992. Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020 der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik empfiehlt dem Bundesrat, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
Zum Gesetzentwurf insgesamt
- a) Der Bundesrat begrüßt die Vorlage des Gesetzentwurfs zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996.
- b) Der Gesetzentwurf sollte das Ziel der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC), die aktuelle Bedeutung der ursprünglichen Europäischen Sozialcharta zu unterstreichen, zwischenzeitlich entstandene Regelungslücken zu schließen und arbeits- und sozialrechtliche Ergänzungen und Neuerungen in den Kreis ihrer Regelungen aufzunehmen, widerspiegeln. Der Bundesrat sieht dies angesichts der vorgesehenen Ausnahme der neuen Artikel 21, 22, 24, 30 und 31 sowie der verfahrensrechtlichen Protokolle der RESC von der Ratifikation sowie zahlreicher Anwendungs- und Auslegungserklärungen nur zum Teil gewährleistet.
- c) Der Bundesrat bedauert zudem, dass die Gelegenheit nicht genutzt wird, noch nicht vollständig ratifizierte Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 nunmehr im Hinblick auf ihre Anwendung für Deutschland umfassend anzuerkennen. Insbesondere im Hinblick auf Artikel 8 Absatz 2 und 4 RESC betreffend das Recht der Arbeitnehmerinnen auf Mutterschutz ist dies in der Denkschrift weder begründet noch nachvollziehbar.
- d) Der Bundesrat verweist auf die aktuell angestoßene Entwicklung eines Aktionsplans zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (soziale Säule) durch die Europäische Kommission. Die Mehrzahl der 20 Rechte und Grundsätze der sozialen Säule betreffen Aspekte, die dem Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung und dem Recht auf Wohnung im Sinne der Artikel 30 und 31 RESC weitgehend entsprechen. Ebenso ist dem Armutsbekämpfungsziel der VN-Agenda 2030 sowie deren weiterem Ziel, den Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum für alle sicherzustellen, Rechnung zu tragen.
- e) Der Bundesrat hält vor diesem Hintergrund insbesondere den Ausschluss der Artikel 30 und 31 RESC von der Ratifikation weder für schlüssig begründet noch für sachgerecht. Die Begründung, wonach beide Regelungen in ihren Ausprägungen, Voraussetzungen und Anwendungsgrenzen als nicht ausreichend konturiert erschienen und damit in ihrer Umsetzung in nationales Recht problematisch seien, ist aus Sicht des Bundesrates nicht hinreichend substantiiert, um die behauptete Erforderlichkeit des Anwendungsausschlusses zu belegen.
- f) Der im Anhang definierte persönliche Geltungsbereich der RESC, wonach die Artikel 1 bis 17 und 20 bis 31, vorbehaltlich Artikel 12 Absatz 4 und Artikel 13 Absatz 4, auch auf Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten insoweit anzuwenden sind, soweit sie ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben oder hier ordnungsgemäß beschäftigt sind, gibt nach Auffassung des Bundesrates keinen Anlass, die Anwendung der Artikel 30 und 31 RESC für Deutschland auszuschließen.
- g) 24 Jahre nach der Ergänzung und Aktualisierung der Europäischen Sozialcharta auf noch bestehenden Prüfungsbedarf zu Artikel 31 Absatz 3 RESC zu verweisen, ist aus Sicht des Bundesrates nicht nachvollziehbar. Die Bundesregierung hat zudem weder zu Artikel 30 noch zu Artikel 31 RESC eine tatsächlich bestehende fehlende Kompatibilität zum nationalen Recht dargelegt. Einer seitens der Bundesregierung befürchteten extensiven Auslegung der Verpflichtungsgrundlagen der Charta durch den Sachverständigenausschuss (Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte, EASR) dürfte nach Auffassung des Bundesrates erforderlichenfalls wie bisher mit entsprechend begründeten Stellungnahmen zu begegnen sein.
- h) Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf, die noch ausstehenden Prüfungen zeitnah abzuschließen und ihre Bereitschaft zu unterstreichen, das nationale Recht, soweit keine unüberwindbaren Inkompatibilitäten bestehen, zu Gunsten der Völkerrechtsfreundlichkeit anzupassen und die Transformation zu nutzen, das innerstaatliche Recht zu reformieren und europarechtsfreundlich auszugestalten.
- i) Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Bundesregierung, dass es angemessen wäre und durchaus der Bedeutung der Ratifikation der RESC durch Deutschland entspräche, die Ratifikationsurkunde zum Vertragsgesetz anlässlich des deutschen Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarates zu hinterlegen. Für nicht minder bedeutsam erachtet es der Bundesrat, anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein Signal zur ambitionierten Umsetzung der sozialen Säule an die Mitgliedstaaten der Union zu senden.