846. Sitzung des Bundesrates am 4. Juli 2008
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Verkehrsausschuss (Vk) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass für den Erfolg von Anstrengungen zur Verringerung der Opferzahlen im Straßenverkehr die Durchsetzung der geltenden Rechtsvorschriften auch bei ausländischen Fahrern ein besonders wirksames Instrument ist. Er begrüßt es deshalb, dass die Ahndung von Verkehrsverstößen erleichtert werden soll, die in einem Mitgliedstaat mit einem Fahrzeug begangen werden, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist.
- 2. Die Bundesregierung wird unabhängig davon gebeten, bei den Beratungen eine Prüfung der Ermächtigungsgrundlage durch den Juristischen Dienst des Rates zu veranlassen. Es bestehen Zweifel, ob die Richtlinie auf Artikel 71 Abs. 1 Buchstabe c EGV gestützt werden kann, weil der Schwerpunkt der Regelungen in ihrer jetzigen Fassung nicht in der Verbesserung der Verkehrssicherheit besteht, zumal eine effektive Verfolgung von Verkehrsverstößen ausländischer Kraftfahrer dadurch nicht ermöglicht wird. Die Regelungen dienen vielmehr schwerpunktmäßig der justiziellen Zusammenarbeit und wären folglich auf Artikel 31 EUV zu stützen.
- 3. Die Notwendigkeit eines Instruments für den europaweiten multilateralen Halterdatenaustausch besteht nur bei solchen Verkehrsverstößen ausländischer Kraftfahrer, bei denen lediglich das Kennzeichen bekannt ist. Wird der Kraftfahrer dagegen unmittelbar nach der Begehung der Zuwiderhandlung angehalten - etwa bei Alkoholdelikten -, erfährt man unmittelbar dessen Identität; ein Halterdatenaustausch ist dann nicht mehr erforderlich. Der Halterdatenaustausch sollte deshalb für folgende Verkehrsverstöße vorgesehen werden: Geschwindigkeitsverstöße, Abstandsverstöße, Gurtverstöße, Rotlichtverstöße.
- (bei Annahme entfällt Ziffer 4)
- 4. Der Bundesrat ist allerdings der Auffassung, dass sich der Datenaustausch zur Ermittlung des Halters eines Fahrzeugs nicht nur auf die Verkehrsdelikte Geschwindigkeitsübertretungen, Fahren unter Alkoholeinfluss, Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes und Überfahren eines roten Stopplichts beschränken darf. Angesichts des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen sollte sich der Vorschlag für eine Richtlinie auf alle Verkehrsdelikte erstrecken, die mit einem Bußgeld ab 70 Euro geahndet werden. Es wäre nicht einsichtig, wenn zwar die grenzüberschreitende Vollstreckung der Sanktionen bei Delikten ab 70 Euro Bußgeld gewährleistet, aber nicht für alle Delikte auch der Austausch von Halterdaten ermöglicht würde.
- 5. Der Richtlinienvorschlag erstreckt sich nicht auf die für die Verfolgung von Verkehrsdelikten notwendige systematische Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungs- und Polizeibehörden der Mitgliedstaaten, um den verantwortlichen Fahrer zu ermitteln.
- 6. Die Verfolgung von Verkehrsverstößen muss sich darauf richten, das Verhalten der Kraftfahrer positiv zu beeinflussen. Das setzt aber voraus, dass auch der Kraftfahrer (und nicht der Halter, der den Verstoß nicht begangen hat) zur Verantwortung gezogen wird. Gegenstand der Verpflichtung der Behörden der Mitgliedstaaten muss daher auch (und vor allem) eine Ermittlung von Fahrern (anhand der Beweisfotos) aufgrund entsprechender Ersuchen der Behörden des Tatortstaates sein.
- 7. Dazu bedarf es bei ausländischen Betroffenen der Unterstützung der im Heimatstaat zuständigen Behörde und mithin entsprechender Regelungen im Richtlinienvorschlag. Hierzu sollten die inhaltlich nicht in Kraft getretenen Teile des Übereinkommens über die Zusammenarbeit in Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften und bei der Vollstreckung von dafür verhängten Geldbußen und Geldstrafen vom 28. April 1999, das zwischen den Schengen-Staaten vereinbart war und nur aus rechtsförmlichen Gründen nicht wirksam werden konnte, wieder aufgegriffen werden.
- 8. Das Erfordernis für die Festlegung eines europaeinheitlichen Deliktbescheids wird nicht gesehen. Denn der Bescheid könnte letztlich nur die verfahrensabschließenden Entscheidungen der jeweiligen nationalen Behörde wiedergeben. Dafür reicht schon der jeweilige nationale verfahrensabschließende Akt (Deutschland: Bußgeldbescheid), der auch europaweit zugestellt (vgl. Artikel 5 Absätze 1 und 3 EU-Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29. Mai 2000, BGBl. 2005 II 651) und nach den Grundsätzen des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI vollstreckt werden kann.
- 9. Wenn dennoch ein einheitliches Verfahrensschriftstück geschaffen werden sollte, dann müsste dieses auch als Anhörung wegen eines Verkehrsverstoßes verwendbar sein (Unterbreitung des Vorwurfs/Zeugenbefragung) und nicht zwingend die Festlegung der Geldbuße (die den in Deutschland in diesem Stadium nicht möglichen Verfahrensabschluss voraussetzt) beinhalten.
- 10. Artikel 5 des Richtlinienvorschlags steht nicht im Einklang mit dem Recht auf ein faires Verfahren, das in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten ist; denn eine grundsätzliche Halterhaftung ohne Beachtung des Opportunitätsprinzips kennt das deutsche Recht nicht.
- 11. Für die Realisierung des geplanten EU-weiten Halterdatenaustauschsystems sollte zwingend EUCARIS II genutzt werden. EUCARIS II beinhaltet bereits in einer aktuellen Version Funktionalitäten zum Austausch von Halterdaten. Eine komplette Neuentwicklung eines entsprechenden Datenaustauschsystems, wie nach dem Richtlinienvorschlag scheinbar vorgesehen, ist somit nicht erforderlich und dürfte nach hiesiger Einschätzung auch nicht innerhalb des nach der Richtlinie vorgesehenen Zweijahreszeitraums umsetzbar sein. Auch unter diesem Aspekt macht es Sinn, auf EUCARIS II aufzusetzen, zumal EUCARIS II mittlerweile in einem Großteil der EU-Mitgliedstaaten bereits im Einsatz ist bzw. sich in der Realisierung (u. a. im Zusammenhang mit der Umsetzung des Prümer Vertrags) befindet. Außerdem wäre eine Präzisierung dahingehend wünschenswert, dass der Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten jeweils über eine nationale zentrale Kopfstelle (analog der Bestimmungen des Artikels 12 des Prümer Vertrags) erfolgt. In Artikel 2 Buchstabe d wird als "zuständige Behörde" für den Informationsaustausch zwar die Behörde definiert, die für die nationale Datenbank für Fahrzeugzulassungsdokumente zuständig ist. Aufgrund der ggf. teilweise noch vorhandenen dezentralen Strukturen in den Mitgliedstaaten würde sich daraus aber nicht zwingend ableiten, dass der grenzüberschreitende Datenaustausch jeweils nur über eine zentrale Kopfstelle erfolgt. Zentrale Behörde für den Halterdatenaustausch wäre in Deutschland das KBA, das entsprechend zu benennen wäre. Die Frage, für welche Handlungen außerdem eine zentrale Behörde verantwortlich sein soll, wäre im Zuge der weiteren Verhandlungen zu klären.
B
- 12. Der Finanzausschuss empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.