979. Sitzung des Bundesrates am 28. Juni 2019
A Konzept des EU-Ausschusses
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt die Überlegungen der Kommission zum künftigen Gesetzgebungsverfahren in der EU zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die gegenwärtigen vertraglichen Regelungen zum Gesetzgebungsverfahren in der EU-Sozialpolitik angemessen sind und keine Änderungen veranlasst sind.
- 3. Der Bundesrat betont, dass der Sozialstaat zum Kernbereich der nationalen Souveränität gehört. Die Vielfalt der mitgliedstaatlichen Sicherungssysteme trägt den nationalen Besonderheiten Rechnung und stellt sicher, dass die besonderen Gegebenheiten eines jeden Mitgliedstaates ausreichend berücksichtigt werden können. Die sozialen Sicherungssysteme sind zentraler Bestandteil der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten. Daher sind auch weiterhin das in Artikel 5 Absatz 3 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Grundprinzipien ihrer sozialen Sicherungssysteme zu wahren.
- 4. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission aufbauend auf den Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte vorgeschlagen hat, die Maßnahmen auf EU-Ebene zu sozialer Sicherheit und sozialem Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Annahme von Empfehlungen zu konzentrieren. Vorliegend beschränkt die Kommission die Option des Rückgriffs auf die Überleitungsklausel (Artikel 48 Absatz 7 EUV) für diesen Bereich dementsprechend ausdrücklich auf die Annahme von Empfehlungen des Rates. Empfehlungen des Rates sind rechtlich nicht bindend und begründen keine neuen sozialpolitischen Kompetenzen der Union. Es ergeben sich national keine gesetzlichen Handlungsverpflichtungen. Empfehlungen müssen in der Umsetzung Raum für die Einbeziehung sämtlicher relevanter nationaler Besonderheiten lassen und die historisch gewachsenen Unterschiede der Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten achten.
- 5. Auch wenn Empfehlungen nicht verbindlich sind, können sie gleichwohl mit weitreichenden Folgen für die Mitgliedstaaten verbunden sein. Vor diesem Hintergrund besteht aus Sicht des Bundesrates die Gefahr, dass die Kommission mit den Vorschlägen einen Einstieg in die Vergemeinschaftung der europäischen Sozialsysteme vorbereiten könnte. Der Bundesrat ist für die Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips bei der Annahme von Empfehlungen.
- 6. Der Bundesrat hält eine rechtliche Überprüfung für erforderlich, um teilweise bestehende Zweifel auszuräumen, inwiefern für den Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Rückgriff auf die allgemeine Klausel des Artikels 48 Absatz 7 EUV möglich ist, obwohl eine spezifische Brückenklausel für die Sozialpolitik in Artikel 153 Absatz 2 AEUV existiert, die gerade diesen Politikbereich nicht erfasst.
- 7. Der Bundesrat spricht sich für eine Beibehaltung des Einstimmigkeitserfordernisses im Bereich der Antidiskriminierung aus. Es ist nicht ersichtlich, worin im Falle einer Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip ein europäischer Mehrwert liegen könnte.
- 8. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
B Konzept des AIS- und FJ-Ausschusses
Der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik und der Ausschuss für Frauen und Jugend empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 9. Der Bundesrat begrüßt die Überlegungen der Kommission zum künftigen Gesetzgebungsverfahren in der EU. Der Bundesrat unterstützt das Ziel der Kommission, eine Diskussion über eine effizientere Entscheidungsfindung in den Bereichen der EU-Sozialpolitik zu eröffnen, die noch der einstimmigen Beschlussfassung im Rat und einem besonderen Gesetzgebungsverfahren unterliegen.
- 10. Der Bundesrat stellt fest, dass die grundsätzliche Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherung zum Kernbereich der nationalen Souveränität gehört. Die Vielfalt der mitgliedstaatlichen Sicherungssysteme trägt den nationalen Besonderheiten Rechnung und stellt sicher, dass die besonderen Gegebenheiten eines jeden Mitgliedstaates ausreichend berücksichtigt werden. Daher sind auch weiterhin das in Artikel 5 Absatz 3 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Grundprinzipien ihrer sozialen Sicherungssysteme Grundlagen für die gemeinsame Gestaltung der zukünftigen europäischen Sozialpolitik.
- 11. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission darin überein, dass die verstärkte Zusammenarbeit (Artikel 20 EUV, Artikel 326 fortfolgende AEUV) im sozialpolitischen Bereich keine zielführende Option darstellt. Diese würde den teilnehmenden Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich Gestaltungsräume eröffnen und zumindest eine teilweise voranschreitende Integration ermöglichen. Der Bundesrat sieht jedoch auch die Gefahr der Fragmentierung des Binnenmarkts und eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. Eine solche Entwicklung würde zudem den Bestrebungen nach einer weiteren Umsetzung der Rechte und Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) und einer sozialen Aufwärtskonvergenz innerhalb der EU, die vom Bundesrat ausdrücklich unterstützt werden, entgegenstehen.
