Der Bundesrat hat in seiner 861. Sitzung am 18. September 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
I.
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission ihre Überlegungen für das nächste Mehrjahresprogramm im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorgelegt hat, das nach Ablauf des "Haager Programms 2004 bis 2009" im Dezember vom Europäischen Rat voraussichtlich als "Stockholmer Programm" für die kommenden fünf Jahre beschlossen werden soll.
- 2. Er unterstützt das Anliegen, die Harmonisierung auf europäischer Ebene in den nächsten fünf Jahren fortzusetzen. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bzw. des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit muss dabei jedoch gewahrt bleiben.
II.
- 3. Der Bundesrat nimmt die Ausführungen zum Katastrophenschutz (Nummer 2.6 Ausbau des Zivilschutzes) zum Anlass, noch einmal auf die begrenzten Gemeinschaftskompetenzen im Bereich des Katastrophenschutzes sowie die
- 4. Eine Weiterentwicklung des Gemeinschaftsverfahrens im Bereich der Reaktion ist zurzeit nicht erforderlich, eine Inanspruchnahme aller Möglichkeiten des Verfahrens in seiner aktuellen Fassung ist bislang noch nicht erfolgt. Es sollten zunächst Erfahrungen mit dem bestehenden Verfahren gesammelt und evaluiert werden, bevor eine neue Änderung des Verfahrens oder weitergehende Initiativen im reaktiven Bereich in Betracht gezogen werden.
- 5. Die positiven Ansätze der Präventionsmitteilung (KOM (2009) 82 endg.) werden mit der Erwähnung der Risikoanalyse nur unzureichend aufgegriffen. Es sollten primär die Entwicklung von Leitlinien und Mindeststandards, insbesondere für die Bedürfnisse der regelmäßig von gleichartigen Katastrophen betroffenen Mitgliedstaaten, sowie ein Mechanismus zur gegenseitigen Begutachtung bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen vorangetrieben werden.
- 6. Der Bundesrat spricht sich für eine schrittweise Vereinheitlichung der Sicherheitsstandards bei zentralen kritischen Infrastrukturen aus. Allerdings wird im Anhang zur Mitteilung schon jetzt die Ausweitung des Programms zum Schutz kritischer Infrastrukturen gefordert. Damit wird das Ergebnis der gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2008/114/EG erst ab Januar 2012 einzuleitenden Evaluierung bereits vorweggenommen. Dies könnte das Vertrauen in die Objektivität und Ergebnisoffenheit der Evaluierung beeinträchtigen.
III.
- 7. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission einer Weiterentwicklung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Zivilrecht und im Strafrecht wesentliche Bedeutung beimisst. Er begrüßt, dass dabei auch die Wahrung der nationalen Rechtstraditionen betont wird.
- 8. Bedenken hat der Bundesrat jedoch hinsichtlich der in diesem Zusammenhang geforderten Abschaffung des Exequaturverfahrens im Zivilrecht. Er bekräftigt insoweit die in seiner Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission zur Überprüfung der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vertretene Auffassung - vgl. Stellungnahme vom 10. Juli 2009, BR-Drucksache 440/09(B) -. Über die von der Kommission erwähnte vorherige Harmonisierung der Kollisionsnormen hinaus muss das Exequaturverfahren für Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aus Gründen des Schuldnerschutzes jedenfalls so lange beibehalten werden, wie alternative zuverlässige Rechtsschutzmöglichkeiten für den Schuldner nicht konkret zur Verfügung stehen. Denkbar wäre eine Abschaffung derzeit nur - wie bei der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (EuVTVO, ABl. L 143 vom 30. April 2004, Seite 15) - für Geldforderungen und nur für den Fall, dass diese nicht von einer Gegenleistung abhängig sind. Bei sonstigen Titeln kann das Problem bestehen, dass sie nach nationalem Verständnis nicht hinreichend bestimmt und damit nicht zur Vollstreckung geeignet sind. Darüber hinaus muss die Vollstreckbarerklärung untragbarer Entscheidungen (ordre public-Verstoß) weiterhin versagt werden können.
Der Bundesrat gibt weiter zu bedenken, dass der mit der Durchführung des Exequaturverfahrens verbundene Kosten- und Zeitaufwand für den Gläubiger nicht unverhältnismäßig erscheint, zumal für den Fall der Abschaffung des Exequaturverfahrens - auch nach Auffassung der Kommission - auf der anderen Seite Garantien zum Schutz des Schuldners installiert und jedenfalls die Gewährung rechtlichen Gehörs für den Beklagten bzw. Schuldner sichergestellt werden müssten.
- 9. Der Bundesrat steht einer Ausweitung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung auf die Bereiche des Erb- und Testamentsrechts, des Ehegüterrechts und die vermögensrechtlichen Folgen einer Trennung grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, soweit sich dies vor allem auf die Einführung einheitlicher Kollisionsnormen und Regelungen zur gerichtlichen Zuständigkeit sowie die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen beschränkt. Im Bereich des Erbrechts kommt auch ein europäischer Erbschein für grenzüberschreitende Sachverhalte in Betracht. Eine Vereinheitlichung des
- 10. Auch die Einführung von Mindestnormen zu bestimmten Aspekten des Zivilverfahrens, die mit dem Erfordernis der Schaffung gegenseitigen Vertrauens vor einer gegenseitigen Anerkennung zusammenhängen, wird vom Bundesrat grundsätzlich unterstützt. Es muss dabei jedoch gewährleistet sein, dass die grundlegenden Prinzipien der mitgliedstaatlichen Prozessordnungen unangetastet bleiben. Dies gilt auch für die Einführung verfahrensrechtlicher Mindestnormen im Bereich von Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen.
