Der Bundesrat hat in seiner 819. Sitzung am 10. Februar 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich, dass die Kommission mit ihrem Vorschlag die erforderlichen Rechtsgrundlagen schafft, um den für die innere Sicherheit zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich der Prävention von Straftaten sowie ihrer Aufdeckung und Ermittlung, auch im Hinblick auf terroristische Handlungen und Bedrohungen, Zugang zum Visa-Informationssystem (VIS) zu gewähren. Insofern entspricht sie einer seit längerem erhobenen Forderung des Bundes und der Länder.
- 2. Der Bundesrat bedauert jedoch, dass sich die Kommission nach Abwägung der möglichen Umsetzung der Schlussfolgerung vom 7. März 2005 zur "Verbesserung der inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung" nicht für die aus polizeilicher Sicht vorzuziehende Schaffung einer Rechtsgrundlage für einen uneingeschränkten Zugang entschieden hat.
- - Insgesamt ist nicht nachvollziehbar, warum auf europäischer Ebene deutlich restriktivere Vorschriften für den Zugriff der Sicherheitsbehörden auf Visadateien bestehen sollen, als dies für Zugriffe auf nationale Visadateien der Fall ist. Hierdurch wird das Ziel einer "Verbesserung der inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung" eher erschwert als erleichtert. Insbesondere die Zwischenschaltung einer zentralen Zugangsstelle anstelle einer direkten Abfragemöglichkeit des VIS durch die Sicherheitsbehörden erschwert den Zugang der Sicherheitsbehörden zum VIS in weder sachlich noch rechtlich gerechtfertigter Weise. Zu fordern ist vielmehr, den Zugriff der Sicherheitsbehörden auf das VIS ähnlich auszugestalten, wie dies im innerstaatlichen Kontext gemäß §§ 10, 16, 20, 22, 36 des Gesetzes über das Ausländerzentralregister für den Zugriff auf das Ausländerzentralregister(AZR) gilt.
- - Bislang wurde nicht dargelegt, dass durch die Möglichkeit des AZR- und Visadatei-Abrufs im automatisierten Verfahren diese Dateien "zu einer gewöhnlichen Kriminalitätsbekämpfungs-Datenbank" würden, auf die ein "routinemäßiger Datenzugriff der Strafverfolgungsbehörden" erfolgt (Begründung des Kommissionsvorschlags). Das VIS ist schon deshalb keine Kriminalitätsdatenbank, weil in dieser gerade nicht deliktisches Tun, sondern das Vorliegen einer positiven Berechtigung verzeichnet ist. Berechtigungen zu prüfen ist in allen Mitgliedstaaten der EU eine seit jeher hergebrachte polizeiliche Aufgabe, der nichts Kriminalisierendes oder Diskriminierendes innewohnt.
- - Fragwürdig erscheint ferner die weitere Begründung der Kommission, ein uneingeschränkter Zugang der Sicherheitsbehörden "würde sich in nicht gerechtfertigter Weise auf die Grundrechte der Personen auswirken, deren Daten im VIS verarbeitet werden und die bei strafrechtlichen Ermittlungen als Unschuldige und nicht als mutmaßliche Straftäter zu behandeln sind". Allein der Umstand, dass ein polizeilicher Online-Zugriff auf das VIS möglich ist, verändert noch nicht die (strafprozess-) rechtliche Einstufung einer im VIS erfassten Person als Unbeteiligter/Unschuldiger oder als Angeklagter/ mutmaßlicher Straftäter. Auch im Bereich repressiven polizeilichen Tätigwerdens gilt stets die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Unschuldsvermutung. Diese kann auch durch die Erfassung einer Person in einer polizeilich genutzten Datenbank nicht widerlegt werden. Vielmehr kann deren Konsultation im Einzelfall dazu beitragen, dass ein strafrechtlich relevanter Anfangsverdacht gerade nicht entsteht.
