836. Sitzung des Bundesrates am 21. September 2007
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS), der Ausschuss für Frauen und Jugend (FJ) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission und der Europäische Rat dem Thema "Flexicurity" im Rahmen der Lissabon-Strategie einen maßgeblichen Stellenwert zuweisen.
- 2. Unter Flexicurity versteht der Bundesrat dabei eine Politik, die auf einen Ausgleich zwischen Flexibilität und Sicherheit gerichtet ist und die nicht vorrangig den Schutz des einzelnen Arbeitsplatzes, wohl aber den jeder einzelnen Arbeitnehmerin und jedes einzelnen Arbeitnehmers in den Mittelpunkt stellt. Weitere wichtige Elemente des Flexicurity-Ansatzes sind die vier Komponenten, auf die sich die Kommission und die Mitgliedstaaten verständigt haben und mit denen sich Flexicurity-Maßnahmen konzipieren und umsetzen lassen: zuverlässige vertragliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Förderung des lebenslangen Lernens, wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und moderne Systeme der sozialen Sicherung.
- 3. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission in ihrer Mitteilung die unterschiedlichen Situationen in den einzelnen Mitgliedstaaten betont und hervorhebt, dass es bei dem Flexicurity-Ansatz nicht um ein allgemein verbindliches Arbeitsmarktmodell oder eine einzige Strategie geht. Der Bundesrat unterstützt den Ansatz der Kommission, dass die Mitgliedstaaten selbst über die notwendigen Maßnahmen entscheiden.
- 4. Der Bundesrat weist darauf hin, dass das mit der Mitteilung beabsichtigte Fernziel einer europäischen Kohärenz der Arbeitsmarktmodelle allerdings Gefahr läuft, in die Kernbereiche nationaler Gestaltung einzugreifen. Das könnte etwa dann der Fall sein, wenn als Ergebnis des Reformprozesses Regelungen herbeigeführt werden sollen, die etwa im Bereich des vertraglichen Arbeitsrechts und des Kündigungsschutzes ein europäisches Modell schaffen würden. Die EU besitzt hierfür nicht die erforderliche Regelungskompetenz. Die Lissabon-Strategie, auf die sich die Kommission beruft, stellt lediglich eine rechtlich unverbindliche Abstimmung nationaler Politiken zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten dar, ohne dass damit eine zusätzliche Kompetenz der EU auf diesem Politikfeld begründet würde. Auch die vorgesehene Einführung einer Berichtspflicht ist kritisch zu betrachten. Sie bedeutete für die Mitgliedstaaten eine faktische Rechtfertigungspflicht gegenüber der Kommission, falls die nationale Arbeitsmarktpolitik von den zu beschließenden Grundsätzen zum Flexicurity-Ansatz abweichen sollte. Darüber hinaus werden im Grundsatzkatalog auch die Tarifparteien im Arbeitsmarkt in das kohärente Arbeitsmarktmodell der EU mit einbezogen. Das aber verbietet sich bereits aus Verfassungsgründen, weil in Deutschland die Tarifautonomie verfassungsrechtlich geschützt ist und Bund und Länder bereits aus diesem Grund gehindert sind, für Deutschland eine Verpflichtung gegenüber der EU einzugehen, die auch die Tarifparteien mit einschließt. Deshalb sollte bereits jetzt darauf geachtet werden, dass jede rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten an die vorgeschlagenen Flexicurity-Grundsätze ausgeschlossen ist.
- 5. Der Bundesrat sieht eine am Flexicurity-Ansatz orientierte Politik jedoch als Chance sowohl für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten die Möglichkeit, ihre Arbeitsbiographie an die individuelle Lebenssituation anzupassen. Dabei hält der Bundesrat Flexicurity für ein adäquates Mittel, um die Übergangsphasen zu erleichtern sowie allgemein die Risiken flexibler Erwerbs- und Lebensformen abzufedern. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber profitieren nach Ansicht des Bundesrates von mobilen und flexiblen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie können schneller auf verschiedene Wirtschaftslagen reagieren und ihre Betriebe so im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig halten. Sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern kommen Maßnahmen flexibler Arbeitszeitgestaltung und Qualifizierung zugute.
- 6. Der Bundesrat betont ferner das Ziel, dass alle Jugendlichen zu Beginn des Arbeitslebens eine faire Chance auf Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten bekommen.
- 7. Der Bundesrat unterstützt die in den gemeinsamen Grundsätzen vorgeschlagene Förderung der Chancengleichheit (vgl. Abschnitt 5 Nummer 6 der Vorlage). Der Bundesrat erachtet es als notwendig, dass der Flexicurity-Ansatz Frauen wie Männern gleiche Entwicklungschancen bietet sowie die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienleben und die verstärkte Nutzung der Potenziale von Zugewanderten, älteren Beschäftigten und Menschen mit Behinderungen fördert.
- 8. Der Bundesrat weist darauf hin, dass im Rahmen der Flexicurity-Diskussion die betroffenen Politikbereiche verzahnt werden müssen, und fordert deshalb die Bundesregierung auf, bei den Arbeitsmarkt-, Sozialpolitik- und Arbeitsrechtsreformen die Flexicurity-Erfordernisse zu berücksichtigen.
- 9. Der Bundesrat regt an, im Kontext von Flexicurity von den praktischen Erfahrungen anderer Mitgliedstaaten auf dem Wege des Austausches von Good-Practice-Beispielen zu lernen. Hierin sieht er den Mehrwert der Diskussion zu diesem Thema auf europäischer Ebene.
- 10. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich bei zukünftigen Reformschritten stärker als bisher am Flexicurity-Ansatz zu orientieren und die Fortschritte bei der Umsetzung des Flexicurity-Ansatzes in den jährlichen Nationalen Reformprogrammen bzw. Fortschrittsberichten an exponierter Stelle darzulegen.
- 11. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Länder in die Weiterentwicklung und Umsetzung des Flexicurity-Ansatzes mit einzubeziehen.
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- 12. Der Wirtschaftsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.