Der Bundesrat hat in seiner 860. Sitzung am 10. Juli 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
1. Zu Frage 1:
Der Bundesrat spricht sich dafür aus, das in den Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vorgesehene Exequaturverfahren aus Gründen des Schuldnerschutzes jedenfalls so lange beizubehalten, wie alternative zuverlässige Rechtsschutzmöglichkeiten für den Schuldner nicht konkret zur Verfügung stehen. Denkbar wäre eine Abschaffung derzeit nur - wie bei der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (EuVTVO) - für Geldforderungen und nur für den Fall, dass diese von einer Gegenleistung nicht abhängig sind. Bei sonstigen Titeln kann das Problem bestehen, dass sie nach nationalem Verständnis nicht hinreichend bestimmt und damit nicht zur Vollstreckung geeignet sind. Darüber hinaus muss die Vollstreckbarerklärung untragbarer Entscheidungen (Ordrepublic-Verstoß) weiterhin versagt werden können.
Der mit der Durchführung des Exequaturverfahrens verbundene Kosten- und Zeitaufwand für den Gläubiger erscheint nicht unverhältnismäßig, zumal für den Fall der Abschaffung des Exequaturverfahrens - auch nach Auffassung der Kommission - Garantien zum Schutz des Schuldners installiert werden müssten. Jedenfalls müsste bei Abschaffung des Exequaturverfahrens die Gewährung rechtlichen Gehörs für den Beklagten bzw. Schuldner sichergestellt werden.
Zwingend wären daher vorzusehen:
- - Zustellformen, die möglichst ausschließen, dass der Beklagte sich nicht rechtzeitig und ordnungsgemäß verteidigen kann,
- - klare Belehrungen über die Formalien einer ordnungsgemäßen Verteidigung und über die Folgen einer Nichtbeachtung,
- - die ordnungsgemäße Unterrichtung des Beklagten über die Forderung (z.B. entsprechend Artikel 16 EuVTVO),
- - eine Möglichkeit für den Beklagten, im Falle einer Säumnisentscheidung unter bestimmten Voraussetzungen eine Überprüfung der Entscheidung vor dem Ausgangsgericht zu erlangen, gegebenenfalls verbunden mit der Möglichkeit, bis zur erneuten Entscheidung des Ausgangsgerichts im Vollstreckungsstaat eine Aussetzung oder Beschränkung der Zwangsvollstreckung zu erlangen (z.B. nur Sicherungsvollstreckung durch den Gläubiger oder Einstellung der Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung des Schuldners).
Darüber hinaus sollte das Exequaturverfahren ganz generell nur in Bereichen abgeschafft werden, in denen es vereinheitlichte Regelungen zum anwendbaren Recht gibt.
2. Zu Frage 2:
Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich eine Harmonisierung der Vorschriften über besondere Zuständigkeiten im Hinblick auf Rechtsstreitigkeiten, in denen der Beklagte in einem Drittstaat ansässig ist, als auch die Einführung gemeinsamer Regelungen über die Wirkung von in Drittstaaten ergangenen gerichtlichen Entscheidungen.
Die Verordnung sollte allerdings vorgeben, dass es, soweit das Recht des Drittstaats eine ausschließliche Zuständigkeit des dortigen Gerichts begründet, bei dieser Zuständigkeit verbleibt, und dass ein in dem Drittstaat anhängiges Verfahren einem weiteren Verfahren in einem Mitgliedstaat entgegensteht.
Darüber hinaus sollten Angehörige aus Drittstaaten in den Mitgliedstaaten verklagt werden können, wenn sie hier belegenes Vermögen haben und zwar insbesondere dann, wenn dieses Gegenstand des Rechtsstreits ist.
