935. Sitzung des Bundesrates am 10. Juli 2015
A.
Der federführende Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, die Entschließung in folgender Fassung anzunehmen:
- 1. "Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 und in beiden deutschen Staaten gemäß §§ 175, 175a Nummer 3 und 4 des Strafgesetzbuches und gemäß § 151 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik verurteilten Menschen
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen und in den Deutschen Bundestag einzubringen, der Maßnahmen zur Rehabilitierung und Entschädigung für die nach 1945 und in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen verurteilten Menschen vorsieht.
Begründung:
Die strafrechtliche Verfolgung von einvernehmlichen homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen verstößt gegen die Europäische Menschrechtskonvention. Sie ist mit dem in Artikel 8 EMRK verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens nicht vereinbar (vgl. nur EGMR, Urteil vom 26. Oktober 1988 0 6/1987/129/180, EuGRZ 1992, 477). Darüber hinaus erweist sie sich auch am Maßstab des Grundgesetzes als menschenrechtswidrig. Die mit den Verurteilungen verbundenen Eingriffe in die durch Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützte Menschenwürde verstoßen gegen das freiheitliche Menschenbild des Grundgesetzes. Aus diesem Grunde hat sich der Deutsche Bundestag im Jahre 2000 in einer einstimmig verabschiedeten Entschließung dazu bekannt, dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafandrohung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind (vgl. BT-Drucksache 014/4894; Plenarprotokoll 014/140 S. 13738 ff.).
Die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen vor und während der Zeit des Nationalsozialismus wurde auch noch nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage des zunächst fortgeltenden Rechts fortgesetzt. Die in der NS-Zeit verschärften Strafnormen galten in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 unverändert fort. In der Deutschen Demokratischen Republik fand die verschärfte Regelung des § 175 RStGB bis 1950 und danach in der Fassung vor 1935 Anwendung, während § 175a RStGB bis 1968 galt. Beide Normen wurden erst 1968, sodann in der Deutschen Demokratischen Republik durch § 151 StGB-DDR, abgelöst.
Der Deutsche Bundestag hat mit Gesetz vom 23. Juli 2002 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege - NS-AufhGÄndG -, BGBl. I S. 2714) bereits die Urteile aufgehoben, die zwischen 1933 und 1945 nach den §§ 175, 175a Nummer 4 des Strafgesetzbuches ergangen waren. Darüber hinaus erfolgte am 1. September 2004 eine Änderung der "Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) vom 7. März 1988". Damit wurden auch Personen, die nach § 175 und § 175a Nummer 4 RStGB verurteilt worden waren, in die Lage versetzt, einen Anspruch auf Entschädigung geltend machen zu können.
Während also die Opfer der Strafverfolgung nach den §§ 175 und 175a RStGB durch das NS-Regime zwischenzeitlich rehabilitiert und entschädigt worden sind, steht dieser Schritt für die nach 1945 sowie unter der Geltung des Grundgesetzes und in der Deutschen Demokratischen Republik erfolgten Verurteilungen noch aus. Dieser Zustand ist angesichts des Umstandes, dass die nach 1945 ergangenen Verurteilungen größtenteils auf den in der NS-Zeit verschärften Strafvorschriften beruhen, unhaltbar. In der Bundesrepublik Deutschland galt die unter den Nationalsozialisten zum 1. September 1935 in Kraft getretene verschärfte Gesetzgebung zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen durch Männer (§ 175 und § 175a StGB) bis zur Strafrechtsreform bis zum 31. August 1969 fort. Demnach waren sämtliche sexuelle Handlungen, einschließlich erotisch interpretierbarer Annäherungen, unter Männern strafbar. In der Bundesrepublik Deutschland lag die Zahl der Verurteilungen bis zur Strafrechtsreform 1969 bei ca. 50 000 (vgl. Rainer Hoffschildt in: Invertito 4, Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Hamburg, S. 140 bis 149). Für das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik sind Fallzahlen schwer zu ermitteln; als nachgewiesen angesehen werden können 1 292 Verurteilungen in den Jahren 1946 bis 1959 (vgl. Günter Grau: Zur strafrechtlichen Verfolgung der Homosexualität in der DDR, in: § 175 StGB. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Herausgeberin: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, S. 49 f).
Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 7. Dezember 2000, mit dem er im Rahmen der genannten Entschließung sein Bedauern über das durch die Homosexuellenverfolgung in beiden Teilen Deutschlands erfolgte Unrecht zum Ausdruck brachte, genügt den Anforderungen an eine angemessene Rehabilitation nicht. Ein solcher Beschluss trägt den Bedürfnissen der Betroffenen nach Rehabilitation und Entschädigung nicht in angemessener Weise Rechnung. Vielmehr bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die eine den Interessen der Betroffenen gerecht werdende Rehabilitierung und Entschädigung vor dem Hintergrund der Menschenrechts- und Verfassungswidrigkeit der Verurteilungen vorsieht. Auf Antrag des Landes Berlin und der Länder Brandenburg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen forderte der Bundesrat mit Entschließung vom 12. Oktober 2012, BR-Drucksache 241/12(B) , die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher sexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen. Da dies bislang nicht geschehen ist, konkretisiert der Bundesrat nunmehr seine Forderung nach der Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen.
Ziel der gesetzlichen Regelung muss es sein, dass die Verurteilungen aufgehoben und die ihnen zugrunde liegenden Strafverfahren eingestellt werden. Soweit die Verurteilungen nicht allein auf den genannten Straftatbeständen beruhen, muss dabei die gesetzliche Regelung eine teilweise Aufhebung der Verurteilungen und Einstellung der Strafverfahren vorsehen. Mit welchen Maßnahmen dieses Ziel erreicht werden kann, ist bereits Gegenstand einer breit gefächerten Diskussion, die auch im Mai 2013 vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages im Rahmen einer Anhörung von Sachverständigen geführt worden ist. Im Zuge der Diskussion werden im Wesentlichen zwei Wege aufgezeigt, um das Ziel der angemessenen Rehabilitation zu erreichen.
Zum einen kommt vorrangig die Aufhebung der einschlägigen Strafurteile durch eine gesetzliche Regelung in Betracht, wie sie zur Aufhebung der Verurteilungen während der NS-Zeit geschaffen worden ist. Erkennt der Gesetzgeber, dass Strafurteile aus früherer Zeit eklatant gegen die Menschenwürde verstoßen, ist es ihm nicht nur unbenommen, sondern auch geboten, diesen Verstoß durch ein generellabstraktes Gesetz, mit dem er sich gerade nicht an die Stelle des Gerichts im jeweiligen Einzelfall setzt, zu beseitigen (vgl. Straßmeir/Ullerich, Umgang mit nachkonstitutionellem Unrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik, 2013, S. 76 ff.). Insoweit werden zwar verfassungsrechtliche Bedenken gemessen am Rechtsstaatsprinzip und am Gewaltenteilungsgrundsatz geltend gemacht, da das BVerfG in seinem Urteil vom 10. Mai 1957 (1 BvR 550/52 - BVerfGE 6, 389 ff.) strafrechtliche Verurteilungen auf Grund der §§ 175, 175a StGB a.F. am Maßstab von Artikel 3 Absatz 2 und 3 sowie Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes für verfassungsgemäß erachtet und Teile der hierfür gegebenen Begründung in einer späteren Entscheidung zu § 175 StGB in der Fassung des Reformgesetzes 1969 ausdrücklich in Bezug genommen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Oktober 1973 - 1 BvL 7/72 BVerfGE 363, 41 ff.). Zudem werden die Bedenken auf den Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt. Die verfassungsrechtlichen Bedenken erweisen sich aber nicht als zwingend. Unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips ist zu bemerken, dass der Gesetzgeber im Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung einen weiten Gestaltungsspielraum hat, bei dessen Ausübung er den Konflikt zwischen den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit lösen muss (vgl. zu den Unrechtsurteilen durch das NS-Regime BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. März 2006 - BVerfGK 7, 363 ff.). In Ausübung dieses Gestaltungsspielraums widerspricht die Generalkassation durch Gesetz nicht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, wonach gerichtliche Entscheidungen und sonstige staatliche Akte beständig und damit für die Bevölkerung verlässlich sein müssen, insbesondere wenn durch das staatliche Tun Begünstigungen oder sonstige für den Bürger positive und auf sein Leben Einfluss nehmende Rechtslagen geschaffen werden. Strafurteile sind ein Akt des Staates gegen Einzelne aufgrund eines Verhaltens, das staatlicherseits für strafwürdig erachtet wird. Erkennt der Staat die Rechtswidrigkeit dieser Strafverfolgung, ist ihm der Raum eröffnet, der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit einzuräumen. Nach dem