A. Problem und Ziel
Die Hauptverhandlung im Strafprozess ist vom Grundsatz der Mündlichkeit geprägt. Dieser Grundsatz macht es erforderlich, dass die Richterinnen und Richter unter dem lebendigen Eindruck der Hauptverhandlung entscheiden. Deswegen sind Hauptverhandlungen konzentriert durchzuführen. § 229 Absatz 1 und 2 StPO legt Höchstfristen für die Unterbrechung einer Hauptverhandlung fest.
Bei langandauernden Hauptverhandlungen, die aufgrund des Umfangs des Beweisstoffes auf Monate oder Jahre angelegt sind, verliert der Konzentrationsgrundsatz an Bedeutung. Er gerät in ein zunehmendes Spannungsverhältnis mit dem Beschleunigungsgrundsatz. Es widerspricht sowohl dem Gedanken der Beschleunigung als auch der Prozessökonomie, eine langandauernde Hauptverhandlung von Neuem zu beginnen und die Beweisaufnahme zu wiederholen. Zur Auflösung des Spannungsverhältnisses sieht § 229 Absatz 3 StPO vor, dass bei Verhandlungen, die an mindestens zehn Tagen stattgefunden haben, der Lauf der zulässigen Unterbrechungsfrist während der Erkrankung des Angeklagten oder einer zur Urteilsfindung berufenen Person für längstens sechs Wochen gehemmt ist. Diese Regelung verhindert, dass in Fällen kurzfristiger Erkrankung die Hauptverhandlung wiederholt werden muss und das Verfahren damit verzögert wird. Kann der Angeklagte oder eine zur Urteilsfindung berufene Person aus Gründen höherer Gewalt, die keine Erkrankung darstellen, nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen, muss die Hauptverhandlung von Neuem beginnen. Fälle höherer Gewalt stellen zwar die Ausnahme dar. Die tagelangen Flugausfälle aufgrund der Vulkanaschewolke, der Besetzung des internationalen Flughafens in Bangkok im November 2008, der mehrtägigen Sperrung des US-Luftraums nach den Anschlägen vom 11. September 2001 oder das Einstellen der Fährverbindung zur Insel Hiddensee aufgrund des strengen Winters haben in der Vergangenheit plastisch gezeigt, dass ein praktisches Bedürfnis dafür besteht, höhere Gewalt als Grund für eine Hemmung der Unterbrechungsfrist anzuerkennen. Verschiedene Großverfahren mussten wiederholt werden beziehungsweise gerieten in die Gefahr einer Wiederholung. Ziel des Gesetzentwurfs ist es, durch die Erweiterung der Hemmungsregelung des § 229 Absatz 3 StPO um die Fälle der höheren Gewalt den Grundsatz der Beschleunigung zu stärken sowie belastende und kostenträchtige Wiederholungen der Hauptverhandlung zu verhindern.
B. Lösung
Der Gesetzentwurf lässt die Grundstruktur der Unterbrechung einer Hauptverhandlung unverändert. Die Regelung des § 229 Absatz 3 StPO wird lediglich um die Alternative ergänzt, dass der Angeklagte oder eine an der Urteilsfindung beteiligte Person aus Gründen höherer Gewalt nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen kann.
C. Alternativen
Beibehaltung des gegenwärtigen Rechtszustandes, der jedoch aus den zu A. genannten Gründen unbefriedigend ist.
D. Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte
Durch die Vermeidung einer vollständigen Wiederholung einer Hauptverhandlung in Einzelfällen können die Justiz und der Justizhaushalt geringfügig entlastet werden.
E. Sonstige Kosten
Keine
F. Bürokratiekosten
Keine
Gesetzentwurf des Bundesrates
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung - Hemmung der Unterbrechungsfrist bei Hauptverhandlungen
Der Bundesrat hat in seiner 877. Sitzung am 26. November 2010 beschlossen, den beigefügten Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 1 des Grundgesetzes beim Deutschen Bundestag einzubringen.
Anlage
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung - Hemmung der Unterbrechungsfrist bei Hauptverhandlungen
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
In § 229 Absatz 3 Satz 1 der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch ... geändert worden ist, werden nach dem Wort "Krankheit" die Wörter "oder aus Gründen höherer Gewalt" eingefügt.