Bei einer ausschließlichen Zuständigkeit eines Gerichts des Drittstaats kommt eine Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung in der Gemeinschaft nicht in Betracht, wenn zwingendes Gemeinschaftsrecht entgegensteht oder die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats gegeben ist. Eine Regelung der Auswirkungen etwaiger Verstöße gegen zwingendes Gemeinschaftsrecht oder gegen eine ausschließliche Zuständigkeit dürfte freilich in den Fällen einer Regelungskompetenz durch Gemeinschaftsrecht entzogen sein, in denen es völkerrechtliche Verträge zwischen dem Dritt- und dem Vollstreckungsstaat gibt. Darüber hinaus kann bei Entscheidungen aus Drittstaaten auf eine Ordrepublic-Kontrolle ebenso wenig verzichtet werden, wie auf eine Überprüfung der Zuständigkeit des ausländischen Gerichts etwa nach Maßgabe des Grundgedankens von § 328 Absatz 1 Nummer 1 ZPO. Von grundlegender Bedeutung bei Entscheidungen aus Drittstaaten ist schließlich die Verbürgung der Gegenseitigkeit (vgl. § 328 Absatz 1 Nummer 5 ZPO).
3. Zu Frage 3:
Der Bundesrat hält eine Änderung der Konzeption des Artikels 27 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 zur Erhöhung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen in der Gemeinschaft aus Gründen der Rechtssicherheit nicht für geboten. Das Bestreben, die Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen zu erhöhen, rechtfertigt weder die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen in Parallelverfahren noch eine Umkehrung der Rechtshängigkeitsregel. Diese würde dazu führen, dass ein angerufenes - nach den allgemeinen Regelungen zuständiges, nach der Gerichtsstandsvereinbarung jedoch unzuständiges - Gericht stets damit rechnen müsste, das Verfahren - nach Anrufung des in der Gerichtsstandsvereinbarung bezeichneten Gerichts - aussetzen zu müssen. Im Ergebnis wäre dieses Gericht daran gehindert, die Gültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung selbstständig zu prüfen und sich für zuständig zu erklären.
Der Kläger hätte es in der Hand, durch nachträgliche Anrufung des in der Gerichtsstandsvereinbarung bezeichneten Gerichts dem nach den allgemeinen Regelungen zuständigen Gericht das Verfahren zu entziehen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Möglichkeit einer engeren Absprache und Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Beibehaltung der Rechtshängigkeitsregel des Artikels 27 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 zur Erhöhung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen geeignet. Zu bedenken ist allerdings der durch die notwendigen Übersetzungen von Schriftstücken verursachte erhöhte Aufwand, der in Einzelfällen eine Verzögerung der Verfahren zur Folge haben könnte.
Die Verordnung (EG) Nr. 044/2001 räumt ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen allerdings nur eine relativ schwache Stellung ein. Denn selbst das in einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung genannte Gericht hat den Rechtsstreit auszusetzen, wenn zuvor ein Gericht in einem anderen Mitgliedstaat angerufen worden ist (vgl. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001). Vor diesem Hintergrund könnte erwogen werden, ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen dadurch zu "stärken", dass sich der Sache nach zunächst immer das in der Vereinbarung genannte Gericht des Rechtsstreits annehmen muss.
Der Bundesrat hält die Vorgabe einer europaweiten Standardklausel für Gerichtsstandsvereinbarungen für geeignet, die Feststellung ihrer Wirksamkeit - und damit der Zuständigkeit des jeweils angerufenen Gerichts - zu beschleunigen.
4. Zu Frage 4:
Der Bundesrat erinnert an die Bedeutung des Patentrechts und der Patentgerichtsbarkeit gerade für Deutschland, wo über die Hälfte aller Patentstreitverfahren in Europa geführt wird. Er erinnert weiter daran, dass nach der Ratifizierung des Londoner Sprachenabkommens durch Frankreich dieses am 1. Mai 2008 in Kraft getreten ist und zu einer deutlichen Verbilligung der Europäischen Bündelpatente führen wird. Insgesamt steht bereits jetzt der europäischen Wirtschaft ein funktionsfähiges Patentrechtsregime durch Gerichte in den Mitgliedstaaten zur Verfügung.
