851. Sitzung des Bundesrates am 28. November 2008
A.
- 1. Der federführende Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik empfiehlt dem Bundesrat, der Verordnung gemäß Artikel 80 Abs. 2 des Grundgesetzes nach Maßgabe der folgenden Änderung zuzustimmen:
Zur Anlage 1 zu § 2 Teil D Nr. 3 Buchstabe b Satz 2 - neu -In Anlage 1 zu § 2 Teil D Nr. 3 ist Buchstabe b folgender Satz anzufügen:
- Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Begründung
Beim Merkzeichen "aG" fehlt der zweite Teil der Definition der außergewöhnlichen Gehbehinderung in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO (bisher Nr. 31 Abs. 3 AHP).
Das Merkzeichen "aG" erhält nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV, wer nach Straßenverkehrsrecht (nicht: nach Schwerbehindertenrecht) außergewöhnlich gehbehindert ist. Diese Diskrepanz hat bisher keine Rolle gespielt, weil die Definition der außergewöhnlichen Gehbehinderung im Schwerbehindertenrecht (Nr. 31 Abs. 2 und 3 AHP) mit der im Straßenverkehrsrecht (Nr. 11 Abs. 2 der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO) identisch war. Diese Definition besteht bisher jeweils aus zwei Teilen:
- a) allgemeine Definition ("Bewegung außerhalb des Kfz dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung"), und
- b) Fallgruppen, bei denen dies als stets erfüllt gilt (Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte usw.).
Nach der vorliegenden Verordnung sollen die Fallgruppen zwar wohl weiterhin in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO enthalten sein, aber nicht mehr in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Das Problem stellen hier insbesondere die prothetisch gut versorgten Doppelunterschenkelamputierten dar. Diese sind zwar nach Teil b der Definition außergewöhnlich gehbehindert, heutzutage aber (wegen der verbesserten Prothesentechnik) nicht mehr nach Teil a.
Wenn Teil b der Definition nur noch im Straßenverkehrsrecht gilt, aber nicht mehr im Schwerbehindertenrecht, fehlt der Gleichlauf: Prothetisch gut versorgte Doppelunterschenkelamputierte erhalten nach der SchwbAwV das Merkzeichen "aG", nach der VersMedV aber nicht. Dieser Widerspruch wird sowohl für die Betroffenen, als auch für die Verwaltung zu Rechtsunsicherheit führen.
B.
- 2. Der Gesundheitsausschuss und der Ausschuss für Verteidigung empfehlen dem Bundesrat, der Verordnung gemäß Artikel 80 Abs. 2 des Grundgesetzes zuzustimmen.
C.
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) und der Gesundheitsausschuss (G) empfehlen dem Bundesrat ferner die Annahme der nachstehenden Entschließungen:
- 3.
- a) Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung mit der Versorgungsmedizin-Verordnung nunmehr den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Schwerbehindertenrecht die von der Rechtsprechung geforderte demokratische Legitimation gibt. Er bedauert, dass sie bei dieser Gelegenheit die dringend notwendige inhaltliche Aktualisierung und Modernisierung der Vorschriften unterlassen hat.
- b) Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die Begutachtungsmaßstäbe und -kriterien der Versorgungsmedizin-Verordnung zum nächstmöglichen Zeitpunkt auf den ICF-Standard umzustellen.
Begründung (nur gegenüber dem Plenum):
Ebenso wichtig wie die Verrechtlichung ist eine grundlegende inhaltliche Überarbeitung der Begutachtungsmaßstäbe und -kriterien, die sowohl dem aktuellen Stand der Rehabilitationswissenschaften als auch international anerkannten Maßstäben im Hinblick auf Behinderungen entsprechen. Der Begriff "Behinderung" wird von den meisten Sozialleistungsträgern bereits ICF-basiert definiert oder die Anwendung der ICF-Standards wird vorbereitet. Diese positive Entwicklung muss durch entsprechende Grundsätze bei der deklaratorischen Feststellung von Beeinträchtigungen der Teilhabe gestützt und gestärkt werden.
Deshalb ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine Anpassung der Verordnung an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit - ICF - vorzunehmen.
- bei Annahme entfällt Ziffer 4
-
4. Zur Verordnung allgemein:
Der Bundesrat begrüßt die Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Verrechtlichung der bisherigen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht und unterstützt grundsätzlich die vorgelegte Verordnung und ihr baldiges Inkrafttreten.
Der Bundesrat ist aber der Auffassung, dass in die Anlage zu § 2 weitere bislang in den "Anhaltspunkten" enthaltene Grundsätze aufgenommen werden sollten. Dies gilt insbesondere für den Abschnitt "Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern" (AHP Ziffern 53 bis 143). Dieser Abschnitt enthält für die Praxis allgemeine Grundsätze und Orientierungshilfen und hat bislang ein gleichartiges Begutachtungswesen und Verwaltungshandeln sowie eine einheitliche Entscheidungspraxis sichergestellt.
Auch das Bundessozialgericht hat diesem Teil einen grundsätzlichen verbindlichen Charakter beigemessen (z.B. Ziffer 71) und bei seiner Entscheidung zur Anerkennung von psychischen Gesundheitsschäden als traumatische Folgen im Jahr 2003 als maßgebliches Kriterium berücksichtigt (Urteil vom 12. Juni 2003 - B 9 VG 001/02 R). Ein Weglassen dieser Grundsätze auf Dauer würde daher auf allen Seiten Rechtsunsicherheit hervorrufen und damit das grundsätzliche Ziel zur Verrechtlichung der Anhaltspunkte - ein einheitliches, verbindliches und Rechtssicherheit gebendes Regelungswerk zu schaffen - gefährden.
Der Bundesrat bittet daher das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zeitnah nach Inkrafttreten der Verordnung darüber mit den Ländern in einen fachlichen Dialog einzutreten und eine entsprechende Ergänzung der Anlage zu § 2 vorzunehmen.
Der Bundesrat bittet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu prüfen, ob im Teil D die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung von allen in § 3 SchwbAwV aufgeführten Merkzeichen beschrieben werden können.
Eine derartige zusammenfassende Darstellung wäre im Feststellungsverfahren für die antragstellenden Personen, aber auch für die begutachtenden Ärztinnen und Ärzte hilfreich.
Beschrieben werden jedoch lediglich die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung von bisher vier Merkzeichen. § 3 SchwbAwV enthält jedoch eine Reihe weiterer Merkzeichen, so dass die in Anlage 1 Teil D VersMedV gewählte Überschrift irreführend ist, weil sie so verstanden werden kann, als sei die dort enthaltene Aufzählung abschließend.