Gewaltenteilungsprinzip sind für die Durchbrechung der Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen grundsätzlich die Gerichte selbst zuständig, und die Generalkassation von Strafurteilen durch den Gesetzgeber stellt eine Maßnahme dar, die in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. März 2006 - BVerfGK 7, 363 ff.; Straßmeir/Ullerich, Umgang mit nachkonstitutionellem Unrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik, 2013, S. 76 ff.). Insoweit kann die Qualifizierung der Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen als menschenrechtskonventions- und verfassungswidrig ausreichend sein, um den Anforderungen an eine besondere Rechtfertigung zu genügen. Erfolgen, wie vorliegend, aufgrund des Zusammenspiels der Gewalten gesetzgeberische und in deren Konsequenz gerichtliche Entscheidungen, die seinerzeit nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde erkannt wurden, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, diesen von ihm erkannten Unrechtszustand - auch rückwirkend - zu beseitigen (vgl. Lautmann, Wie korrigiert der Rechtsstaat sein falsches Recht, Recht und Politik 1/2015, S. 12, 16). Bedenken werden auch mit Blick auf Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes erhoben, weil strafgerichtliche Verurteilungen z.B. wegen Ehebruchs oder Kuppelei nicht erfasst werden sollen. Insoweit ist jedoch zu berücksichtigen, dass beide Delikte nicht systematisch strafrechtlich verfolgt worden sind und es sich bei dem Ehebruch-Straftatbestand um ein Antragsdelikt gehandelt hat. Darüber hinaus ist entscheidend, dass die mit den Verurteilungen der Homosexuellen verbundene besondere Schwere des Grundrechtseingriffs eine differenzierte Behandlung rechtfertigt. Denn die Strafverfolgung der Homosexuellen hatte erheblich weitreichendere Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Bereich mit der Folge, dass sich Homosexuelle auch nach Aufhebung der Strafbarkeit nicht in der Lage gesehen haben, sich zu ihrer Homosexualität öffentlich zu bekennen.
Zum anderen ist nachrangig als Maßnahme der Rehabilitation die Schaffung einer gesetzlichen Regelung zu erwägen, nach der ein Wiederaufnahmegrund auf Antrag oder von Amts wegen für die den Verurteilungen zugrunde liegenden Strafverfahren geschaffen wird. Dies könnte durch die Erweiterung des Katalogs der Wiederaufnahmegründe in § 359 StPO oder aber durch die Schaffung eines neuen Wiederaufnahmeverfahrens geschehen. Eine vergleichbare Regelung hat der Gesetzgeber bereits mit dem in § 79 BVerfGG normierten Wiederaufnahmeverfahren für den Fall vorgesehen, dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung auf einer für mit dem Grundgesetz unvereinbaren oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruht. Aus verfassungsrechtlicher Sicht dürfte es sich um einen gangbaren Weg handeln. Den Bedenken einer geltend gemachten Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes kann auf diese Weise Rechnung getragen werden, da die Durchbrechung der Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen durch die hierfür originär zuständigen Gerichte erfolgt. Die Schaffung eines Wiederaufnahmegrundes auf Antrag oder von Amts wegen ist grundsätzlich auch geeignet, den Konflikt zwischen den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen. Soweit bei dieser Form der Rehabilitation entgegengehalten wird, dass ein Wiederaufnahmeverfahren angesichts der zum Teil lange zurückliegenden Urteile unzulänglich oder ungeeignet sein könnte, können derartige Unabwägbarkeiten dadurch umgegangen werden, dass der Gesetzgeber im Falle der Wiederaufnahme des Strafverfahrens dessen gleichzeitige Einstellung hinsichtlich der entsprechenden Tatvorwürfe gesetzlich vorsieht.
Bei den aufgezeigten Ansätzen der Rehabilitation ist zugleich die Beseitigung der strafrechtlichen Konsequenzen der früheren Verurteilungen in die gesetzliche Regelung einzubeziehen, indem etwa die Verurteilungen aus dem Bundeszentralregister gelöscht werden. Zudem ist die Frage nach der Entschädigung der Betroffenen in den Blick zu nehmen. Denn die Wirkungen der Verurteilungen erschöpften sich für die Betroffenen nicht in dem Strafausspruch, sondern führten zugleich zu ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung. Die Betroffenen mussten oftmals ihren Beruf aufgeben oder bei Bekanntwerden ihrer Homosexualität zumindest damit rechnen, den Beruf zu verlieren und ins soziale Abseits gedrängt zu werden. Diese Folgen gebieten eine Entschädigungsleistung, die sich in ihrer Höhe an dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen orientieren kann."