- 11. Der Bundesrat hat gegen die Erwägungen, die Legalisation öffentlicher Urkunden im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten vollständig aufzuheben und gegebenenfalls eine europäische öffentliche Urkunde einzuführen, nur unter den folgenden Voraussetzungen keine Bedenken:
Zunächst müssten die inhaltlichen Fragen, insbesondere die Frage des anwendbaren Rechts, geklärt werden, da über die Wirksamkeit und rechtliche Bedeutung des Urkundsinhalts auch künftig allein die differenzierten Regelungen des Internationalen Privatrechts entscheiden dürfen. Die öffentlichen Urkunden der Mitgliedstaaten müssen über eine gesicherte, dem derzeitigen Niveau deutscher öffentlicher Urkunden vergleichbare, hohe Qualität verfügen. Zudem muss eine Kompetenz der EU für eine umfassende Regelung zur Legalisation bzw. zu Apostillen gegeben sein, zumal es öffentliche Urkunden verschiedenster Art gibt. Bei Urkunden, für die inhaltlich keine Kompetenz besteht, dürften sich auch Regelungen über die Abschaffung von Legalisation und Apostille als problematisch darstellen. Weiter muss die Einführung einer europäischen öffentlichen Urkunde auch aus dem Blickwinkel des Bürgers von Vorteil sein. Insbesondere ist es aus Gründen der Rechtssicherheit wichtig, dass für den Anwender leicht erkennbar ist, ob es sich bei dem Schriftstück um eine öffentliche Urkunde handelt, die ohne weitere Formalitäten EU-weit Verwendung finden kann. Nicht zuletzt muss auch der Harmonisierungsaufwand für eine europäische öffentliche Urkunde verhältnismäßig sein. Öffentliche Urkunden werden zwar immer häufiger grenzüberschreitend benötigt, im Hinblick auf die sehr hohe Zahl an öffentlichen Urkunden sind die grenzüberschreitenden Fälle jedoch nach wie vor die Minderheit.
- 12. Zu dem unter Nummer 2.1 (Uneingeschränkte Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit) angesprochenen Bereich des Personenstandswesens weist der Bundesrat auf Folgendes hin:
- 13. Für die beabsichtigte Einführung eines Verfahrens zur Beschaffung von Personenstandsurkunden ist eine sachliche Notwendigkeit nicht zu erkennen. Außerdem ist unklar, was konkret mit dem Beschaffungs"verfahren" gemeint ist. Soweit es darum geht, auch im EU-Ausland lebenden Bürgern und Bürgerinnen "ohne großen Aufwand und zusätzliche Kosten" die Beschaffung der "wichtigsten Personenstandsurkunden" zu ermöglichen, kann ggf. eine Änderung der nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten und nicht die Einführung eines neuen EU-weiten Verfahrens angezeigt sein. Anderenfalls würden durch ein - evtl. elektronisches - Verfahren u. U. erhebliche zusätzliche Aufwände geschaffen, die Zielsetzung aber wegen unterschiedlicher Rechtsregeln unerreicht bleiben. Außerdem muss die Gefahr einer Inländerdiskriminierung in Bezug auf die Kosten oder die sonstigen Anforderungen an die Urkundenbeschaffung möglichst ausgeschlossen werden.
- 14. Die "Gewährleistung der Beweiskraft der Urkunden" hängt ebenfalls nicht von einem etwaigen EU-weiten Verfahren, sondern zunächst von der Sicherheit und Verlässlichkeit der in der EU bestehenden Personenstandswesen ab.
- 15. Der langfristig angedachte ausführliche Gedankenaustausch über die gegenseitige Anerkennung der Wirkungen von Personenstandsurkunden wird vom Bundesrat mit der Maßgabe begrüßt, dass eine solche Anerkennung jedenfalls zunächst einheitliche Vorschriften zum anwendbaren Recht voraussetzen würde. Darüber hinaus muss auch der Umgang mit den der Urkunde zugrunde liegenden inhaltlichen Fragen, wie z.B. der Ehemündigkeit, erörtert werden.
- 17. Eher kritisch beurteilt der Bundesrat insbesondere die geplante Bereitstellung von Musterverträgen. Dabei wäre jedenfalls darauf zu achten, dass diesen allenfalls optionaler Charakter zukommt und deren Ausgestaltung lediglich im Sinne einer "tool box" erfolgen sollte. Grenzen wären solchen Musterverträgen im Übrigen vor allem durch die zwingenden Vorschriften der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen gesetzt, wie insbesondere im Bereich des zwingenden Schuldrechts und des Sachenrechts. Ob die in solchen Musterverträgen enthaltenen Regelungen daher auch vollumfänglich den Inhaltskontrollen in allen Mitgliedstaaten standhalten würden, dürfte sich kaum mit hinreichender Sicherheit feststellen lassen. Für die Verwender dieser Musterverträge bliebe daher stets ein erhebliches Risiko. Fraglich ist auch, ob solche Musterverträge tatsächlich zu spürbaren Erleichterungen führen würden, da in den meisten Fällen Anpassungen an den individuellen Sachverhalt und damit doch wieder eine entsprechende Rechtsberatung notwendig sein dürften.
- 19. Der Bundesrat sieht eine "Regelung des Gesellschaftsrechts" auf europäischer Ebene ebenfalls eher kritisch. Dies gilt vor allem, soweit das materielle Gesellschaftsrecht und nationale Schutz- und Kontrollmechanismen betroffen sind. Wie auch einzelne Vorschläge zur Europäischen Privatgesellschaft zeigen, können sich hier deutliche Verschlechterungen gegenüber dem deutschen Schutzniveau ergeben. Diese Auswirkungen wären auch bei der von der Kommission geforderten Festlegung gemeinsamer Kollisionsnormen im Bereich des Gesellschaftsrechts zu berücksichtigen.
- 20. Der Bundesrat begrüßt hingegen die geforderte Stärkung der Rechtsstellung der Gläubiger durch schnelle Verfahren und effiziente Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen. Beides dürfte allerdings in Deutschland vorbildlich sein. So hat die Kommission mit dem Grünbuch "Transparenz des Schuldnervermögens" vom 6. März 2008 Anregungen zum Vollstreckungsrecht aufgegriffen, die in Deutschland durch die Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung bereits Gesetz geworden sind.
- 21. Entsprechendes gilt nach Ansicht des Bundesrates für das Ziel eines ungehinderten Zugangs zur Justiz. Auch dieses ist uneingeschränkt zu unterstützen. Für in Deutschland ansässige EU-Bürger und -Bürgerinnen sind allerdings auch insoweit Defizite nicht erkennbar: Die Verfahren vor deutschen Zivilgerichten werden in angemessener Zeit abgeschlossen; auch die Verfügbarkeit von Prozesskostenhilfe sowie die grenzüberschreitende Rechtsverfolgung lassen keine strukturellen Mängel erkennen. In Deutschland besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten zur alternativen Streitbeilegung. Zudem fördert das Verfahrensrecht diese auch in laufenden Verfahren. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass sich für deutsche Bürger und Bürgerinnen künftig insofern Vorteile ergeben können, wenn die Regelungen anderer Mitgliedstaaten dem auf nationaler Ebene bereits erreichten Niveau angepasst werden. Daher sollten Maßnahmen zur Förderung eines ungehinderten Zugangs zur Justiz sich darauf konzentrieren, Schwierigkeiten in grenzüberschreitenden Verfahren zu beseitigen.
