Der Bundesrat hat in seiner 909. Sitzung am 3. Mai 2013 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Vorlage der EU, da mit dieser vor dem Hintergrund der Millenniumsentwicklungsziele sowie der im Rahmen der Rio+20-Konferenz getroffenen Vereinbarungen ein gemeinsames EU-Konzept für die Ausarbeitung eines übergreifenden Handlungsrahmens zur Beseitigung der Armut und Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft für die Welt für die Zeit nach 2015 geschaffen werden soll.
- 2. Er begrüßt, dass die Kommission in ihrer Mitteilung vorschlägt, die bisher auf UN-Ebene getrennt laufenden internationalen Entwicklungsprozesse, die sogenannte Post-2015-Entwicklungsagenda und den Rio-Nachfolgeprozess zur nachhaltigen Entwicklung, in einem kohärenten Gesamtprozess der globalen nachhaltigen Entwicklung zusammenzuführen.
- 3. Der Bundesrat begrüßt besonders, dass die Kommission dabei ihren Schwerpunkt auf die Beseitigung von Armut in all ihren Dimensionen legt, und weist auf die besondere Bedeutung der Bekämpfung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit als eine Folge von Armut und wirtschaftlichem Ungleichgewicht hin. In diesem Zusammenhang fordert der Bundesrat die Kommission auf, ein Verfahren zu entwickeln, das verhindert, dass Waren, die unter schlimmsten Formen der Kinderarbeit produziert worden sind, in die EU eingeführt werden.
- 4. Aus Sicht des Bundesrates muss das angestrebte System von internationalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) zusammen mit den für die Zeit ab 2015 angestrebten Milleniumsentwicklungszielen (Millenium Development Goals, MDGs) ein inhaltlich kohärentes und universell gültiges strategisches Zielsystem bilden. Globale Ziele sollten dabei um differenzierte Unterziele je nach Ausgangslage und Potenzial der Staaten oder Staatengruppen ergänzt werden. In dem neuen globalen Zielsystem müssen alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit, die ökologische, die soziale und die ökonomische, gleichermaßen berücksichtigt werden, gerade auch in Zeiten der globalen Finanzkrisen und der daraus resultierenden Sparzwänge in vielen Staaten.
- 5. Um die besonderen Herausforderungen in den Entwicklungsländern darzustellen, sollten - wie bei den bis 2015 geltenden MDGs - Ziele in den Bereichen Armutsbekämpfung, Ernährung, Zugang zu Bildung, Gesundheit und Gleichstellung der Geschlechter auch im neuen Nachhaltigkeitszielsystem der internationalen Staatengemeinschaft eine wichtige Rolle spielen. Die im Rahmen der bisherigen MDGs nur teilweise berücksichtigte ökologische Dimension der Nachhaltigkeit sollte ausgebaut werden und unter anderem folgende Bereiche umfassen: Klimaschutz/Klimawandel, erneuerbare Energien, Schutz der Biodiversität und der Wälder, Schutz des Bodens, Zugang zu sauberem Wasser. Auch die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit muss im neuen Zielsystem adäquat abgebildet werden: Im Sinne des Ausbaus des nachhaltigen Wirtschaftens (Green Economy) sollten unter anderem Ziele in den Bereichen Steigerung der Ressourceneffizienz, faire und nachhaltige internationale Handelsstrukturen, nachhaltiges Konsumieren, Know-How-Transfer von nachhaltigen Lösungen und nachhaltiger Tourismus erwogen werden. Auch horizontale Ziele, wie Bildung für nachhaltige Entwicklung, gute Regierungsführung, Achtung der Menschenrechte sowie Frieden und Sicherheit, müssen in einem neuen globalen Zielsystem integriert werden.
- 6. Angesichts der Tatsache, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten die sozialen Unterschiede aufgrund der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb vieler Staaten, auch innerhalb vieler Staaten Europas, deutlich erhöht haben, wird ein globales Zielsystem auch die Entwicklungen innerhalb der Staaten im Blick behalten müssen, ohne sich dabei übermäßig in die internen politischen Prozesse einzumischen. Themen wie dem sozialen Schutz und dem sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft wird demzufolge im globalen Nachhaltigkeitszielsystem eine höhere Bedeutung zukommen müssen.
- 7. Die planetarischen Grenzen, das heißt die Belastbarkeitsgrenzen der globalen Ökosysteme, stellen den verbindlichen Rahmen für ein globales Nachhaltigkeitszielsystem dar.
- 8. Um der elementaren Bedeutung des Zusammenspiels von Bildung und Nachhaltigkeit gerecht zu werden, ist nach Ansicht des Bundesrates auch darauf hinzuwirken, dass das unter der Federführung der UNESCO ab 2015 in Aussicht genommene Weltaktionsprogramm zur Bildung für nachhaltige Entwicklung mit dem globalen Nachhaltigkeitszielsystem korrespondiert. Die Ausgestaltung dieses Weltaktionsprogramms, mit dem die Ende 2014 auslaufende UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" fortgeführt werden soll, ist in besonderer Weise geeignet, mit der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele zu beginnen, wobei die einzelnen Staaten eigene Schwerpunkte setzen können.