Gleichwohl begrüßt der Bundesrat die aktuelle Diskussion um ein europäisches Patentsystem. Ein effektives, kostengünstiges und rechtssicheres Gemeinschaftspatentsystem und eine europaweite Patentgerichtsbarkeit dienen grundsätzlich der Integration des Binnenmarkts und können zu einer Verringerung der Kosten für Patentanmeldung und einer höheren Rechtssicherheit beitragen. Der Bundesrat verweist hierbei auf seine Stellungnahme vom 15. Februar 2008 - BR-Drucksache 026/08(B) - zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Vorschlag für ein Lissabon-Programm der Gemeinschaft 2008 bis 2010 (KOM (2007) 804 endg.; Ratsdok. 16752/07), auf seine Stellungnahme vom 11. Mai 2007 - BR-Drucksache 244/07(B) - zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat vom 3. April 2007: Vertiefung des Patentsystems in Europa (KOM (2007) 165 endg.; Ratsdok. 8302/07) und auf seine Entschließung vom 7. April 2006 zu einem Gemeinschaftspatentsystem in Europa - BR-Drucksache 209/06(B) .
Bei jeder Änderung des Gerichtssystems ist es aus Sicht des Bundesrates nach wie vor unerlässlich, dass dezentrale Kammern in den Mitgliedstaaten eingerichtet werden können und für den Kläger die Möglichkeit besteht, das Gericht des Verletzungsorts anzurufen, wie es auch die Verordnung (EG) Nr. 044/2001 vorsieht. Die Zuständigkeitsverteilung zwischen der zentralen Kammer und den dezentralen Kammern darf die Kompetenzen der dezentralen Kammern nicht unnötig einschränken. Entscheidend für die Einrichtung und die Zahl von dezentralen Kammern in den Mitgliedstaaten muss die Zahl der in den jeweiligen Staaten geführten Patentrechtsstreitigkeiten sein. Dabei muss auch sichergestellt werden, dass die etablierten deutschen Patentgerichte mit ihrer international anerkannten großen Erfahrung in das System einbezogen werden können. Der Bundesrat hält es weiterhin für unerlässlich, dass Deutschland von Anfang an eine dem hohen Fallaufkommen entsprechende Zahl von dezentralen Kammern erhält.
5. Zu Frage 5:
Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich eine Koordinierung. Bislang fehlen zuverlässige Erkenntnisse zu Parallelverfahren in anderen Mitgliedstaaten. Hilfreich könnte hier ein mehrsprachiges Formular für die Anfrage an die Gerichte eines anderen Staates sein, in das nur wenige Angaben (Parteibezeichnungen, Verfahrensgegenstand) aufgenommen werden sollten.
Die Aufnahme einer Regelung zur Verbindung von Verfahren, die durch und/oder gegen mehrere Parteien angestrengt werden, in die Verordnung (EG) Nr. 044/2001 hält der Bundesrat nicht für geboten. Derzeit überwiegen noch die Interessen der Beklagten, vor den Gerichten und nach dem Recht ihres Heimatstaats verklagt zu werden, die Vorteile der Verbindung von Verfahren gegen mehrere Beklagte aus verschiedenen Mitgliedstaaten. Im Übrigen käme eine Verfahrensverbindung, die sich über bestehende Zuständigkeitsregeln hinwegsetzen würde, nur mit Zustimmung der Parteien in Betracht.
Einen Sonderfall von parallelen Verfahren betrifft die Identität des Streitgegenstands. Statt einer Koordinierung der Verfahren schlägt der Bundesrat vor, die Verordnung (EG) Nr. 044/2001 derart zu ändern, dass in diesen Sachverhalten keine Identität des Streitgegenstands besteht. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg hat die Verordnung (EG) Nr. 044/2001 dahingehend ausgelegt, dass bei einer negativen Feststellungsklage und einer danach erhobenen Leistungsklage Identität des Streitgegenstands vorliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Dezember 1999, Rs. C 406/92, Slg. 1994, I 5439 < 5474 >). Ein säumiger Schuldner kann daher mit einer im Ausland erhobenen negativen Feststellungsklage eine später im Inland eingereichte Leistungsklage "blockieren" - Artikel 27 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001. Dies kann die Durchsetzung vertraglicher Forderungen insbesondere dann erheblich erschweren, wenn über die negative Feststellungsklage nicht zeitnah entschieden wird.