- 23. Festzustellen ist insofern allerdings, dass wesentliche einheitliche Strukturvoraussetzungen für eine verbindliche grenzüberschreitende elektronische Kommunikation in gerichtlichen Verfahren noch nicht geschaffen sind. Dabei sind allen voran die Verständigung auf ein einheitliches Kommunikationsverfahren sowie die grenzüberschreitende Implementierung kompatibler digitaler Signaturen zu nennen. Die Überlegungen der Kommission zum Aufbau eines interoperablen elektronischen Identitätsmanagements (D.I.M.- Distributed Identity Management) sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus ist zur Zeit weder geklärt noch überhaupt thematisiert, ob der im Bereich der deutschen Justiz verwendete OSCI-Standard, mit dem z.B. in allen deutschen Ländern seit 1. Januar 2007 der elektronische Rechtsverkehr mit den Registergerichten sicher und vertraulich abgewickelt wird, als europäischer Standard in Betracht kommt. Im Bereich der qualifizierten digitalen Signatur muss zunächst der Aktionsplan zur Behebung der im Rahmen der sogenannten "Signaturrichtlinie" aufgetretenen Probleme zeitnah und konsequent unter Mitwirkung der Wirtschaft (z.B. Trustcenter) umgesetzt werden.
- 24. Im Rahmen einer Erleichterung des Zugangs zur Justiz begrüßt der Bundesrat auch die beabsichtigte Vernetzung der Dolmetscher-Übersetzer-Datenbanken. Ob die Erbringung von Dolmetschleistungen per Videokonferenz im Bereich der Justiz sinnvoll ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab.
- 25. Der Einsatz von Videoanlagen in Verfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen ist geeignet, zu deren Vereinfachung und Beschleunigung beizutragen. Ein koordinierter Einsatz kann jedoch insoweit an Grenzen stoßen, als die Verwendung in gerichtlichen Verfahren auf der Seite des ersuchenden Gerichts vor allem der richterlichen Entscheidung unterliegt.
- 26. Im Bereich des Strafrechts weist der Bundesrat darauf hin, dass die Ausführungen im Stockholmer Programm zur Fortführung der Angleichung materiellen Strafrechts jedenfalls nicht über die Regelungen im Vertrag von Lissabon Eine besondere Notwendigkeit, wie sie Artikel 83 Absatz 1 AEUV voraussetzt, liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die Organe der EU einen entsprechenden politischen Willen gebildet haben. Die allgemeine Ermächtigung zur Festlegung von Straftaten und Strafen ist vielmehr begrenzend auszulegen. Der Katalog des Artikels 83 Absatz 1 Unterabsatz 2 AEUV macht deutlich, dass es sich um typischerweise grenzüberschreitende schwere Kriminalitätsbereiche handelt, für die Mindestvorschriften festgelegt werden dürfen. Diese müssen den Mitgliedstaaten substantielle Ausgestaltungsspielräume belassen. Die demokratische Selbstbestimmung ist in einer besonders empfindlichen Weise berührt, wenn die nationale Rechtsgemeinschaft gehindert wird, über die Strafbarkeit von Verhaltensweisen und gar die Verhängung von Freiheitsstrafen nach Maßgabe eigener Wertvorstellungen zu entscheiden. Das gilt umso mehr, je enger diese Wertvorstellungen mit historischen Erfahrungen, Glaubenstraditionen und anderen für das Selbstgefühl der Menschen und ihrer Gemeinschaft wesentlichen Faktoren verknüpft sind.
- 27. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission hinsichtlich der Festlegung gemeinsamer Straftatbestände und Sanktionen in anderen Bereichen der EU-Politik auf die vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Voraussetzungen verweist. Von diesen geht auch Artikel 83 Absatz 2 AEUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon aus. Danach können Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen in harmonisierten Politikbereichen nur festgelegt werden, wenn sich dies für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, als unerlässlich erweist. Dies setzt voraus, dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann.
- 29. Jedenfalls sieht der Bundesrat keinen Bedarf für die Einführung strafrechtlicher Sanktionen für juristische Personen. Das bestehende Instrumentarium des deutschen Rechts reicht nach Auffassung des Bundesrates aus. So kann im Ordnungswidrigkeitenrecht nach §§ 30, 130 OWiG eine Geldbuße gegen ein Unternehmen verhängt werden, ohne dass ein namentlich bekannter Individualtäter ermittelt werden muss. Eine Strafbarkeit von juristischen Personen wirft erhebliche Bedenken hinsichtlich des Schuldprinzips auf. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Schuldfähigkeit von Personenverbänden als auch hinsichtlich der Betroffenheit von bloßen Anteilseignern, die keinen Einfluss auf die Geschäftsführung des Unternehmens haben. Unklar bleibt im Übrigen auch, worin der Nutzen eines europäischen Netzes der Vermögensabschöpfungsstellen bestehen soll.
- 30. Der Bundesrat kann die Ausführungen der Kommission zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen jedenfalls in der in der Mitteilung enthaltenen Allgemeinheit nicht unterstützen. Ein Rahmenbeschluss des Rates über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bei Geldstrafen und Geldbußen (Rahmenbeschluss 2005/214/JI vom 24. Februar 2005, ABl. L 76 vom 22. März 2005, Seite 16) existiert bereits. Aus der Mitteilung wird nicht hinreichend deutlich, auf welche konkreten anderen Arten von Entscheidungen und Verfahrensabschnitte der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ausgedehnt werden soll. Vor der Vorlage neuer Rechtsinstrumente bedarf es jedenfalls einer genauen und konkreten Prüfung, ob wirklich Bedarf für diese besteht. Zunächst sollten die bereits verabschiedeten Rechtsinstrumente in das nationale Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt werden.
