Der Bundesrat hat in seiner 873. Sitzung am 9. Juli 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt die Mitteilung der Kommission zur Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung zur Kenntnis. Er verweist auf die bereits erfolgten Stellungnahmen des Bundesrates vom 16. März, 7. Mai sowie vom 4. Juni 2010 zur "Mitteilung der Kommission: EUROPA 2020 - Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" sowie zu Teil I und II der integrierten Leitlinien zu EUROPA 2020 (BR-Drucksachen 113/10(B) , 113/10(B) (2) und 267/10(B) ). Er weist darüber hinaus noch einmal ausdrücklich auf folgende Punkte hin:
- 2. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt verschärft und die wirtschaftspolitische Koordinierung innerhalb der EU verbessert werden muss. Er ist außerdem der Überzeugung, dass die Regulierung der Finanzmärkte zur Verhinderung zukünftiger Krisen sichtbar vorangetrieben werden muss und das Vertrauen in die gemeinsame Währung nur gestärkt werden kann, wenn alle Mitgliedstaaten überzeugend zeigen, dass sie es mit der notwendigen finanzpolitischen Disziplin ernst meinen.
- 3. Der Bundesrat unterstützt daher das Ziel der Kommission, angesichts der Erfahrungen in der Wirtschafts- und Finanzkrise eine verstärkte haushaltspolitische Disziplin in Europa und der Eurozone durchzusetzen. Der Bundesrat teilt ihre Auffassung, dass die bisherigen Verfahren hierzu nicht ausreichend sind, ferner, dass die präventive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspakts gestärkt sowie die Einhaltung der Regeln verbessert und die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen stärker in den Fokus gerückt werden muss.
- 4. Hierfür müssen die 2005 geschaffenen Sondertatbestände im Stabilitäts- und Wachstumspakt rückgängig gemacht werden; insbesondere sollen die unbestimmten, den Stabilitätspakt verwässernden Aussagen zur Berücksichtigung bestimmter Ausgaben bei der Entscheidung über das Vorliegen eines übermäßigen Defizits zurückgenommen werden.
- 5. Der Bundesrat begrüßt in diesem Kontext ausdrücklich die in der Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen zur besseren Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Das betrifft insbesondere den Vorschlag, das im Maastricht-Vertrag verankerte Ziel gesunder öffentlicher Finanzen in nationales Recht der Mitgliedstaaten zu integrieren.
- 6. Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 3 des Protokolls (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit verpflichtet sind zu gewährleisten, dass die innerstaatlichen Verfahren im Haushaltsbereich sie in die Lage versetzen, ihre sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Der Bundesrat begrüßt deshalb ausdrücklich den Appell der Kommission an die Mitgliedstaaten, entsprechende Regelungen in ihr nationales Recht aufzunehmen.
- 7. Der Bundesrat hält überdies eine europäische Übereinkunft zum nachhaltigen Abbau der Neuverschuldung in den Mitgliedstaaten ("Europäische Schuldenbremse") für notwendig.
- 8. Im Defizitverfahren müssen Sanktionen früher greifen können. Der Bundesrat teilt die Ansicht der Kommission und begrüßt deshalb ihren Vorschlag, dass die Defizitverfahren beschleunigt werden müssen, insbesondere für Mitgliedstaaten, die wiederholt gegen den Pakt verstoßen. Erforderlich ist überdies, dass Defizitverfahren automatisch eingeleitet werden durch eine unabhängige Institution.
- 9. Er teilt ferner die Ansicht, dass das Schuldenstandskriterium durchgesetzt werden muss und dass neue Anreize und Sanktionsmechanismen - auch durch die Verwendung von EU-Mitteln und das Aussetzen von Mitteln aus dem Kohäsionsfonds - zur Durchsetzung stabiler Finanzen in Europa nötig sind. Der Bundesrat unterstützt nicht zuletzt die Forderung, das Mandat von Eurostat zur Prüfung nationaler Statistiken zu stärken. Um den öffentlichen Schuldenstand und seine Tragfähigkeit stärker in den Vordergrund zu stellen und langfristig solidere Haushalte zu erreichen, gehen die Vorschläge zur Aufwertung des im Vertrag verankerten Schuldenstandkriteriums nach Auffassung des Bundesrates daher in die richtige Richtung.