- - Eine Zwischenschaltung einer nationalen zentralen Zugangsstelle - für die Polizeibehörden wäre dies vermutlich das Bundeskriminalamt - hätte zudem zur Folge, dass diese Stelle vor Abfrage des VIS das Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 5 Abs. 1 des Vorschlags zu prüfen hätte. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass dem BKA außerhalb seiner ihm nach dem BKAG eingeräumten Zuständigkeit ein Aufsichts-/Kontrollrecht für sämtliches länderpolizeiliches Tätigwerden eingeräumt würde, in dessen Rahmen Abfragen aus dem VIS erforderlich sind. Das BKA würde auf diesem Weg oberste Kontrollbehörde der Länderpolizeien.
- - Aber auch praktische Argumente lassen die Einschaltung einer zentralen Zugangsstelle wenig sinnvoll erscheinen. Die enorm hohen Verfahrenshürden, die einer Auskunftserteilung an eine Polizei- oder Sicherheitsbehörde entgegenstehen führen faktisch dazu, dass der Zugriff auf das VIS nur in sehr wenigen Fällen erfolgen wird, weil dem allein schon der damit verbundene Zeitverzug entgegensteht. So scheint es nicht ohne Weiteres zumutbar dass eine kontrollierte Person nur deshalb länger festgehalten werden muss, weil die Anfrage des VIS erhebliche Zeit in Anspruch nimmt.
- 3. Daneben ist zu fordern, einen Zugriff auf sämtliche im VIS gespeicherten biometrischen Daten zuzulassen. Bislang sieht der Vorschlag lediglich vor, im Rahmen des Regelzugriffs die in Artikel 5 Abs. 2 abschließend aufgezählten Daten abzurufen. Hierunter fallen zwar u. a. Lichtbilder, Artikel 5 Abs. 2 Buchstabe i, und Fingerabdrücke, Artikel 5 Abs. 2 Buchstabe h. Weitere Daten können jedoch lediglich im Rahmen einer weiteren Abfrage abgerufen werden, an die erhöhte Begründungsanforderungen gestellt werden, vgl. Artikel 5 Abs. 3 des Vorschlags. Der "Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt" vom 28. Dezember 2004 hebt gerade die Bedeutung der Aufnahme biometrischer Daten in das VIS hervor. Aufgrund noch nicht geklärter technischer Fragen wurde zwar - mit Ausnahme der Lichtbilder und Fingerabdrücke - von der Aufnahme (weiterer) biometrischer Daten, die beispielsweise im Rahmen des Iris-Scanning oder der Gesichtsfelderkennung erfasst werden können in den Verordnungsvorschlag abgesehen. Sobald diese Fragen geklärt sind ist aber mit ihrer Aufnahme in das VIS zu rechnen. Eine Abfragemöglichkeit durch die Sicherheitsbehörden sollte daher im gleichen Maße wie die Abfrage der Lichtbilder oder Fingerabdrücke gewährleistet sein.
- 4. Vor diesem Hintergrund bittet der Bundesrat die Bundesregierung, sich nachdrücklich für die Position des Bundesrates einzusetzen und im Rahmen der Verhandlungen auf die notwendigen Änderungen hinzuwirken:
- - Der Zugriff der Sicherheitsbehörden auf das VIS ist in rechtlicher wie in technischer Hinsicht praktikabel und nutzbar analog der innerstaatlichen Regelung für den Zugriff auf das AZR auszugestalten. Die Zwischenschaltung zentraler Zugangsstellen ist abzulehnen.
- - Ein Zugriff auf sämtliche im VIS gespeicherte biometrische Daten ist ebenso wie der Zugriff auf Fingerabdruckdaten und Lichtbilder zuzulassen.
- - Ferner soll sichergestellt werden, dass unter den in Teil I des Anhangs als für die Innere Sicherheit zuständigen Behörden auch die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder angesehen werden.
- 5. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, ferner darauf hinzuwirken, dass in den Anhang des Beschlusses bei dessen Vollzug auch die Staatsanwaltschaften als "für die innere Sicherheit zuständige Behörden" aufgenommen werden. Da "für die innere Sicherheit zuständige Behörden" im Sinne des Beschlusses nach Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe e u. a. die für die Aufdeckung oder Untersuchung von terroristischen Straftaten oder sonstigen schwerwiegenden Straftaten verantwortlichen Behörden sind, müssen auch die zuständigen Staatsanwaltschaften wegen ihrer Sachleitungsbefugnis im Strafverfahren Zugang zum VIS-Informationssystem haben.