- 31. Nach Ansicht des Bundesrates werfen die Ausführungen zu einer neuen Europäischen Beweisanordnung diverse Fragestellungen auf. So ist kaum denkbar, dass eine solche Beweisanordnung in Europa automatisch anerkannt wird. Nationalstaatliche Regelungen im strafprozessualen Beweisrecht weichen
- 32. Hinsichtlich des auf der anderen Seite geforderten verbesserten Opferschutzes bleibt nach Ansicht des Bundesrates unklar, ob und inwieweit diese Verbesserungen über die geplanten Rahmenbeschlüsse zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie von Menschenhandel hinausgehen sollen. Die Stärkung der Rechte der Opfer ist zu begrüßen. Allerdings ist dies kein absolutes Ziel. Es wird begrenzt unter anderem durch die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen einem Tatverdächtigen zustehenden Rechte und durch den staatlichen Anspruch an der Verfolgung und Aufklärung von auch von einem Opfer begangenen Straftaten. Mithin darf nicht allein die behauptete Opfereigenschaft zwangsläufig zu einem Freibrief für begangene Straftaten führen. Die privilegierungswürdige Opfereigenschaft ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls durch das Tatgericht festzustellen, das im Weiteren darüber zu entscheiden hat, ob die Opfereigenschaft eine Strafbefreiung oder etwa nur eine Strafmilderung rechtfertigt.
- 34. Für zu weitgehend hält der Bundesrat aus strafrechtlicher Sicht die Forderung, dass Migranten, die Opfer illegaler Beschäftigung werden, zu schützen sind. Soweit sie nicht Opfer von Menschenhandel oder ähnlichem sind, sind sie in der Regel Täter und kaum schutzwürdig.
- 35. Der Bundesrat sieht auch für die geforderte Übertragung weiterer Befugnisse auf Eurojust derzeit keinen Bedarf. Die Nationalen Mitglieder von Eurojust haben durch den neuen Rahmenbeschluss, der zunächst in nationales Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen ist, soeben erweiterte Kompetenzen erhalten. Eurojust ist von seiner Konzeption und personellen Ausstattung her eine Koordinierungs- und keine Ermittlungsbehörde.
- 36. Was den Strafvollzug anbelangt, vermag der Bundesrat nicht zu beurteilen, ob in anderen Mitgliedstaaten "Haftanstalten zu oft Brutstätten der Kriminalität und Radikalisierung" sind. Die tatsächliche Situation im deutschen Justizvollzug begründet diese Befürchtung jedenfalls nicht. Gleichwohl bestehen gegen die beabsichtigte Bewertung der Wirksamkeit von einzelstaatlichen Maßnahmen keine Bedenken.
- 37. Der Bundesrat unterstützt das Vorhaben, die europäische Gesetzgebung zu verbessern. Der Ansatz, die Union müsse dort gezielt tätig werden, wo ihr Handeln geeignet sei, die Probleme der Bürger und Bürgerinnen zu lösen, ist jedoch nur nach Maßgabe des Subsidiaritätsgrundsatzes unterstützenswert. Soweit die Justiz allgemein betroffen ist, begrüßt der Bundesrat grundsätzlich, dass die Bedeutung der umfassenden Evaluierung der Effizienz der Rechtsinstrumente und Gemeinschaftspolitiken betont wird. Die Evaluierung kann helfen, Schwächen europäischer Rechtsetzung aufzudecken und eine einheitliche Behandlung gleichgelagerter Sachverhalte in den europäischen Staaten, soweit nach den nationalen Gegebenheiten möglich, zu fördern. Allerdings sollte hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass fortlaufende Evaluierungen Arbeitskräfte binden und Abläufe verlangsamen, somit die Effizienz der Rechtsinstrumente schwächen. Der Bundesrat hält die Erhebung von Daten daher nur dann für sinnvoll, wenn diese in angemessener Zeit und mit angemessenem Aufwand ausgewertet und die hieraus gewonnenen Lehren umgesetzt werden können. Im Hinblick auf den erheblichen Evaluierungsaufwand sollte sich die Evaluierung jedenfalls zunächst auf die Feststellung von Hindernissen für die gegenseitige Anerkennung von Rechtsakten in Rechtsbereichen beschränken, die nicht allein in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen. Unnötiger Bürokratismus ist in jedem Fall zu vermeiden. Entsprechendes gilt für Doppelarbeit insbesondere zu den Evaluierungen des Europarates.
- 38. Entsprechendes gilt auch, soweit postuliert wird, dass der EU Statistikwerkzeuge zur Messung krimineller Aktivitäten zur Verfügung gestellt werden müssten. Auch hier ist sicherzustellen, dass die Erhebung von Statistiken nicht bloßer Selbstzweck ist, sondern den Rechtsanwendern in der Auswertung einen tatsächlichen Mehrwert bringt.
- 39. Das Bedürfnis für eine unionsweite Kriminalstatistik (Nummer 4.2.1 der Mitteilung) ist aus der Sicht des Bundesrates grundsätzlich nachvollziehbar und wird von ihm anerkannt. Allerdings bedarf es umfassender und weit reichender Vorarbeiten, insbesondere der Harmonisierung des Strafrechts in der EU sowie der Festlegung einheitlicher Erfassungs- und Auswertemodalitäten, um eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Die Voraussetzungen hierzu sind derzeit nicht gegeben.
- 40. Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich auch die Forderung, dass die Anwendung der Rechtsvorschriften in der Praxis besser begleitet werden muss. Zumindest für den Bereich des Strafrechts ist allerdings die Forderung nach "besserer" Begleitung ebenso wenig nachvollziehbar wie die Formulierung, das "europäische Recht" müsse von den Rechtsanwendern besser und effizienter angewandt werden. Die Rechtsanwender befassen sich im Strafrecht in der Regel nicht mit dem europäischen Recht, vielmehr mit dessen nationalstaatlicher Ausgestaltung, die in den jeweiligen Staaten wie die Anwendung allen Rechts begleitet wird. Anhaltspunkte dafür, dass hier über Schwierigkeiten im Einzelfall hinausgehende Mängel bestehen würden, gibt es nicht.
- 41. Grundsätzlich begrüßt der Bundesrat auch die geforderte Verbesserung der Zusammenarbeit und des Austauschs zwischen Justizbediensteten der Mitgliedstaaten sowie die Maßgabe, dass die EU die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung von Programmen zur Zusammenarbeit und zum Austausch finanziell zu unterstützen hat. Programme zur Zusammenarbeit und zum Austausch dürfen jedoch nicht dazu führen, dass Rechtsberufe auf europäischer Ebene geregelt werden.
IV.