- 10. Der Bundesrat hält überdies die Suspendierung von Stimmrechten im Rat für solche Euro-Mitgliedstaaten für notwendig, die in grober Weise gegen die Regeln der Währungsunion verstoßen.
- 11. Zu den notwendigen deutlich spürbareren Sanktionen gehört auch der von der Europäischen Kommission angedachte rigorosere Einsatz von EU-Ausgaben, was nach Auffassung des Bundesrates das Sperren oder endgültige Streichen von EU-Fördermitteln umfassen muss, und die automatischen Verhängung von Sanktionen durch ein unabhängiges Gremium.
- 12. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass neben den haushaltspolitischen Ungleichgewichten auch sonstige makroökonomische Ungleichgewichte die europäische Wirtschaft in der Krise sehr anfällig gemacht haben. Er teilt die Ansicht der Kommission, dass neben Maßnahmen zur Stärkung der finanzpolitischen Disziplin auch eine neue Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung notwendig ist, wie von der Kommission mit der Strategie Europa 2020 angestrebt. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass die Regelungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt und zur Durchsetzung finanzpolitischer Disziplin in Europa nicht mit den Reformprogrammen der Strategie Europa 2020 und ihren integrierten Leitlinien inhaltlich vermengt werden dürfen. Eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts muss vermieden werden. Deshalb muss sichergestellt werden, dass der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt und die EU-Strategie 2020 nicht in der Weise miteinander verknüpft werden, dass unzureichende Konsolidierungsanstrengungen in den Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten der EU mit der vermeintlich notwendigen Umsetzung der neuen Strategie für Wachstum und Beschäftigung oder zur Beseitigung von Ungleichgewichten begründet werden oder umgekehrt.
- 13. Im Zusammenhang mit der Strategie Europa 2020 vermisst der Bundesrat ein eindeutiges Bekenntnis zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ganz Europas. Das Ziel der Lissabon-Strategie, Europa zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen, war richtig und darf inhaltlich auch in der neuen Strategie nicht aufgegeben werden.
- In der Mitteilung der Kommission fehlt in diesem Zusammenhang die eindeutige Klarstellung, dass die Hauptursache für die makroökonomischen Ungleichgewichte in Europa vor allem in der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit und der Überschuldung einiger Mitgliedstaaten liegt und deshalb die Defizitländer die Hauptanpassungslast beim Abbau der Ungleichgewichte zu tragen haben. Im Rahmen einer verstärkten Koordinierung der Politiken muss ausgeschlossen werden, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten negativ beeinflusst wird. Die europäische Politik darf sich nicht am europäischen Durchschnitt, sondern muss sich an den internationalen Wettbewerbern wie China, Indien und auch den USA orientieren. Ohne eine nachhaltige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ganz Europas ist auch eine nachhaltige Konsolidierung der Haushalte der Mitgliedstaaten nicht möglich.
- 14. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Entwicklung eines Anzeigers mit Indikatoren zum Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit und zur Warnung vor schwerwiegenden makroökonomischen Ungleichgewichten, der als Frühwarnmechanismus dienen kann.
- 15. Der Bundesrat vermisst darüber hinaus die Klarstellung, dass eine Beseitigung der makroökonomischen Ungleichgewichte - vor allem in der Euro-Zone - kein Ziel an sich darstellt. Ziel ist es, Wachstum und Beschäftigung in Europa zu stärken und einen stabilen haushalts-, finanz- wie währungspolitischen Rahmen für die Länder Europas bereitzustellen. Dies kann sehr wohl mit einem Leistungsbilanzüberschuss der Euro-Zone einhergehen, zumal dies eine Ersparnisbildung im Ausland impliziert, die angesichts der demographischen Herausforderungen in vielen Ländern der Euro-Zone angemessen ist. Nur so profitieren die europäischen Sparer von den höheren Wachstumschancen in anderen Ländern und Regionen der Welt.
- 16. Der Bundesrat vermisst allerdings die Klarstellung, dass der Abbau der Ungleichgewichte nicht über eine Schwächung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Überschussländer gehen kann. Der Bundesrat bekräftig seine Auffassung, dass es vielmehr vorrangige Aufgabe der wettbewerbsschwachen Länder ist, umgehend strukturelle Reformen, zum Beispiel auf den Produkt- und Arbeitsmärkten oder im Bereich der sozialen Sicherungssysteme einzuleiten (BR-Drucksache 267/10(B) ).