Wie europäische Sammelklagen unter den Gesichtspunkten der gerichtlichen Zuständigkeit und der Verfahrensverbindung zu behandeln sein könnten, setzt zunächst die Beantwortung der Frage voraus, ob, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form die Einführung kollektiver Rechtsschutzinstrumente auf europäischer Ebene überhaupt in Betracht kommt. Hierzu verweist das Grünbuch (unter Nummer 8.2) zu Recht auf die Überlegungen der Kommission im Kartellrecht und im Verbraucherrecht, die noch nicht als abgeschlossen gelten können.
6. Zu Frage 6:
Eine Änderung der Verteilung der Zuständigkeiten für von einem nicht in der Sache zuständigen Gericht anzuordnende einstweilige Maßnahmen erachtet der Bundesrat nicht als erforderlich. Sie begegnet vielmehr rechtlichen Bedenken. So wäre die Umsetzung der Überlegung, einem Mitgliedstaat, dessen Gericht in der Hauptsache zuständig ist, das Recht einzuräumen, eine einstweilige Maßnahme, die vor einem nach Artikel 31 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats angeordnet wurde, aufzuheben, zu ändern oder anzupassen, als Eingriff eines Mitgliedstaats in die Hoheitsrechte eines anderen Mitgliedstaats anzusehen und widerspräche damit der bestehenden Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten bzw. zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.
7. Zu Frage 7:
Der Bundesrat hält es für sachgerecht vorzugeben, dass die Zuständigkeit für Entscheidungen in Streitfällen über das Bestehen, die Gültigkeit und den Geltungsbereich einer Schiedsvereinbarung bei den Gerichten des Mitgliedstaats liegt, in dem das Schiedsverfahren vereinbarungsgemäß stattfinden soll (vgl. zur Problematik auch EuGH, Urteil vom 10. Februar 2009 - C-185/07 - NJW 2009, 1655). Zudem sollte die Frage der materiellen Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung nach dem Recht des für das Schiedsverfahren vorgesehenen Landes beurteilt werden, um unterschiedliche Entscheidungen in den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Steht verbindlich fest, ob ein Schieds- oder ordentliches Gericht zu entscheiden hat, werden "Doppelentscheidungen" in jedem Fall verhindert.
8. Zu Frage 8:
Der Bundesrat geht davon aus, dass die unter "Sonstiges" angesprochenen Vorschläge im Wesentlichen geeignet sind, die Verordnung zu verbessern. Der Ausschluss der Unterhaltssachen ist wegen der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates am 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (Abl. L7 vom 10. Januar 2009, S. 1) konsequent. Insbesondere würde der Bundesrat die Einführung eines einheitlichen, in allen EG-Amtssprachen verfügbaren Formulars begrüßen, das den maßgeblichen Teil des Urteils in einer den für die Vollstreckung zu fordernden deutschen Bestimmtheitsanforderungen genügenden Form enthält. Dies empfiehlt sich auch vor dem Hintergrund, dass in der gerichtlichen Praxis bei Beantragung einer Vollstreckbarerklärung mitunter Ausfertigungen von Entscheidungen vorlegt werden, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen nach Artikel 53 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 nicht erfüllen. Weiter ist wiederholt festzustellen, dass Zinsentscheidungen der Gerichte anderer Mitgliedstaaten nicht ausreichend nachvollziehbar - und damit nicht hinreichend bestimmt sind. Zum Thema Sammelklagen wird auf die Ausführungen zu Frage 5 Bezug genommen.
9. Direktzuleitung der Stellungnahme
Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.