- 42. Für den Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit weist der Bundesrat auf folgende Punkte hin:
Der Bundesrat unterstützt die Zielsetzung der Kommission, für die Sicherheit in der EU künftig einen integrierten Ansatz verfolgen zu wollen, bei dem die Sicherheitsbehörden eine gemeinsame Sicherheitskultur haben, den Informationsaustausch optimieren und auf eine angemessene Infrastruktur zurückgreifen können (Nummer 4.1 der Mitteilung). Allerdings ist die Mitteilung der Kommission in den die polizeiliche Zusammenarbeit betreffenden Punkten zu abstrakt gehalten und entzieht sich deshalb einer konkreteren Bewertung. Das künftige Stockholmer Programm hat die Verantwortung der Mitgliedstaaten - in Deutschland im Wesentlichen der Länder - für die Innere Sicherheit zu wahren. Ob dies der Fall sein wird, kann erst bewertet werden, wenn die Kommission den auf ihrer Mitteilung aufbauenden Aktionsplan vorgelegt hat.
- 43. Der Bundesrat begrüßt alle Maßnahmen, die geeignet sind, zur Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheitskultur in der EU beizutragen (Nummer 4.1.1 der Mitteilung). Er teilt die Auffassung der Kommission, dass hierzu das gegenseitige Vertrauen noch erheblich verbessert werden muss, und sieht hierfür unter anderem in der Intensivierung des gegenseitigen Erfahrungsaustauschs und in der Einführung von Austauschprogrammen nach dem Erasmus-Modell Erfolg versprechende Ansätze. Der Bundesrat bezweifelt aber, dass die von der Kommission vorgeschlagene Fortbildung eines Drittels aller Polizei- und Grenzschutzkräfte in der EU in den nächsten fünf Jahren zu realisieren sein wird.
- 44. Der Bundesrat unterstützt ausdrücklich den Ansatz, das Informationsmanagement in der EU zu strukturieren, zu optimieren und praxisgerecht fortzuentwickeln (Nummern 4.1.2 und 4.1.3 der Mitteilung). Eine umfassende, klare und bedarfsorientierte europäische Informationsmanagementstrategie ist eine zentrale zukünftige Herausforderung und eine wesentliche Voraussetzung für eine effektive Kooperation der Mitgliedstaaten im Bereich der Inneren Sicherheit. Die Summe aller hierzu von der Kommission genannten Vorhaben dürfte jedoch - auch vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme bei der Einführung des neuen Schengener Informationssystems SIS II - die verfügbaren Ressourcen übersteigen. Es erscheint sinnvoller, einzelne konkrete Projekte zu priorisieren und sukzessive zu verwirklichen. Keinesfalls sollten die Arbeiten an einer Informationsmanagementstrategie dazu führen, dass begonnene Projekte und Initiativen in Verzug geraten oder gar zurückgestellt werden. Vielmehr sollten die laufenden Arbeiten zügig fortgesetzt und baldmöglichst abgeschlossen werden. Dies betrifft unter anderem die Entwicklung eines Europäischen Kriminalaktennachweises (EPRIS), den Zugang der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Datenbank EURODAC, die Umsetzung der "Prümer Beschlüsse" in allen Mitgliedstaaten und die Errichtung einer Datei über international agierende Gewalttäter im Zusammenhang mit internationalen Großereignissen auf Unionsebene.
- 45. Soweit im Rahmen eines europäischen Informationsmodells der Datenaustausch auf polizeilicher Ebene verbessert werden soll, ist aus Sicht des Bundesrates jedenfalls zu gewährleisten, dass die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gewahrt bleibt.
- 46. Aus der Sicht des Bundesrates werfen die Ausführungen zur Entwicklung des Modells eines Zentrums für die Zusammenarbeit von Polizei- und Zollbehörden, welches beispielsweise bei Großereignissen zum Einsatz kommen soll (Nummer 4.2.1 der Mitteilung), Fragen auf. Insbesondere ist bislang unklar, mit welchem Mandat ein solches Zentrum versehen wird und wie es praktisch wirken soll. In Deutschland haben die Länder nach eigener Beurteilung der Lage und in eigener Zuständigkeit die erforderlichen Maßnahmen zur Bewältigung von Großereignissen zu treffen. Hierzu werden regelmäßig alle
- 47. Der Bundesrat unterstreicht die Notwendigkeit des Ausbaus und der besseren Nutzung des Potenzials von EUROPOL (Nummer 4.2.1 der Mitteilung). Allerdings sollten EUROPOL auch zukünftig keine exekutiven Aufgaben übertragen werden. Vielmehr sollte EUROPOL insbesondere in den Bereichen Koordinierung, Informationsaustausch und strategische Analyse bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle spielen. Eine Übertragung von Schulungsaufgaben der Europäischen Polizeiakademie (CEPOL) auf EUROPOL ist abzulehnen. CEPOL bringt hochrangige Führungskräfte der Polizeien der EU mit dem Ziel zusammen, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu fördern. Dagegen kann EUROPOL innerhalb seines neuen Rechtsrahmens und der dort formulierten Ziele nur die Mitgliedstaaten bei der Fortbildung unterstützen (ggf. in Zusammenarbeit mit CEPOL).
- 48. Der Bundesrat begrüßt eine strategische Priorisierung bestimmter besonders sozialschädlicher und grenzübergreifender Kriminalitätsphänomene, die ein abgestimmtes Vorgehen erfordern und zu deren Bekämpfung die polizeiliche Zusammenarbeit in der EU einen besonderen Mehrwert leisten kann (Nummer 4.3 der Mitteilung). Allerdings bieten die hierfür von der Kommission vorgesehenen Maßnahmen keine grundsätzlich neuen Ansätze. Sie sind außerdem sehr abstrakt formuliert oder haben eher deklaratorischen Charakter. Der Bundesrat erwartet hier deshalb in absehbarer Zeit keine wesentlichen Fortschritte.
- 50. Der Bundesrat stellt fest, dass die derzeitigen Finanzhilfen der Kommission im Bereich der Inneren Sicherheit in den Ländern auf immer geringere Akzeptanz stoßen. Im Rahmen der Befassung mit dem Stockholmer Programm sollten deshalb eine Konsultation der Stakeholder, eine umfassende Evaluierung der einzelnen Förderprogramme und ggf. ihre Neuausrichtung in Betracht gezogen.
V.