Artikel 2
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Begründung:
A. Allgemeiner Teil
Im Strafprozess ist mündlich zu verhandeln. Dies macht es erforderlich, dass die Richterinnen und Richter unter dem lebendigen Eindruck der Hauptverhandlung entscheiden. Deswegen sind Hauptverhandlungen konzentriert durchzuführen. Der Konzentrationsgrundsatz verlangt wie der Grundsatz der Beschleunigung gemäß Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 und Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK eine zügige Verhandlung ohne längere Unterbrechungen. Dementsprechend sind in § 229 Absatz 1 und 2 StPO Höchstfristen für die Unterbrechung einer Hauptverhandlung festgelegt. Werden sie überschritten, muss die Hauptverhandlung von Neuem beginnen. Die Beweisaufnahme muss wiederholt werden. Bei langandauernden Hauptverhandlungen, die aufgrund des Umfangs des Beweisstoffes auf Monate oder Jahre angelegt sind, verliert der Konzentrationsgrundsatz an Bedeutung. Es ist anerkannt, dass in diesen Verfahren, die unvermeidbar sind, zur Verringerung der mit der Prozessdauer ansteigenden physischen und psychischen Belastung längere Pausen für alle Beteiligten erforderlich sind. Es widerspricht sowohl dem Gedanken der Beschleunigung als auch der Prozessökonomie, eine langandauernde Hauptverhandlung zu wiederholen. Zur Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Konzentrations- und dem Beschleunigungsgrundsatz sieht § 229 Absatz 3 StPO vor, dass bei Verhandlungen, die an mindestens zehn Tagen stattgefunden haben, der Lauf der zulässigen Unterbrechungsfrist während der Erkrankung des Angeklagten oder einer zur Urteilsfindung berufenen Person für längstens sechs Wochen gehemmt ist. Diese Regelung verhindert, dass in Fällen kurzfristiger Erkrankungen eine verfahrensverzögernde, für alle Beteiligten belastende und kostenträchtige Wiederholung der bereits länger andauernden Hauptverhandlung erfolgen muss. Eine weitere für das Opfer belastende Aussage kann vermieden werden. Die Regelung trägt schließlich dazu bei, dass die von § 192 Absatz 2 und 3 GVG vorgesehene Möglichkeit der Bestellung von Ergänzungsrichtern und -schöffen auf die vom Gesetz vorgesehenen Ausnahmefälle beschränkt bleibt (vgl. Begründung zum Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes, BT-Drs. 015/1508, S. 25).
Nach der derzeitigen Gesetzeslage wird die Unterbrechungsfrist des § 229 Absatz 1 und 2 StPO dagegen nicht gehemmt, wenn der Angeklagte oder eine zur Urteilsfindung berufene Person aus Gründen höherer Gewalt, die keine Erkrankung darstellen, nicht an der Verhandlung teilnehmen kann. Fälle höherer Gewalt stellen zwar die Ausnahme dar. Sie sind in der Vergangenheit jedoch immer wieder aufgetreten und führten dazu, dass Verhandlungen wiederholt werden mussten. Ein Einverständnis des Angeklagten und der Verteidigung, die im Interesse der Beschleunigung und zur Vermeidung weiterer Anwaltskosten ein Interesse an der zügigen Beendigung des Verfahrens haben, genügt zur Fortsetzung der Verhandlung nicht. Eine Wiederholung der Hauptverhandlung und die damit einhergehende Verzögerung des Abschlusses des Verfahrens gilt es insbesondere dann zu verhindern, wenn es sich um eine Haftsache handelt. Diese Verfahren sind gemäß Artikel 2 Absatz 2 GG, § 120 Absatz 1 Satz 1, § 121 StPO besonders zu fördern. Zwar darf der Vollzug der Untersuchungshaft gemäß § 121 Absatz 1 StPO über sechs Monate hinaus auch dann aufrecht erhalten werden, wenn ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zulässt. Es ist anerkannt, dass unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter einen solchen Grund darstellen, vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.
>. Es zeigt sich jedoch, dass in den Fällen der höheren Gewalt das Spannungsverhältnis zwischen den Grundsätzen der Konzentration und der Beschleunigung weiter als bisher zu Gunsten des Beschleunigungsgrundsatzes aufzulösen ist.
