Der Bundesrat hat in seiner 816. Sitzung am 4. November 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt im Grundsatz die Zielsetzung, innerhalb der EU die Grundlage für vergleichbare statistische Grunddaten über das Migrationsgeschehen und das Flüchtlingswesen zu schaffen. Dabei muss sich die Harmonisierung der statistischen Anforderungen auf das für die Durchführung der Gemeinschaftsaufgaben zwingend erforderliche Maß beschränken.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die seither in Deutschland zu den vorgenannten Bereichen vorliegenden Daten als Grundlage für das politische Handeln ausreichend waren und sind und es deshalb nicht einsichtig ist, wenn die Kommission unter dem Deckmantel der Harmonisierung einen weitergehenden Datenbedarf geltend macht. Er ist der Ansicht, dass die EU-weite Harmonisierung nicht immer auf dem tendenziell höchsten Niveau erfolgen muss.
- 3. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Erhebung von Gemeinschaftsstatistiken von der in der Vorlage genannten Befugnisnorm des Artikels 285 EGV nicht gedeckt ist, soweit sie in ihrer Zielsetzung über eine Steuerung des Migrations- und Flüchtlingswesens hinausgeht. Das gilt für die in den Erwägungsgründen genannte Bewertung des Menschenhandels ebenso wie für die Steuerung des Arbeitsmarktzugangs.
- 4. Der Bundesrat stellt weiter fest, dass der Vorschlag der Kommission in erheblichem Umfang die Erhebung neuer Daten und Informationen erfordert. So werden in dem Vorschlag als Zu- und Abwanderer - Zentralbegriffe des Vorschlags - Personen definiert, die ihren üblichen Aufenthalt voraussichtlich für mehr als zwölf Monate verlegen. Derartige Informationen sind gegenwärtig nicht verfügbar. Zudem sollen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, umfassendes Datenmaterial über die Zahl der von den Gerichten in asyl- und ausländerrechtlichen Rechtsmittelverfahren getroffenen Entscheidungen - untergliedert nach Verfahrensgegenstand sowie Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen - an Eurostat zu übermitteln (vgl. Artikel 1 Buchstabe c und Artikel 4 Nr. 2). Erhebungen derartigen Umfangs können im Hinblick auf den außerordentlich hohen Aufwand von der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht geleistet werden.
- 5. Nach Auffassung des Bundesrates sollte für das weitere Vorgehen auf europäischer Ebene maßgeblich berücksichtigt werden, dass sowohl die gemäß Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c bis g, Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b bis f der vorgeschlagenen Verordnung von den Mitgliedstaaten zu erbringenden Statistiken als auch die durch Artikel 4 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 geforderten Untergliederungen dieser Statistiken nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen für die Durchführung der Tätigkeiten der Gemeinschaft nicht erforderlich sein dürften und damit gegen Artikel 285 EGV verstoßen könnten (vgl. EuGH, Rs C-426/93 Unternehmensregister). Der Nutzen der nach Artikel 4 von den Mitgliedstaaten zu erbringenden Statistiken ist nach Auffassung des Bundesrates für die Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik äußerst gering. Denn allein die Erhebung von Zahlen, z.B. über erstinstanzliche Entscheidungen über die Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, lässt - auch wenn diese nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit differenziert und mit anderen statistischen Angaben abgeglichen werden - noch keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Migrationssituation in Deutschland zu. Aus der Begründung des Verordnungsvorschlags ergibt sich jedenfalls keine schlüssige Darlegung, warum die genannten Erhebungen für die Beurteilung der Migrationssituation (zwingend) benötigt werden. Auch wenn man dem Rat im Rahmen des Artikels 285 EGV einen Beurteilungsspielraum über die Frage des Nutzens zugesteht, darf dies nicht dazu führen, dass für die Mitgliedstaaten Mitteilungspflichten statuiert werden, die weit über die bisherigen statistischen Erhebungen hinausgehen und - auch unter Berücksichtigung der zeitlichen Vorgaben - einen immensen Bürokratieaufwand nach sich ziehen würden.
- 6. Die bei den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten/Verwaltungsgerichtshöfen seit Januar 1983 - bundesweit einheitlich - durchgeführten Erhebungen nach der VwG-Statistik sehen keine Untergliederung innerhalb der Sachgebiete Ausländer- (Sachgebiet 445) oder Asylrecht (Sachgebiet 446) vor; auch Alter, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit der Beteiligten werden nicht in allen Ländern ausgewertet. Der mit einer Auszählung "von Hand" verbundene außerordentliche Aufwand kann von der Verwaltungsgerichtsbarkeit damit nicht erbracht werden.
- 7. Jedenfalls möge die Bundesregierung auf eine Präzisierung des Artikels 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c bis g der vorgeschlagenen Verordnung hinwirken. Die Norm lässt in Abweichung zu Artikel 4 Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b bis f der vorgeschlagenen Verordnung nicht hinreichend eindeutig erkennen, ob sie sich auf Entscheidungen von Ausgangsbehörden und/oder auf erstinstanzliche gerichtliche Entscheidungen bezieht. Dass sich Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c bis g auch auf erstinstanzliche gerichtliche Verfahren erstreckt, könnte einer systematischen Auslegung unter Heranziehung insbesondere etwa der französischen Fassung des Artikels 4 Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b bis f der vorgeschlagenen Verordnung ("d6cisions prises ... par des instances administratives ou judiciaires, en appel ou dans le cadre d'une r6vision") zu entnehmen sein. Der in der deutschen Fassung verwendete Begriff des "Rechtsmittelverfahrens" ließe hingegen auch eine Einordnung erstinstanzlicher verwaltungsgerichtlicher Verfahren unter Artikel 4 Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b bis f der vorgeschlagenen Verordnung zu.