- 51. Für den Bereich der Migrationspolitik können nicht alle EU-Vorhaben und flankierenden Maßnahmen vorbehaltlos befürwortet oder zur Kenntnis genommen werden. Dies gilt insbesondere für die folgenden Punkte:
- 52. Die Behauptung der Kommission, wonach sich Unionsbürger bei der Ausübung ihres Rechts auf freie Wohnsitzwahl noch zahlreichen Hindernissen gegenüber sähen (Nummer 2.1 der Mitteilung), ist in dieser Pauschalität zumindest für die Bundesrepublik zurückzuweisen. Der Bundesrat weist an dieser Stelle darauf hin, dass zahlreiche Mitgliedstaaten der Behauptung der Kommission entgegengetreten sind, die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG sei in keinem der Mitgliedstaaten vollständig korrekt erfolgt. Die von der Kommission angekündigten flankierenden Maßnahmen zur wirksamen Umsetzung der Richtlinie und die Kontrolle der konkreten Umsetzung und Anwendung der Richtlinie bedürfen der kritischen Würdigung. Zwar ist zu begrüßen, dass die Kommission den Mitgliedstaaten helfen will, wirksam gegen den Missbrauch des Freizügigkeitsrechts vorzugehen. Die mit Mitteilung vom 2. Juli 2009 veröffentlichten "Leitlinien zur Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten", (KOM (2009) 313 endg.) haben jedoch einen beachtlichen Nachfragebedarf bei den Vertretern der Mitgliedstaaten in der Expertenkommission ausgelöst und erfüllen damit diesen Anspruch nicht. Dieser Nachfragebedarf wäre zu vermeiden gewesen, wenn die Mitgliedstaaten die Gelegenheit erhalten hätten, bei der konkreten Erarbeitung des Textes des Leitfadens mitzuwirken und eine Textfassung vor der Veröffentlichung auf ihre Praxistauglichkeit zu diskutieren. Mit Bedauern ist festzustellen, dass die Chance, eine Zielgruppe des Leitfadens,
- 53. Die EU sollte dem Abschluss weiterer Visaerleichterungsabkommen zurückhaltend gegenüberstehen (Nummer 4.2.3.3 der Mitteilung). Bislang liegen noch keine Erkenntnisse über die Folgen der in den letzten Monaten mit mehreren Drittstaaten vereinbarten Visaerleichterungsabkommen vor. Der Bundesrat hält es für notwendig, diese zunächst zu evaluieren, bevor weitere Projekte in Angriff genommen werden. Er unterstützt in diesem Zusammenhang die von der Kommission beabsichtigte Einführung eines elektronischen Registriersystems für Ein- und Ausreisen (Entry-Exit-System), um sogenannte "Overstayer" zu identifizieren und generell davor abzuschrecken, die autorisierte (Kurz-)Aufenthaltszeit zu überschreiten. Das Vorhaben, die Visaverfahren auf personenbezogene Kriterien umzustellen, wird hingegen zunächst kritisch gesehen und bedarf einer weitergehenden Vorstellung durch die Kommission, um endgültig Position beziehen zu können.
- 54. Der Bundesrat unterstützt die Zielsetzung der Kommission, eine wirksame Steuerung der Migrationsströme durch Zusammenarbeit mit Drittländern zu erreichen. Er steht einzelnen, in der Mitteilung der Kommission zum neuen Mehrjahresprogramm benannten migrationspolitischen Instrumenten (Nummer 5.1.1 der Mitteilung) aber kritisch gegenüber. Dies gilt insbesondere für die folgenden Bestrebungen:
- - Es bleibt unklar, welche Vorstellungen die Kommission mit der "Einrichtung eines Systems zur Verhütung der illegalen Migration, zur Steuerung der legalen Migration und zur Unterstützung schutzbedürftiger und asylsuchender Migranten" verbindet (Nummer 5.1.1, dritter Spiegelstrich der Mitteilung). Falls an dieser Stelle lediglich das Gesamtziel einer Harmonisierung zum Ausdruck gebracht werden soll, würde diesem gefolgt.
- - Programmen zur Erleichterung der zirkulären Migration steht der Bundesrat sehr zurückhaltend gegenüber. Er betont erneut die Kompetenz der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen des Zugangs zu den nationalen Arbeitsmärkten auf der Grundlage der jeweiligen nationalen Erfordernisse zu steuern. Dabei muss der Ausschöpfung und Stärkung des inländischen und europäischen Arbeitskräftepotentials grundsätzlich Priorität eingeräumt werden. Zudem weist der Bundesrat darauf hin, dass eine zunächst als zirkuläre Migration konzipierte Wanderung leicht zu einem Daueraufenthalt führen kann, wenn sie nicht effizient ausgestaltet und gesteuert wird. In der Konsequenz würde ihr Ziel - auch im Hinblick auf die Entwicklungschancen der Herkunftsstaaten (Vermeidung von "braindrain") - hierdurch verfehlt.
- - Der Bundesrat sieht im Modell der Mobilitätspartnerschaften, innerhalb dessen Vereinbarungen zur legalen Einwanderung von Arbeitskräften mit verbindlichen Rückübernahmezusagen verbunden werden, Potentiale auch für die Bekämpfung der illegalen Migration. Er vertritt aber die Auffassung, dass die Teilnahme von Mitgliedstaaten an Mobilitätspartnerschaften weiterhin nur auf freiwilliger Basis erfolgen kann. Aus Sicht des Bundesrates müssen sicherheitspolitische Interessen bei Verhandlungen über Vergünstigungen von Drittländern innerhalb bestehender Mobilitätspartnerschaften ausreichend berücksichtigt werden. Politische Erwartungshaltungen in den Drittstaaten - insbesondere im Hinblick auf rasche Visumliberalisierungen (siehe oben Ziffer 2) - sollten nicht in einem frühen Verhandlungsstadium geweckt werden. Insbesondere dürfen Visumerleichterungsabkommen nicht aktiv und ohne Prüfung von Alternativen - z.B. aus dem Bereich der Handels- und Wirtschaftspolitik - angeboten werden. Im Übrigen weist der Bundesrat darauf hin, dass einer Ausweitung der derzeitigen, auf Pilotbasis vereinbarten Mobilitätspartnerschaften eine gründliche Evaluierung vorausgehen muss.
