Der Bundesrat hat in seiner 871. Sitzung am 4. Juni 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat hält das mit der Initiative verfolgte grundsätzliche Anliegen, die Förderung einer effizienten strafrechtlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU, für wichtig.
- 2. Der Bundesrat unterstützt weiterhin den Ansatz, diese Fragen in einem einheitlichen Rechtsinstrument zu regeln.
- 3. Die Einschätzung, dass "der bestehende Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln zu kompliziert und daher ein neuer Ansatz erforderlich" sei, wird jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht geteilt. Die Umsetzungsfrist für den Rahmenbeschluss 2008/978/JI vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (ABl. L 350 vom 30. Dezember 2008, Seite 72) endet erst am 19. Januar 2011. Somit liegen kaum Erfahrungen mit dem praktischen Vollzug des Rahmenbeschlusses vor.
- 4. Vor Einführung eines neuen umfassenden Rechtsinstruments zur grenzüberschreitenden strafrechtlichen Beweisgewinnung sollte der Bedarf für ein solches Rechtsinstrument im Hinblick auf den Rahmenbeschluss 2008/978/JI zur Europäischen Beweisanordnung, der - wie oben erwähnt - bis Januar 2011 umzusetzen ist, gründlich geprüft und geklärt werden, ob es einen Mehrwert gegenüber den traditionellen Instrumenten der Rechtshilfe bringt.
- 5. Bevor ein weiteres EU-Instrument geschaffen wird, ist aus Sicht des Bundesrates insbesondere sorgfältig zu prüfen, wo die Defizite der Rahmenbeschlüsse 2003/577/JI und 2008/978/JI bei der Beweisgewinnung liegen.
- 6. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auf das am 10./11. Dezember 2009 beschlossene Stockholmer Programm. Dort wird betont, dass in den nächsten Jahren der Implementierung, Durchsetzung und Evaluierung der bestehenden Instrumente Europäischer Zusammenarbeit im Strafrechtsbereich besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Diese Arbeitsphase muss eingeleitet und abgeschlossen werden, bevor über neue Rechtsinstrumente nachgedacht wird. Nur so lässt sich nach Auffassung des Bundesrates sicherstellen, dass die immer enger werdende strafrechtliche Zusammenarbeit auch künftig praxisgerecht und effektiv ausgestaltet ist und zugleich hohe rechtsstaatliche Standards einhält.
- 7. Der Bundesrat erachtet es zudem als befremdlich, dass die Initiative einheitliche Regelungen für die Erlangung von Beweismitteln vorschlägt, ohne auf die Ergebnisse der Befragung einzugehen, welche mit dem Grünbuch zur Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat von der Kommission mittels eines Fragebogens zum gleichen Thema vorgelegt wurde.
- 8. Der Bundesrat hält eine weitere Ausdehnung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung (jedenfalls) zurzeit nicht für sachgerecht. Für eine Ausdehnung dieses Prinzips auf den nahezu gesamten - sehr komplexen - Bereich der grenzüberschreitenden Beweisgewinnung ist die Zeit noch nicht reif. Die Mitgliedstaaten verfügen noch nicht über einheitliche Mindeststandards für Beschuldigte oder Drittbetroffene. Ohne solche Mindeststandards droht, dass die Ausdehnung der gegenseitigen Anerkennung das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigt.
- 9. Vorhandene Instrumente wie die Rechtshilfe sind dabei im Allgemeinen nicht rechtlich unzulänglich, sondern scheitern in der Praxis gelegentlich an der fehlenden Bereitschaft einzelner Staaten zur zügigen Bearbeitung entsprechender Ersuchen.
- 10. Eine grundsätzliche Pflicht zur Anerkennung ausländischer Beweisanordnungen ist derzeit aus Sicht des Bundesrates nicht akzeptabel. Voraussetzung für einen solchen Schritt wäre, dass die Anforderungen an die Beweiserhebung und die dafür statuierten Voraussetzungen in den nationalen Verfahrensvorschriften der Mitgliedstaaten vergleichbar sind. Dies ist indes bislang nicht der Fall. Die auf unterschiedlichen Rechtstraditionen beruhenden nationalen Strafverfahrensordnungen weisen erhebliche Unterschiede auf, die nicht - auch nicht mittelbar über Rechtsinstrumente der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - eingeebnet werden können. Denn die Kompetenzen der EU zum Erlass von Richtlinien für das Strafverfahrensrecht, insbesondere für die Zulässigkeit von Beweismitteln, beschränken sich auf Mindestvorschriften (Artikel 82 Absatz 2 AEUV).
- 11. In Artikel 1 Absatz 1 des Vorschlags wird die Europäische Ermittlungsanordnung ausdrücklich als zu erlassende "gerichtliche Entscheidung" definiert. In derselben Regelung sowie in Artikel 2 Buchstabe a und Artikel 28 Absatz 1 Buchstabe a werden jedoch auch Staatsanwälte, zuständige Behörden und vom Anordnungsstaat zu bezeichnende Justizbehörden als anordnungsbefugt angesehen. Dieser Widerspruch bedarf der Aufklärung.
- 12. Der Bundesrat weist mit Nachdruck darauf hin, dass durch europäische Rechtsinstrumente nicht die Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsregeln des ersuchten Staates unterlaufen werden dürfen. Er wendet sich daher gegen eine Verpflichtung zur Anerkennung und Ausführung von in Mitgliedstaaten erlassenen Beweisanordnungen, deren Erlass und Vollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht zulässig wären.
Der in Artikel 10 des Vorschlags enthaltene Katalog der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnung ist zu eng. Aus Sicht des Bundesrates bedarf es unabdingbar eines allgemeinen Versagungsgrundes, damit keine Verpflichtung zur Anerkennung und Ausführung von Beweisanordnungen statuiert wird, deren Erlass und Vollstreckung nach dem nationalen Recht nicht zulässig wären.
Beispielhaft ist auf die in Artikel 4 Buchstabe d vorausgesetzte, in Deutschland jedoch nicht zulässige Bestrafung juristischer Personen, auf Beweisverwertungsverbote (§ 100a Absatz 4 Satz 1, § 100c Absatz 4, § 160a StPO) und auf Beschlagnahmeverbote (§ 97 StPO) zu verweisen. Gerade die Beweiserhebungsverbote konkretisieren häufig den Schutz von Grundrechten aus der Verfassung. Ihnen muss auch bei Maßnahmen der Rechtshilfe Rechnung getragen werden. Die Regelungen in Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a und Artikel 27 Absatz 1 tragen den genannten Verboten nicht hinreichend Rechnung. Es erscheint durch die Versagungsgründe auch nicht hinreichend sichergestellt, dass der Vollstreckungsstaat Maßnahmen, die nach nationalem Recht einem - verfassungsrechtlich fundierten - generellen Richtervorbehalt unterliegen, wie etwa Wohnungsdurchsuchungen ( § 105 StPO, Artikel 13 GG), ablehnen kann, wenn eine richterliche Anordnung fehlt. Auch insoweit muss der Grundrechtsschutz gewährleistet bleiben.