne dass ein namentlich bekannter Individualtäter ermittelt werden muss.
Eine Strafbarkeit von juristischen Personen wirft erhebliche Bedenken hinsichtlich des Schuldprinzips auf. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Schuldfähigkeit von Personenverbänden als auch hinsichtlich der Betroffenheit von bloßen Anteilseignern, die keinen Einfluss auf die Geschäftsführung des Unternehmens haben. Unklar bleibt im Übrigen auch, worin der Nutzen eines europäischen Netzes der Vermögensabschöpfungsstellen bestehen soll.
- 30. Der Bundesrat kann die Ausführungen der Kommission zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen jedenfalls in der in der Mitteilung enthaltenen Allgemeinheit nicht unterstützen. Ein Rahmenbeschluss des Rates über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bei Geldstrafen und Geldbußen (Rahmenbeschluss 2005/214/JI vom 24. Februar 2005, ABl. L 76 vom 22. März 2005, Seite 16) existiert bereits. Aus der Mitteilung wird nicht hinreichend deutlich, auf welche konkreten anderen Arten von Entscheidungen und Verfahrensabschnitte der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ausgedehnt werden soll. Vor der Vorlage neuer Rechtsinstrumente bedarf es jedenfalls einer genauen und konkreten Prüfung, ob wirklich Bedarf für diese besteht. Zunächst sollten die bereits verabschiedeten Rechtsinstrumente in das nationale Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt werden.
- 31. Nach Ansicht des Bundesrates werfen die Ausführungen zu einer neuen Europäischen Beweisanordnung diverse Fragestellungen auf. So ist kaum denkbar, dass eine solche Beweisanordnung in Europa automatisch anerkannt wird. Nationalstaatliche Regelungen im strafprozessualen Beweisrecht weichen erheblich voneinander ab (beispielsweise im Bereich der Beweiserhebungsverbote, Zeugnisverweigerungsrechte etc.), zumal viele dieser Regelungen aus der jeweiligen Verfassung der Mitgliedstaaten hergeleitet werden. Jedenfalls insofern muss den Mitgliedstaaten eine Überprüfung möglich bleiben. Unklar bleibt an dem Vorschlag, wie eine europäische Regelung für die Zulassung elektronischer Belege ausgestaltet werden soll, die in den meisten Mitgliedstaaten auch bei rein innerstaatlichen Vorgängen derzeit nicht als Beweis zugelassen sein dürften. Vor Ankündigung einer neuen, umfassenderen Europäischen Beweisanordnung sollte der Bedarf eines solchen neuen Rechtsinstruments im Hinblick auf den aktuellen Rahmenbeschluss zur Europäischen Beweisanordnung (Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. L 350 vom 30. Dezember 2008, Seite 72), der erst bis Januar 2011 umzusetzen ist, gründlich geprüft und geklärt werden, ob es einen Mehrwert gegenüber den traditionellen Instrumenten der Rechtshilfe bringen würde.
- 32. Soweit von der Kommission eine Stärkung der Verteidigungsrechte gefordert wird, sind die Ausführungen in der Mitteilung nach Ansicht des Bundesrates nicht hinreichend konkret. Insbesondere lassen sie nicht erkennen, ob damit mehr als die ebenfalls angesprochenen Mindestgarantien gemeint sind.
Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich das Anliegen, durch die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards für bestimmte Verfahrensrechte im Strafverfahren innerhalb der EU das Vertrauen in die Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten zu stärken und die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen zu fördern. Für über die Europäische Menschenrechtskommission (EMRK) hinausgehende Regelungen, wie insbesondere die angeführte Einbeziehung der Regeln für die Untersuchungshaft, besteht aus Sicht des Bundesrates kein Bedürfnis.
- 33. Hinsichtlich des auf der anderen Seite geforderten verbesserten Opferschutzes bleibt nach Ansicht des Bundesrates unklar, ob und inwieweit diese Verbesserungen über die geplanten Rahmenbeschlüsse zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie von Menschenhandel hinausgehen sollen.
Die Stärkung der Rechte der Opfer ist zu begrüßen. Allerdings ist dies kein absolutes Ziel. Es wird begrenzt unter anderem durch die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen einem Tatverdächtigen zustehenden Rechte und durch den staatlichen Anspruch an der Verfolgung und Aufklärung von auch von einem Opfer begangenen Straftaten. Mithin darf nicht allein die behauptete Opfereigenschaft zwangsläufig zu einem Freibrief für begangene Straftaten führen. Die privilegierungswürdige Opfereigenschaft ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls durch das Tatgericht festzustellen, das im Weiteren darüber zu entscheiden hat, ob die Opfereigenschaft eine Strafbefreiung oder etwa nur eine Strafmilderung rechtfertigt.
- 34. Soweit darüber hinaus allgemein die systematische Einbeziehung der in der Grundrechtecharta und in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte des Kindes in die politischen Überlegungen gefordert wird, bewertet der Bundesrat dies grundsätzlich positiv.
- 35. Für zu weitgehend hält der Bundesrat aus strafrechtlicher Sicht die Forderung, dass Migranten, die Opfer illegaler Beschäftigung werden, zu schützen sind. Soweit sie nicht Opfer von Menschenhandel oder ähnlichem sind, sind sie in der Regel Täter und kaum schutzwürdig.