- 56. Der Bundesrat weist mit Nachdruck darauf hin, dass angesichts der - in Zeiten der Wirtschaftskrise - angespannten Arbeitsmarktsituation in weiten Teilen der EU eine generelle Ausweitung der Zuwanderung aus Drittstaaten nicht im Interesse der Mitgliedstaaten liegt. Vorrangiges Ziel muss vielmehr die Mobilisierung des Arbeitskräftepotentials innerhalb der EU sein, insbesondere mit Blick auf die bevorstehende Herstellung der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit der osteuropäischen Mitgliedstaaten. Im Übrigen weist der Bundesrat darauf hin, dass die Mehrzahl der zuwanderungswilligen Drittstaatsangehörigen nicht ausreichend qualifiziert ist, um dem spezialisierten und qualifizierten Bedarf der nationalen Arbeitsmärkte in der EU zu genügen.
- 58. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass der gemeinsamen Einwanderungspolitik ein klares, transparentes und faires Konzept (Einwanderungskodex) zu Grunde gelegt werden sollte (Nummer 5.1.3 der Mitteilung). Er ist aber keineswegs der Auffassung, dass legalen Einwanderern ein einheitlicher Rechtsstatus, vergleichbar demjenigen der Gemeinschaftsbürger, zu verleihen ist. Eine Rechtsangleichung bietet den Mitgliedstaaten keine Vorteile, zieht aber - zum Beispiel bei im Einzelfall notwendigen Aufenthaltsbeendigungen - erhebliche Probleme nach sich. Gerade angesichts der sehr unterschiedlichen Umstände, unter denen Drittstaatsangehörige in die Mitgliedstaaten einreisen, muss es möglich sein, auch hinsichtlich des Rechtsstatus differenzierende nationale Lösungen zu finden.
- 59. Der Bundesrat unterstreicht, dass der vorgeschlagene gemeinsame Koordinierungsmechanismus für die nationalen integrationspolitischen Maßnahmen sich auf Ebene der EU auf einen freiwilligen Erfahrungsaustausch beschränken muss und nicht in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten eingreifen darf. Verbindliche Ziele und Indikatoren sollten nur auf nationaler Ebene beschlossen werden dürfen.
- 60. Der Bundesrat begrüßt das Ziel der Kommission, die illegale Einwanderung wirkungsvoll einzudämmen (Nummer 5.1.4 der Mitteilung). Er teilt die Position, dass der Verstärkung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten hierbei große Bedeutung zukommt. Er unterstützt die Bemühungen um eine gegenseitige Anerkennung von Rückführungsentscheidungen durch Regelungen auf Gemeinschaftsebene. Die Aufstellung gemeinsamer Standards für die Aufnahme illegaler Einwanderer, bei denen ein Abschiebungshindernis besteht, wird hingegen mangels Gemeinschaftskompetenz abgelehnt. Auch nach Inkrafttreten des in Ratifizierung befindlichen Vertrags von Lissabon erstreckt sich die Gemeinschaftskompetenz ausschließlich auf die Festlegung der Rechte von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten (siehe Artikel 79 Absatz 2 Buchstabe b). Unabhängig davon weist der Bundesrat darauf hin, dass nicht zu erkennen ist, inwieweit derartige Regelungen zwingend auf Gemeinschaftsebene erforderlich sind, so dass eine Verletzung des Grundsatzes der Subsidiarität festzustellen ist. Der
- 61. Der Bundesrat unterstützt das Anliegen der Kommission, Schleusertum und Menschenhandel effektiv und nachhaltig zu bekämpfen (Nummer 5.1.4 der Mitteilung). Er weist aber darauf hin, dass die Richtlinie 2004/81/EG - Opferschutzrichtlinie - und die Richtlinie 2009/52/EG - Sanktionsrichtlinie - bereits Regelungen zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an Menschenhandelsopfer bzw. an Drittstaatsangehörige, die im Rahmen illegaler Beschäftigung ausbeuterischen Maßnahmen ausgesetzt werden, beinhaltet. Diese Regelungen werden als ausreichend angesehen und bedürfen nach Auffassung des Bundesrates keiner Erweiterung.
- 62. Im Bereich des Asylrechts (Nummer 5.2 der Mitteilung) begrüßt der Bundesrat die Absicht der Kommission, einen gemeinsamen Raum für Schutz und Solidarität zu entwickeln und gleichzeitig den Kampf gegen Missbrauch zu verstärken. Er weist aber darauf hin, dass die Harmonisierung des Asylrechts unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten auf das erforderliche Maß beschränkt und ein effizientes Asylverfahren gewährleistet sein muss sowie die Schaffung neuer Pullfaktoren und ein Aufbau unnötiger bürokratischer Strukturen verhindert werden müssen.
- 63. Die zügige Verabschiedung der Rechtsetzungsvorschläge der zweiten Harmonisierungsphase im Hinblick auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (Nummer 5.2.1 der Mitteilung) darf nicht zu einem absoluten Ziel erhoben werden, sondern muss mit der notwendigen Sorgfalt bei der Ausarbeitung der Rechtsakte Hand in Hand gehen. Nur eine hohe Qualität und Praxistauglichkeit der verabschiedeten Verordnungen und Richtlinien kann die Vorteile einer Regelung auf europäischer Ebene zur Geltung bringen.
- 64. Nach Auffassung des Bundesrates ist auf verpflichtende gemeinsame Fortbildungsmaßnahmen für Bedienstete der Mitgliedstaaten, die mit der Prüfung von Asylanträgen befasst sind, zu verzichten. Die Verpflichtung zu gemeinsamen Schulungen verletzt die Personalhoheit der Mitgliedstaaten und erweist sich mit Blick auf die weiterhin nationale Verantwortung für Asylverfahren als bedenklich.
- 65. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Bediensteten, die mit der Prüfung von Asylanträgen betraut sind, über aussagekräftige Informationen über die Herkunftsländer verfügen müssen. Er lehnt es jedoch im Hinblick auf die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Gerichte ab, diese zu verpflichten, sich an den Arbeiten zur Bereitstellung entsprechender Informationen zu beteiligen. Die deutsche Fassung der Kommissionsmitteilung ist insoweit an den Sinngehalt der englischen Fassung anzupassen (siehe Seite 27, Nummer 5.2.1, 2. Absatz der EN-Fassung: "should be involved").