- 12. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Wege des Kompromisses pragmatische Ergebnisse ermöglicht, die den Interessen der Union in ihrer Gesamtheit Rechnung tragen. Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU-Sozialpolitik schützt einerseits die bestehende nationalstaatliche Autonomie. Andererseits kann ein Vetorecht für jeden einzelnen Mitgliedstaat eine von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern mehrheitlich gewünschte gemeinsame Ausrichtung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene verhindern. Der Bundesrat sieht durch das Einstimmigkeitsprinzip den Handlungsspielraum aller Mitgliedstaaten eingeschränkt und die Beförderung der sozialen Aufwärtskonvergenz sowie die Entwicklung eines gleichen Schutzes vor Diskriminierung erschwert. Er unterstreicht, dass die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit als anerkanntes und grundlegendes Element demokratischer Systeme nicht weniger legitime Entscheidungen als das Einstimmigkeitsprinzip hervorbringt.
- 13. Nach Auffassung des Bundesrates sollte bei einem Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat gleichzeitig der Übergang vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erfolgen. Für die Stärkung des Europäischen Parlaments als dem einzigen direkt gewählten EU-Gesetzgebungsorgan sprechen insbesondere das Demokratieprinzip und die hierdurch vermittelte Bürgernähe.
- 14. Der Bundesrat bestärkt die zukünftige Kommission darin, sich nachdrücklich und mit allen vorhandenen Instrumenten für die weitere Umsetzung der Rechte und Grundsätze der ESSR und der Entwicklungsziele der Vereinten Nationen auf allen Ebenen einzusetzen. Entsprechende Handlungsbedarfe können sich aufgrund der Herausforderungen der neuen Arbeitswelt und der globalen Megatrends jederzeit auch kurzfristig ergeben, so dass eine effiziente Entscheidungsfindung in der EU-Sozialpolitik auch unter Binnenmarktaspekten und zur Sicherung des Fachkräftebedarfs ausdrücklich zu begrüßen ist.
- 15. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission aufbauend auf den Grundsätzen der ESSR vorgeschlagen hat, die Maßnahmen auf EU-Ebene zu sozialer Sicherheit und sozialem Schutz der Arbeitnehmerinnen und -nehmer auf die Annahme von Empfehlungen zu konzentrieren. Gleichwohl sollte die Kommission nicht von vornherein die Möglichkeit ausschließen, dort, wo dies angezeigt ist, künftig auch Richtlinienvorschläge zu Mindestvorschriften zu sozialer Sicherheit und sozialem Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäß Artikel 153 Absatz 2 b) AEUV auf den Weg zu bringen.
- 16. Vorliegend beschränkt die Kommission die Anwendung der allgemeinen Überleitungsklausel (Artikel 48 Absatz 7 EUV) für den Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausdrücklich auf die Annahme von Empfehlungen des Rates. Empfehlungen des Rates sind rechtlich nicht bindend. Es ergeben sich national keine gesetzlichen Handlungsverpflichtungen. Empfehlungen lassen in der Umsetzung Raum für die Einbeziehung sämtlicher relevanter nationaler Besonderheiten und achten die historisch gewachsenen Unterschiede der Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten. Aus Sicht des Bundesrates ist der Vorschlag daher mit Blick auf eine effizientere Entscheidungsfindung in der EU-Sozialpolitik ausdrücklich zu befürworten.
- 17. Der Bundesrat sieht in einer übergreifenden Initiative nach Artikel 48 Absatz 7 EUV, welche auf den grundsätzlichen Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen für Empfehlungen für den gesamten Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen abzielt, einen wichtigen Handlungsbereich, für den es gilt, EU-weit den nötigen gesellschaftlichen und parlamentarischen Konsens zu finden. Auf Grund der Komplexität dieses Themenbereiches sollten dabei aus Sicht des Bundesrates zunächst auch isolierte Initiativen, ausgehend von einem jeweils konkret ersichtlichen Handlungsbedarf in einzelnen Teilbereichen, unter der Maßgabe einer effizienteren Entscheidungsfindung in der EU-Sozialpolitik in den Blick genommen werden. Aus Sicht des Bundesrates ist dabei sicherzustellen, dass qualifizierte Mehrheiten nicht dafür genutzt werden dürfen, bestehende Standards im sozialpolitischen Bereich abzusenken.
- 18. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass auch in Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie in Bezug auf den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages sowie die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung ein Rückgriff auf die spezifische Überleitungsklausel für die Sozialpolitik und die damit verbundene Anordnung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Artikel 153 Absatz 2 AEUV) nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollte.
- 19. Der Bundesrat ist sich mit der Kommission einig, dass Gleichheit einer der Grundwerte der EU ist. Für Diskriminierung gibt es keinen Platz in der Union. Der Bundesrat betont, dass alle Formen der Diskriminierung in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichermaßen bekämpft werden müssen. Er begrüßt und unterstützt daher den Vorschlag der Kommission, unter Rückgriff auf die allgemeine Überleitungsklausel des Artikels 48 Absatz 7 EUV einen grundsätzlichen Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Antidiskriminierung zu eröffnen und damit die Entwicklung des gleichen Schutzes vor Diskriminierung auf EU-Ebene zu erleichtern.
- 20. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
C
- 21. Der Wirtschaftsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.