- 9. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die EU in den anstehenden internationalen Verhandlungen nur dann glaubwürdig und effektiv agieren kann, wenn sie auch selbst in ihrem eigenen Zielsystem die ökologische, die soziale und die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit gleichermaßen berücksichtigt. Die Kommission stellt aber in der vorliegenden Mitteilung die Europa-2020-Strategie als wichtigsten Bezugspunkt ihrer Nachhaltigkeitsüberlegungen dar (s. Abschnitt 3.3.), obwohl diese die soziale und ökologische Dimension der Nachhaltigkeit nur am Rande berücksichtigt. Die umfassender angelegte EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung wird in der Mitteilung nur einmal kurz erwähnt; der Bundesrat fordert die Kommission daher dringend auf, diese Strategie in ihren weiteren Überlegungen zur Integration der internationalen Entwicklungsprozesse und zu deren Umsetzung auf EU-Ebene gleichrangig zu berücksichtigen. Die Auflistung unterschiedlichster Maßnahmen auf EU- und internationaler Ebene zur Umsetzung der Rio+20-Ergebnisse in Anhang I der Mitteilung zeigt, dass eine kohärente Gesamtstrategie und ein klarer Nachhaltigkeitskompass auf EU-Ebene dringend erforderlich sind.
- 10. Der Bundesrat wiederholt daher seine Aufforderung an die Kommission aus seiner Stellungnahme vom 1. Februar 2013 zum Vorschlag für ein siebtes Umweltaktionsprogramm der EU (Drucksache 745/12(B) ), bis 2014 eine Novelle der EU-Nachhaltigkeitsstrategie einzuleiten. Eine entsprechende Forderung hat der EU-Ministerrat im Oktober 2012 einstimmig an die Kommission gerichtet (siehe Schlussfolgerungen des Umweltrats vom 25. Oktober 2012, Ratsdokument 15477/12). Wie die vorliegende Mitteilung erkennen lässt, hat die Kommission die Forderung nach einer Novelle der EU-Nachhaltigkeitsstrategie bisher nicht aufgegriffen. Spätestens im Hinblick auf die notwendige Umsetzung von neuen internationalen Entwicklungszielen in der EU erscheint eine grundlegende Überarbeitung oder Neufassung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie unumgänglich.
- 11. Er weist zudem erneut darauf hin, dass für die notwendige Transformation der internationalen und europäischen Gesellschaften hin zu einer Wirtschafts- und Lebensweise, die die Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten beachtet, auch soziale Innovationen erforderlich sind. Wie ein Übergang zu nachhaltigen und ressourcenschonenden Lebensstilen (nachhaltige Produktions- und Konsummuster) erreicht werden kann, wird in der Kommissionsmitteilung nur unzureichend thematisiert. Der bisher stark wachstumsorientierte Ansatz der Kommission - am Ende von Abschnitt 4.1.2. wird sogar vom Ziel eines "schnellen Wachstums" ohne jeden qualifizierenden Zusatz gesprochen - erscheint durch die Ergebnisse des politischen Diskurses z.B. in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" des Deutschen Bundestags überholt. Der Grundansatz der EU in den internationalen Nachhaltigkeitsverhandlungen sollte daher um das Instrument der sozialen Innovation zu nachhaltigen und ressourcenschonenden Lebensstilen ergänzt werden.
- 12. Der Bundesrat nimmt die in Anhang I zur Kommissionsmitteilung genannten, laufenden und in nächster Zeit geplanten Maßnahmen auf EU-Ebene zur Umsetzung der Ergebnisse der Rio+20-Konferenz zur Kenntnis. Mit Bezug auf den Bereich des Handels begrüßt der Bundesrat, dass die Kommission bereits in ihrer Mitteilung "Rio+20: Hin zu einer umweltverträglichen Wirtschaft und besserer Governance" vom 20. Juni 2011 festgestellt hat, dass die Aufnahme von Nachhaltigkeitsauflagen in multilaterale und bilaterale Handelsabkommen gefördert werden muss. Der Bundesrat fordert die Kommission auf, beim Abschluss von Handelsabkommen sicherzustellen, dass Nachhaltigkeitsauflagen, zu denen auch arbeitsrechtliche Mindestnormen wie die Umsetzung der Konvention Nr. 182 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit gehören, verbindlich und sanktionierbar festgeschrieben werden. Zugleich fordert der Bundesrat mit Verweis auf seine Entschließung zur Verhinderung des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit (BR-Drucksache 309/10(B) ) die Bundesregierung auf, EU-Handelsabkommen nur dann zu unterzeichnen, wenn menschenrechtliche und soziale Standards sowie entsprechende Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen tatsächlich verbindlich verankert sind.
- 13. Er bittet die Bundesregierung, die Position des Bundesrates in den weiteren Verhandlungen auf europäischer und internationaler Ebene zu berücksichtigen und den Bundesrat wegen der erheblichen Bedeutung der Thematik auch für die Nachhaltigkeitsanstrengungen in den Ländern regelmäßig über den Fortgang der Verhandlungen auf europäischer und internationaler Ebene zu unterrichten.
- 14. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.