- 8. Sollte sich Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c bis g der vorgeschlagenen Verordnung auf verwaltungsgerichtliche Entscheidungen erstrecken, möge die Bundesregierung auf eine Anpassung des Artikels 4 Abs. 1 Satz 3 an die Regelung des Artikels 4 Abs. 2 Satz 3 der vorgeschlagenen Verordnung hinwirken. Die Erforderlichkeit einer Anordnung von Berichtszeiträumen von einem Kalendermonat in Bezug auf Statistiken über die Zahl gerichtlicher Entscheidungen erschließt sich vor dem Hintergrund der abweichenden Regelung des Artikels 4 Abs. 2 Satz 3 der vorgeschlagenen Verordnung nicht.
- 9. Die Bundesregierung möge ferner darauf hinwirken, dass in Artikel 4 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 4 der vorgeschlagenen Verordnung die Angabe "2006" jeweils durch eine den Beginn eines späteren Geschäftsjahrs bezeichnende Angabe ersetzt wird. Die vorgeschlagenen Regelungen, die als ersten Berichtsmonat den Monat Januar 2006 beziehungsweise als erstes Berichtsjahr das Jahr 2006 bestimmen, dürften den sich aus Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c bis g und Satz 2 sowie Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b bis f und Satz 2 der vorgeschlagenen Verordnung ergebenden verwaltungsmäßigen Bedarf einer Anpassung der verschiedenen in den Ländern eingesetzten Geschäftsstellenautomations- und Auswertungsprogramme nicht hinreichend berücksichtigen. Bereits diese vor der Aufnahme der Datenerhebung durchzuführenden Anpassungsmaßnahmen dürften eine Lieferung einer Statistik für das Berichtsjahr 2006 unrealistisch erscheinen lassen. Hinzu kommt, dass Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, der Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c bis e, Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b bis d in Verbindung mit Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe h bis j des Verordnungsvorschlags zu Grunde liegt, den Mitgliedstaaten zum Erlass der erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Frist bis zum 10. Oktober 2006 einräumt, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass für das Berichtsjahr 2006 bereits EU-weit statistische Daten übermittelt werden können. Die Verpflichtung zur Lieferung von Statistiken sollte nach alledem erst mit dem Beginn eines späteren Geschäftsjahrs wirksam werden und zurückliegende Zeiträume nicht erfassen. Eine rückwirkende Datenerhebung für einen früheren Zeitraum hätte einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zur Folge, den es aus der Sicht der Länder zu vermeiden gelten dürfte.
- 10. Der Bundesrat stellt weiter fest, dass die meisten der in Artikel 8 (Zusätzliche Untergliederungen) aufgeführten Daten in Deutschland bislang nicht erfasst werden. Insbesondere Daten zur Stellung im Erwerbsleben, zum Beruf, zum Wirtschaftszweig und zum Bildungs- und Ausbildungsniveau werden nicht erhoben. Eine solche Erfassung wäre nur mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand möglich. Im Zeichen eines notwendigen Bürokratieabbaus bzw. der Verhinderung eines weiteren Bürokratieaufbaus muss auch die Kommission in Zukunft noch stärker zwischen wünschenswert und zwingend notwendig unterscheiden.
- 11. Die Bundesregierung möge schließlich darauf hinwirken, das in den Artikeln 10 und 11 des Verordnungsvorschlags geregelte Komitologie-Verfahren grundlegend zu überarbeiten, mit dem Ziel, "Maßnahmen zur Durchführung der Verordnung" bzw. eine "Anpassung der statistischen Erhebungen an wirtschaftliche und technische Entwicklungen" auf eng umgrenzte Bereiche zu beschränken. Mit Blick auf die dem Regelungsausschuss nach Artikel 11 der vorgeschlagenen Verordnung eingeräumten "Anpassungsmöglichkeiten" - Festlegung zusätzlicher Definitionen gemäß Artikel 2, zusätzliche Untergliederungen und Gliederungstiefe bei den in Artikel 8 vorgesehenen Variablen, Fristen für die Datenübermittlung an die Kommission und Regeln für die Genauigkeits- und Qualitätsstandards (Artikel 10 Buchstabe a bis e des Verordnungsvorschlags) - besteht die Gefahr einer inflationären Ausdehnung von Mitteilungspflichten, die - jedenfalls bei den Gerichten/Justizverwaltungen - einen personellen Mehrbedarf nach sich ziehen dürfte, der nicht gerechtfertigt ist.
- 12. Der Bundesrat bekräftigt seine Forderung nach einer verantwortungsvollen Gesetzesfolgenabschätzung bei EU-Vorhaben und verweist auf seine Stellungnahme vom 8. Juli 2005 (BR-Drucksache 286/05(B) ). Er stellt fest, dass der Verordnungsvorschlag sich weder konkret mit den Auswirkungen auf die Haushalte in den Mitgliedstaaten befasst, noch eine belastbare Kosten-Nutzen-Analyse zu den statistischen Anforderungen enthält.
- 13. Der Bundesrat bittet deshalb die Bundesregierung, zu prüfen, welche auf Grund des Verordnungsvorschlags geforderten Angaben in Deutschland aus vorhandenen Informationsquellen (z.B. Daten aus dem Meldewesen, Daten aus dem Ausländerzentralregister, weitere Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Daten aus der Einbürgerungsstatistik) erfüllt werden können, und bei den weiteren Verhandlungen auf EU-Ebene allen darüber hinausgehenden Datenanforderungen entschieden entgegenzutreten.