- 17. Eine pauschale Ausdehnung der wirtschaftspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten über den Haushaltsaspekt hinaus auch auf andere makroökonomische Ungleichgewichte, wie in der Mitteilung der Kommission angelegt, sieht der Bundesrat sehr kritisch. Der Bundesrat unterstützt zwar das Bestreben nach einer effizienteren Koordinierung der strategiebezogenen Maßnahmen im Bereich der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, weist aber noch einmal auf mögliche Probleme hinsichtlich der von der Kommission ausgeweiteten Koordinierungsmechanismen der (zentralen) Währungsunion auf den Bereich der (dezentralen) Wirtschaftspolitik hin. Der in der Strategie Europa 2020 vorgesehene Mechanismus von verbindlichen nationalen Zielen und der Überwachung durch die Kommission darf nicht in die durch den Lissabon-Vertrag soeben eingeführte klare Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten eingreifen. Dies gilt sowohl für die auf Artikel 121 Absatz 2 AEUV gestützte Leitlinie für die Wirtschaftspolitik als auch für die auf Artikel 148 AEUV gestützte Leitlinie für Beschäftigungspolitik.
- 18. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass bei der Schaffung eines "Europäischen Semesters" zur Synchronisierung der Bewertung der Haushalts- und Strukturpolitik der Mitgliedstaaten die Haushaltsautonomie der nationalen Parlamente unbedingt gewahrt werden muss.
- 19. Der Bundesrat steht darüber hinaus den in der Mitteilung der Kommission vorgesehenen sogenannten "Peer Reviews" kritisch gegenüber. Hier besteht die Gefahr, dass sich die vorgeschlagenen Maßnahmen mehr an Mehrheitsverhältnissen orientieren als an ökonomischen Notwendigkeiten. Der Bundesrat schlägt in diesem Zusammenhang die Beteiligung neutralerer Instanzen wie der Europäischen Zentralbank vor.
- 20. Der Bundesrat bekräftigt, dass sich die Währungsunion nicht sukzessive in eine Transferunion wandeln darf (BR-Drucksache 274/10(B) ). Deshalb wird die angekündigte Errichtung eines permanenten Krisenbewältigungsmechanismus als Schritt in diese Richtung abgelehnt.
- 21. Dagegen müssen Optionen geprüft werden, wie notfalls eine Staatsinsolvenz für Euro-Mitgliedstaaten unter Einbeziehung der Gläubiger (z.B. durch einen Forderungsverzicht oder einen Rangrücktritt) geregelt werden kann bzw. ein Staat als Ultima Ratio aus der Währungsunion ausgeschlossen werden kann. Für künftige vergleichbare Fälle müssen klare Verfahrensregeln geschaffen werden. Innerhalb dieses Verfahrens darf es keinen automatisierten Anspruch auf Hilfen der anderen Länder geben. Es müssen dabei die Interessen nicht nur der Schuldnerländer, sondern der Gesamtheit der Eurogruppe Berücksichtigung finden.
- 22. Der Bundesrat hält es für notwendig, dass bei zukünftigen Beitrittsanträgen zur Währungsunion ein längeres, zum Beispiel fünfjähriges Monitoringverfahren durchgeführt wird, in dem der Mitgliedstaat beweist, dass ihm eine dauerhaft stabilitätsorientierte Finanzpolitik unter Achtung seiner Wettbewerbsfähigkeit möglich ist.
- 23. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die Länder auch mit Blick auf die Arbeiten der Task Force des Europäischen Rates bei der Vorbereitung und Umsetzung der notwendigen Verschärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und bei den Änderungen hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Koordinierung rechtzeitig und umfassend zu beteiligen.
- 24. Der Bundesrat erwartet, dass die Bundesregierung sich mit den Ländern über die sich aus dem "Europäischen Semester" ergebenden Konsequenzen für die Haushaltsaufstellung der Länder abstimmt, bevor konkrete Umsetzungsmaßnahmen auf europäischer Ebene beschlossen werden.