- 66. Der Bundesrat hält es für nicht sachgerecht, dass die Kommission bereits jetzt, also noch vor der Einigung über den Vorschlag zur Einrichtung des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, eine Ausweitung von dessen Aufgaben ab 2013 ins Auge fasst. Zunächst sollte die Entscheidung über dessen Errichtung abgewartet werden (vgl. BR-Drucksache 192/09(B) , mit der sich der Bundesrat gegen die Errichtung in der vorgeschlagenen Form ausgesprochen hat). Sofern diese Agentur errichtet wird, sollte zudem abgewartet werden, ob die angekündigte Evaluierung ihrer Arbeit den Bedarf einer Aufgabenerweiterung tatsächlich nachweisen kann. Der Bundesrat weist zusätzlich darauf hin, dass das Unterstützungsbüro lediglich beratende Funktion besitzen soll. Die Aussage der Kommission, dass sich die Grenzschutzagentur FRONTEX im Falle des Aufgreifens schutzbedürftiger Personen an den Außengrenzen unbedingt mit dem Unterstützungsbüro abstimmen muss (siehe Nummer 4.2.3.1, Absatz 4 der Mitteilung), wird vor diesem Hintergrund kritisch betrachtet. Soweit verbindliche Absprachen getroffen werden sollen, wäre das Unterstützungsbüro nicht der korrekte Ansprechpartner.
- 68. Der Bundesrat lehnt Lösungen auf EU-Ebene zur Integration abgelehnter Asylbewerber, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können, bereits aus Kompetenz- und Subsidiaritätsgründen ab. Die Gemeinschaftskompetenz zur Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik wird auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ausschließlich die Festlegung von Rechten bzw. die Integration von sich rechtmäßig in den Mitgliedstaaten aufhaltenden Drittstaatsangehörigen umfassen. Die Voraussetzungen für ein Bleiberecht aus humanitären Gründen müssen auch künftig in nationaler Verantwortung festgelegt werden. Bestrebungen zur Aufenthaltsverfestigung abgelehnter ausreisepflichtiger Asylbewerber, die die Unmöglichkeit ihrer Abschiebung selbst zu vertreten haben, sind mit Nachdruck abzulehnen.
- 69. Der Bundesrat bezweifelt, ob der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aller Einzelentscheidungen über die Zuerkennung von internationalem Schutz an Personen formalisiert werden kann. Die gegenseitige Anerkennung setzt nach seiner Auffassung voraus, dass in allen Mitgliedstaaten ein einheitlicher Verfahrens- und Schutzstandard auch tatsächlich umgesetzt wird. Dies wiederum erfordert, dass die personellen und sachlichen Voraussetzungen in jedem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt werden können.
- 70. Der Bundesrat begrüßt die Bereitschaft der Kommission, an den wichtigsten Grundsätzen des Dublin-Systems festzuhalten (Nummer 5.2.2 der Mitteilung). Er bekräftigt, dass Solidaritätsmechanismen für besonders belastete Mitgliedstaaten nicht durch eine Aufweichung des Dublin-Systems (vgl. u. a. BR-Drucksache 965/08(B) , mit der der Bundesrat die Aussetzung von Rücküberstellungen abgelehnt Auch die freiwillige EU-interne Wiederansiedlung von Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, kann ein Element zur Herstellung von Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten bilden. Entsprechende Verfahren dürfen nach Auffassung des Bundesrats auch in Zukunft ausschließlich auf freiwilliger Grundlage vorgesehen werden. Im Übrigen sollte von der Etablierung dauerhafter Systeme - wie von der Kommission ab 2013 vorgeschlagen - Abstand genommen werden, bis die Gesamtwirkung des Instruments eingehend untersucht ist.
- 71. Die angekündigte Machbarkeitsstudie zur gemeinsamen Bearbeitung von Asylanträgen außerhalb der EU muss auch auf die damit verbundenen hohen Risiken eingehen, denn die Einhaltung der einschlägigen Asylverfahrens- und Schutzstandards kann bei einer Bearbeitung im EU-Ausland nur schwer kontrolliert werden. Im Übrigen erachtet der Bundesrat die in früheren Kommissionsmitteilungen in diesem Zusammenhang angekündigte enge Abstimmung mit dem UNHCR als nicht unproblematisch, da die Positionen des Hohen Flüchtlingskommissars von nationalen Interessen abweichen können.
Für die gemeinsame Bearbeitung von Asylanträgen innerhalb der EU besteht aus Sicht des Bundesrats - abgesehen von der Entsendung von Asylunterstützungsteams in besonders belastete Mitgliedstaaten - derzeit kein Bedarf. Der Bundesrat betont, dass Asylverfahren ungeachtet der im Grundsatz befürworteten weiteren Harmonisierung des Asylrechts auch zukünftig in nationaler Verantwortung durchgeführt werden müssen.
- 72. Der Bundesrat hält mit der Kommission eine Überprüfung der innereuropäischen finanziellen Solidarität für wichtig. Für den Europäischen Flüchtlingsfonds müssen allerdings keine neuen Einsatzgebiete erschlossen werden. Die Ausgaben sollten vielmehr, insbesondere nachdem Mittel des Flüchtlingsfonds auch zur Finanzierung des Asyl-Unterstützungsbüros benötigt werden, laufend mit Blick auf die Entwicklung der gemeinsamen Asylpolitik überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.
- 74. Der Bundesrat steht den Bestrebungen der Kommission, die Anstrengungen zur Neuansiedlung von Personen aus Drittländern zu verstärken, in dieser Allgemeinheit zurückhaltend gegenüber. Allerdings ist er der Auffassung, dass eine Festlegung gemeinsamer Kriterien und Koordinierungsmechanismen für Resettlement-Programme Vorteile bieten kann. Der Bundesrat betont, dass eine Beteiligung an Programmen zur dauerhaften Neuansiedlung nur auf freiwilliger Basis erfolgen kann. Im Übrigen müssen die Erfahrungen aus bisherigen Aktionen, insbesondere der Aufnahme irakischer Flüchtlinge aus Syrien und Jordanien, zunächst ausgewertet werden. Abgesehen davon müssen derartige Bestrebungen zur Verstärkung der Neuansiedlung aus humanitären Gründen mit weiteren Anstrengungen einhergehen, den Asylmissbrauch wirkungsvoll - insbesondere auch durch die wirksame Vollstreckung von Abschiebungsmaßnahmen - einzudämmen. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission diesbezüglich in ihrer Mitteilung keine konkreten Vorschläge unterbreitet hat.
VI.
- 75. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.