B.
Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfiehlt dem Bundesrat, die Entschließung nach der Überschrift wie folgt zu fassen:
- 2. "Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Maßnahmen zur Rehabilitierung und Entschädigung für die nach 1945 und in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Menschen vorsieht.
Begründung:
Die strafrechtliche Verfolgung von einvernehmlichen homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen verstößt gegen die Europäische Menschrechtskonvention. Sie ist mit dem in Artikel 8 EMRK verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens nicht vereinbar (vgl. nur EGMR, Urteil vom 26. Oktober 1988 0 6/1987/129/180, EuGRZ 1992, 477). Darüber hinaus erweist sie sich auch am Maßstab des Grundgesetzes als menschenrechtswidrig. Die mit den Verurteilungen verbundenen Eingriffe in die durch Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützte Menschenwürde verstoßen gegen das freiheitliche Menschenbild des Grundgesetzes. Aus diesem Grunde hat sich der Deutsche Bundestag im Jahre 2000 in einer einstimmig verabschiedeten Entschließung dazu bekannt, dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafandrohung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind (vgl. BT-Drucksache 014/4894; Plenarprotokoll 014/140 S. 13738 ff.).
Die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen vor und während der Zeit des Nationalsozialismus wurde auch noch nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage des zunächst fortgeltenden Rechts fortgesetzt. Die in der NS-Zeit verschärften Strafnormen galten in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 unverändert fort. In der Deutschen Demokratischen Republik fand die verschärfte Regelung des § 175 RStGB bis 1950 und danach in der Fassung vor 1935 Anwendung, während § 175a RStGB bis 1968 galt. Beide Normen wurden erst 1968, sodann in der Deutschen Demokratischen Republik durch § 151 StGB-DDR, abgelöst.
Der Deutsche Bundestag hat mit Gesetz vom 23. Juli 2002 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege - NS-AufhGÄndG -, BGBl. I S. 2714) bereits die Urteile aufgehoben, die zwischen 1933 und 1945 nach den §§ 175, 175a Nummer 4 des Strafgesetzbuches ergangen waren. Darüber hinaus erfolgte am 1. September 2004 eine Änderung der "Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) vom 7. März 1988". Damit wurden auch Personen, die nach § 175 und § 175a Nummer 4 RStGB verurteilt worden waren, in die Lage versetzt, einen Anspruch auf Entschädigung geltend machen zu können.
Während also die Opfer der Strafverfolgung nach den §§ 175 und 175a RStGB durch das NS-Regime zwischenzeitlich rehabilitiert und entschädigt worden sind, steht dieser Schritt für die nach 1945 sowie unter der Geltung des Grundgesetzes und in der Deutschen Demokratischen Republik erfolgten Verurteilungen noch aus. Dieser Zustand ist angesichts des Umstandes, dass die nach 1945 ergangenen Verurteilungen größtenteils auf den in der NS-Zeit verschärften Strafvorschriften beruhen, unhaltbar. In der Bundesrepublik Deutschland galt die unter den Nationalsozialisten zum 1. September 1935 in Kraft getretene verschärfte Gesetzgebung zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen durch Männer (§ 175 und § 175a StGB) bis zur Strafrechtsreform bis zum 31. August 1969 fort. Demnach waren sämtliche sexuelle Handlungen, einschließlich erotisch interpretierbarer Annäherungen, unter Männern strafbar. In der Bundesrepublik Deutschland lag die Zahl der Verurteilungen bis zur Strafrechtsreform 1969 bei ca. 50 000 (vgl. Rainer Hoffschildt in: Invertito 4, Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Hamburg, S. 140 bis 149). Für das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik sind Fallzahlen schwer zu ermitteln; als nachgewiesen angesehen werden können 1 292 Verurteilungen in den Jahren 1946 bis 1959 (vgl. Günter Grau: Zur strafrechtlichen Verfolgung der Homosexualität in der DDR, in: § 175 StGB. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Herausgeberin: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, S. 49 f).
Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 7. Dezember 2000, mit dem er im Rahmen der genannten Entschließung sein Bedauern über das durch die Homosexuellenverfolgung in beiden Teilen Deutschlands erfolgte Unrecht zum Ausdruck brachte, genügt den Anforderungen an eine angemessene Rehabilitation nicht. Ein solcher Beschluss trägt den Bedürfnissen der Betroffenen nach Rehabilitation und Entschädigung nicht in angemessener Weise Rechnung. Vielmehr bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die eine den Interessen der Betroffenen gerecht werdende Rehabilitierung und Entschädigung vor dem Hintergrund der Menschenrechts- und Verfassungswidrigkeit der Verurteilungen vorsieht. Auf Antrag des Landes Berlin und der Länder Brandenburg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen forderte der Bundesrat mit Entschließung vom 12. Oktober 2012, BR-Drucksache 241/12(B) , die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher sexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen. Da dies bislang nicht geschehen ist, konkretisiert der Bundesrat nunmehr seine Forderung nach der Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen.
Ziel der gesetzlichen Regelung muss es sein, dass die Verurteilungen aufgehoben und die ihnen zugrunde liegenden Strafverfahren eingestellt werden. Soweit die Verurteilungen nicht allein auf den genannten Straftatbeständen beruhen, muss dabei die gesetzliche Regelung eine teilweise Aufhebung der Verurteilungen und Einstellung der Strafverfahren vorsehen. Mit welchen Maßnahmen dieses Ziel erreicht werden kann, ist bereits Gegenstand einer breit gefächerten Diskussion, die auch im Mai 2013 vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages im Rahmen einer Anhörung von Sachverständigen geführt worden ist. Im Zuge der Diskussion werden im Wesentlichen zwei Wege aufgezeigt, um das Ziel der angemessenen Rehabilitation zu erreichen.
Zum einen kommt vorrangig die Aufhebung der einschlägigen Strafurteile durch eine gesetzliche Regelung in Betracht, wie sie zur Aufhebung der Verurteilungen während der NS-Zeit geschaffen worden ist. Erkennt der Gesetzgeber, dass Strafurteile aus früherer Zeit eklatant gegen die Menschenwürde verstoßen, ist es ihm nicht nur unbenommen, sondern auch geboten, diesen Verstoß durch ein generellabstraktes Gesetz, mit dem er sich gerade nicht an die Stelle des Gerichts im jeweiligen Einzelfall setzt, zu beseitigen (vgl. Straßmeir/Ullerich, Umgang mit nachkonstitutionellem Unrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik, 2013, S. 76 ff.). Insoweit werden zwar verfassungsrechtliche Bedenken gemessen am Rechtsstaatsprinzip und am Gewaltenteilungsgrundsatz geltend gemacht, da das BVerfG in seinem Urteil vom 10. Mai 1957 (1 BvR 550/52 - BVerfGE 6, 389 ff.) strafrechtliche Verurteilungen auf Grund der §§ 175, 175a StGB a.F. am Maßstab von Artikel 3 Absatz 2 und 3 sowie Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes für verfassungsgemäß erachtet und Teile der hierfür gegebenen Begründung in einer späteren Entscheidung zu § 175 StGB in der Fassung des Reformgesetzes 1969 ausdrücklich in Bezug genommen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Oktober 1973 - 1 BvL 7/72 BVerfGE 363, 41 ff.). Zudem werden die Bedenken auf den Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt. Die verfassungsrechtlichen Bedenken erweisen sich aber nicht als zwingend. Unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips ist zu bemerken, dass der Gesetzgeber im Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung einen weiten Gestaltungsspielraum hat, bei dessen Ausübung er den Konflikt zwischen den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit lösen muss (vgl. zu den Unrechtsurteilen durch das NS-Regime BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. März 2006 - BVerfGK 7, 363 ff.). In Ausübung dieses Gestaltungsspielraums widerspricht die Generalkassation durch Gesetz nicht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, wonach gerichtliche Entscheidungen und sonstige staatliche Akte beständig und damit für die Bevölkerung verlässlich sein müssen, insbesondere wenn durch das staatliche Tun Begünstigungen oder sonstige für den Bürger positive und auf sein Leben Einfluss nehmende Rechtslagen geschaffen werden. Strafurteile sind ein Akt des Staates gegen Einzelne aufgrund eines Verhaltens, das staatlicherseits für strafwürdig erachtet wird. Erkennt der Staat die Rechtswidrigkeit dieser Strafverfolgung, ist ihm der Raum eröffnet, der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit einzuräumen. Nach dem Gewaltenteilungsprinzip sind für