Durch die Änderung des § 229 Absatz 3 Satz 1 StPO wird der Anwendungsbereich der Hemmung der zulässigen Unterbrechungsfrist behutsam um die Fallgruppe der höheren Gewalt erweitert. Gleichzeitig wird durch die strengen Anforderungen an den Begriff der höheren Gewalt das Konzentrationsprinzip gewahrt. Denn ein mit der gebotenen Sorgfalt vermeidbares Nichterscheinen des Angeklagten oder einer zur Urteilsfindung berufenen Person zu einer Hauptverhandlung hemmt nach dieser Begrifflichkeit nicht die Unterbrechungsfrist. Darüber hinaus wird durch die Höchstdauer der Hemmung von sechs Wochen gewährleistet, dass das Konzentrationsprinzip gewahrt wird.
B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1 (§ 229 Absatz 3 Satz 1 StPO)
Der Anwendungsbereich der Hemmung der zulässigen Unterbrechungsfrist gemäß § 229 Absatz 3 Satz 1 StPO wird um Fälle der höheren Gewalt erweitert. Bereits nach der geltenden Rechtslage wird mit einer Erkrankung des Angeklagten oder einer zur Urteilsfindung berufenen Person ein wichtiger Anwendungsbereich der höheren Gewalt erfasst. Durch die Aufnahme des Begriffs der höheren Gewalt wird die Ausnahmevorschrift des § 229 Absatz 3 StPO behutsam erweitert. Der Begriff der höheren Gewalt hat in jahrzehntelanger Rechtsprechung zum Beispiel zu den §§ 206 BGB, 26 Absatz 4 EGGVG, § 58 Absatz 2, § 60 Absatz 3 VwGO, § 67 Absatz 3 SGG eine ausreichende Umschreibung erfahren. Er entspricht im Wesentlichen dem Begriff der "unabwendbaren Zufälle" in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung des § 233 Absatz 2 ZPO und umfasst nicht nur Umstände, die menschlicher Steuerung völlig entzogen sind. Unter höherer Gewalt ist ein Ereignis zu verstehen, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe - also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung - zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl. BVerfGK 12, 303 <306>; BVerwGE 105, 288 <300>; BGHZ 81, 353 <355>; BGH, Urteil vom 6. Juli 1994 - XII ZR 136/93 -, NJW 1994, 2752, 2753; BGH, Urteil vom 7. Mai 1997 - VIII ZR 253/96 -, NJW 1997, 3164). Diese Definition stellt einerseits sicher, dass der Anwendungsbereich des § 229 Absatz 3 StPO als Ausnahmevorschrift begrenzt bleibt. Andererseits wird gewährleistet, dass unvorhersehbare und unvermeidbare Verhinderungen zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht zu einer Wiederholung der Hauptverhandlung zwingen. Dies gilt zum Beispiel für Fälle wie die tagelangen Flugausfälle aufgrund der Vulkanaschewolke, der Besetzung des internationalen Flughafens in Bangkok im November 2008, der mehrtägigen Sperrung des US-Luftraums nach den Anschlägen vom 11. September 2001 oder das Einstellen der Fährverbindung zur Insel Hiddensee im Februar 2010. Über den vernünftigerweise anzulegenden Sorgfaltsmaßstab wird sichergestellt, dass der Angeklagte oder die zur Urteilsfindung berufenen Personen ausreichende Vorkehrungen dafür treffen, rechtzeitig zur Hauptverhandlung zu erscheinen. Es sind jeweils die Umstände des Einzelfalls zu betrachten. Ein einmaliger Flugausfall dürfte zur Begründung der Nichtteilnahme aus Gründen höherer
Gewalt ebenso wenig genügen, wie ein vor einer Urlaubsreise medienwirksam angekündigter Piloten- oder Lokführerstreik, ein Verkehrsunfall mit Blechschaden oder eine schlichte Kraftfahrzeugpanne. Da mit solchen Ereignissen nach der gebotenen Sorgfalt grundsätzlich gerechnet werden muss, ist dafür Sorge zu tragen, dass ausreichend Zeit für eine alternative Anreise eingeplant wird.
Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes. Übergangsvorschriften sind nicht erforderlich.