- 36. Der Bundesrat sieht auch für die geforderte Übertragung weiterer Befugnisse auf Eurojust derzeit keinen Bedarf. Die Nationalen Mitglieder von Eurojust haben durch den neuen Rahmenbeschluss, der zunächst in nationales Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen ist, soeben erweiterte Kompetenzen erhalten. Eurojust ist von seiner Konzeption und personellen Ausstattung her eine Koordinierungs- und keine Ermittlungsbehörde.
- 37. Was den Strafvollzug anbelangt, vermag der Bundesrat nicht zu beurteilen, ob in anderen Mitgliedstaaten "Haftanstalten zu oft Brutstätten der Kriminalität und Radikalisierung" sind. Die tatsächliche Situation im deutschen Justizvollzug begründet diese Befürchtung jedenfalls nicht. Gleichwohl bestehen gegen die beabsichtigte Bewertung der Wirksamkeit von einzelstaatlichen Maßnahmen keine Bedenken.
- 38. Der Bundesrat unterstützt das Vorhaben, die europäische Gesetzgebung zu verbessern. Der Ansatz, die Union müsse dort gezielt tätig werden, wo ihr Handeln geeignet sei, die Probleme der Bürger und Bürgerinnen zu lösen, ist jedoch nur nach Maßgabe des Subsidiaritätsgrundsatzes unterstützenswert. Soweit die Justiz allgemein betroffen ist, begrüßt der Bundesrat grundsätzlich, dass die Bedeutung der umfassenden Evaluierung der Effizienz der Rechtsinstrumente und Gemeinschaftspolitiken betont wird. Die Evaluierung kann helfen, Schwächen europäischer Rechtsetzung aufzudecken und eine einheitliche Behandlung gleichgelagerter Sachverhalte in den europäischen Staaten, soweit nach den nationalen Gegebenheiten möglich, zu fördern. Allerdings sollte hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass fortlaufende Evaluierungen Arbeitskräfte binden und Abläufe verlangsamen, somit die Effizienz der Rechtsinstrumente schwächen. Der Bundesrat hält die Erhebung von Daten daher nur dann für sinnvoll, wenn diese in angemessener Zeit und mit angemessenem Aufwand ausgewertet und die hieraus gewonnenen Lehren umgesetzt werden können. Im Hinblick auf den erheblichen Evaluierungsaufwand sollte sich die Evaluierung jedenfalls zunächst auf die Feststellung von Hindernissen für die gegenseitige Anerkennung von Rechtsakten in Rechtsbereichen beschränken, die nicht allein in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen. Unnötiger Bürokratismus ist in jedem Fall zu vermeiden. Entsprechendes gilt für Doppelarbeit insbesondere zu den Evaluierungen des Europarates.
- 39. Entsprechendes gilt auch, soweit postuliert wird, dass der EU Statistikwerkzeuge zur Messung krimineller Aktivitäten zur Verfügung gestellt werden müssten. Auch hier ist sicherzustellen, dass die Erhebung von Statistiken nicht bloßer Selbstzweck ist, sondern den Rechtsanwendern in der Auswertung einen tatsächlichen Mehrwert bringt.
- 40. Das Bedürfnis für eine unionsweite Kriminalstatistik (Nummer 4.2.1 der Mitteilung) ist aus der Sicht des Bundesrates grundsätzlich nachvollziehbar und wird von ihm anerkannt.
- 41. Allerdings bedarf es umfassender und weit reichender Vorarbeiten, insbesondere der Harmonisierung des Strafrechts in der EU sowie der Festlegung einheitlicher Erfassungs- und Auswertemodalitäten, um eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Die Voraussetzungen hierzu sind derzeit nicht gegeben. (bei Annahme entfällt Ziffer 42)
- 42. Allerdings bedürfte es hierzu umfassender und weit reichender Vorarbeiten, insbesondere der Harmonisierung des Strafrechts in der EU sowie der Festlegung einheitlicher Erfassungs- und Auswertemodalitäten, um eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Die Voraussetzungen hierzu sind derzeit nicht gegeben.
- 43. Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich auch die Forderung, dass die Anwendung der Rechtsvorschriften in der Praxis besser begleitet werden muss. Zumindest für den Bereich des Strafrechts ist allerdings die Forderung nach "besserer" Begleitung ebenso wenig nachvollziehbar wie die Formulierung, das "europäische Recht" müsse von den Rechtsanwendern besser und effizienter angewandt werden. Die Rechtsanwender befassen sich im Strafrecht in der Regel nicht mit dem europäischen Recht, vielmehr mit dessen nationalstaatlicher Ausgestaltung, die in den jeweiligen Staaten wie die Anwendung allen Rechts begleitet wird. Anhaltspunkte dafür, dass hier über Schwierigkeiten im Einzelfall hinausgehende Mängel bestehen würden, gibt es nicht. Eurojust und das Europäische Justizielle Netz (EJN) werden herangezogen, technische Hilfsmittel werden fortlaufend optimiert.
- 44. Grundsätzlich begrüßt der Bundesrat auch die geforderte Verbesserung der Zusammenarbeit und des Austauschs zwischen Justizbediensteten der Mitgliedstaaten sowie die Maßgabe, dass die EU die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung von Programmen zur Zusammenarbeit und zum Austausch finanziell zu unterstützen hat. Programme zur Zusammenarbeit und zum Austausch dürfen jedoch nicht dazu führen, dass Rechtsberufe auf europäischer Ebene geregelt werden.
B.