die Durchbrechung der Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen grundsätzlich die Gerichte selbst zuständig, und die Generalkassation von Strafurteilen durch den Gesetzgeber stellt eine Maßnahme dar, die in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. März 2006 - BVerfGK 7, 363 ff.; Straßmeir/Ullerich, Umgang mit nachkonstitutionellem Unrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik, 2013, S. 76 ff.). Insoweit kann die Qualifizierung der Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen als menschenrechtskonventions- und verfassungswidrig ausreichend sein, um den Anforderungen an eine besondere Rechtfertigung zu genügen. Erfolgen, wie vorliegend, aufgrund des Zusammenspiels der Gewalten gesetzgeberische und in deren Konsequenz gerichtliche Entscheidungen, die seinerzeit nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde erkannt wurden, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, diesen von ihm erkannten Unrechtszustand - auch rückwirkend - zu beseitigen (vgl. Lautmann, Wie korrigiert der Rechtsstaat sein falsches Recht, Recht und Politik 1/2015, S. 12, 16). Bedenken werden auch mit Blick auf Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes erhoben, weil strafgerichtliche Verurteilungen z.B. wegen Ehebruchs oder Kuppelei nicht erfasst werden sollen. Insoweit ist jedoch zu berücksichtigen, dass beide Delikte nicht systematisch strafrechtlich verfolgt worden sind und es sich bei dem Ehebruch-Straftatbestand um ein Antragsdelikt gehandelt hat. Darüber hinaus ist entscheidend, dass die mit den Verurteilungen der Homosexuellen verbundene besondere Schwere des Grundrechtseingriffs eine differenzierte Behandlung rechtfertigt. Denn die Strafverfolgung der Homosexuellen hatte erheblich weitreichendere Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Bereich mit der Folge, dass sich Homosexuelle auch nach Aufhebung der Strafbarkeit nicht in der Lage gesehen haben, sich zu ihrer Homosexualität öffentlich zu bekennen.
Zum anderen ist nachrangig als Maßnahme der Rehabilitation die Schaffung einer gesetzlichen Regelung zu erwägen, nach der ein Wiederaufnahmegrund auf Antrag oder von Amts wegen für die den Verurteilungen zugrunde liegenden Strafverfahren geschaffen wird. Dies könnte durch die Erweiterung des Katalogs der Wiederaufnahmegründe in § 359 StPO oder aber durch die Schaffung eines neuen Wiederaufnahmeverfahrens geschehen. Eine vergleichbare Regelung hat der Gesetzgeber bereits mit dem in § 79 BVerfGG normierten Wiederaufnahmeverfahren für den Fall vorgesehen, dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung auf einer für mit dem Grundgesetz unvereinbaren oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruht. Aus verfassungsrechtlicher Sicht dürfte es sich um einen gangbaren Weg handeln. Den Bedenken einer geltend gemachten Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes kann auf diese Weise Rechnung getragen werden, da die Durchbrechung der Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen durch die hierfür originär zuständigen Gerichte erfolgt. Die Schaffung eines Wiederaufnahmegrundes auf Antrag oder von Amts wegen ist grundsätzlich auch geeignet, den Konflikt zwischen den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen. Soweit bei dieser Form der Rehabilitation entgegengehalten wird, dass ein Wiederaufnahmeverfahren angesichts der zum Teil lange zurückliegenden Urteile unzulänglich oder ungeeignet sein könnte, können derartige Unabwägbarkeiten dadurch umgegangen werden, dass der Gesetzgeber im Falle der Wiederaufnahme des Strafverfahrens dessen gleichzeitige Einstellung hinsichtlich der entsprechenden Tatvorwürfe gesetzlich vorsieht.
Bei den aufgezeigten Ansätzen der Rehabilitation ist zugleich die Beseitigung der strafrechtlichen Konsequenzen der früheren Verurteilungen in die gesetzliche Regelung einzubeziehen, indem etwa die Verurteilungen aus dem Bundeszentralregister gelöscht werden. Zudem ist die Frage nach der Entschädigung der Betroffenen in den Blick zu nehmen. Denn die Wirkungen der Verurteilungen erschöpften sich für die Betroffenen nicht in dem Strafausspruch, sondern führten zugleich zu ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung. Die Betroffenen mussten oftmals ihren Beruf aufgeben oder bei Bekanntwerden ihrer Homosexualität zumindest damit rechnen, den Beruf zu verlieren und ins soziale Abseits gedrängt zu werden. Diese Folgen gebieten eine Entschädigungsleistung, die sich in ihrer Höhe an dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen orientieren kann."
* Die Begründungen von Ziffer 1 und Ziffer 2 sind textidentisch.