Punkt 54 der 904. Sitzung des Bundesrates am 14. Dezember 2012
Der Bundesrat möge beschließen, zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Ziel des Richtlinienvorschlags, in absehbarer Zeit zu einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern in den Aufsichtsräten und Vorständen börsennotierter Gesellschaften zu gelangen, ausdrücklich.
- 2. Der Bundesrat ist aber der Ansicht, dass für die vorgeschlagene Legislativmaßnahme, die vor allem spezifische Vergünstigungen von Frauen im Auswahlverfahren für Aufsichtsratsmitglieder mit einer Zielvorgabe eines 40-prozentigen Frauenanteils vorsieht, ausschließlich die Mitgliedstaaten zuständig sind. Der Richtlinienvorschlag verstößt zudem gegen den Subsidiaritätsgrundsatz, weil die vorgeschlagenen Maßnahmen auch auf Ebene der Mitgliedstaaten ausreichend verwirklicht werden können.
- 3. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU (siehe die Stellungnahmen des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5, und vom 26. März 2010, BR-Drucksache 043/10(B) , Ziffer 2). Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht.
Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden. Zudem wäre es widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt, rügen könnten.
- 4. Nach Auffassung des Bundesrates lässt sich die vorgeschlagene Richtlinie nicht auf Artikel 157 Absatz 3 AEUV stützen.
Gemäß Artikel 157 Absatz 3 AEUV darf die Union Maßnahmen zur Gewährleistung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen treffen. Der Richtlinienvorschlag enthält in seinem Kern die Vorgabe, ein transparentes Auswahlverfahren für Aufsichtsratsmitglieder vorzusehen und bei gleicher Qualifikation im Grundsatz dem weiblichen Kandidaten den Vorzug einzuräumen, so dass spätestens zum 1. Januar 2020 die Zielvorgabe eines 40-prozentigen Frauenanteils in Aufsichtsräten erreicht wird. Damit enthält er positive Gleichstellungsmaßnahmen, die im Einzelfall zu einer Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes führen können. Positive Maßnahmen, die auf die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen gerichtet sind, können mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Einklang stehen. Ausweislich der Zuständigkeitsverteilung im AEUV sind hierzu aber nur die Mitgliedstaaten berufen. Das ergibt sich aus Artikel 157 Absatz 4 AEUV, der ausdrücklich nur den Mitgliedstaaten die Befugnis zuweist, positive Gleichstellungsmaßnahmen zum Ausgleich bestehender faktischer Benachteiligung zu erlassen.
- 5. Eine Ermächtigung der Union, spezifische Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht zu schaffen, ergibt sich auch nicht aus Artikel 23 Charta der Grundrechte. Denn ausweislich Artikel 51 Absatz 2 Charta der Grundrechte dehnt diese den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten für die Union noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Artikel 23 Charta der Grundrechte kann daher schon deshalb keine mit der Zuständigkeitsverteilung in Artikel 157 AEUV nicht in Einklang stehende Aufgabenzuweisung an die Union entnommen werden.
- 6. Unabhängig vom Vorliegen einer Rechtsgrundlage verstößt der Richtlinienvorschlag gegen den Grundsatz der Subsidiarität. Der Bundesrat bezweifelt, dass die Ziele des Richtlinienvorschlags auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. In der Begründung des Rechtsetzungsvorschlags ist ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten zwar generell effizient handeln können, um für eine ausgewogenere Vertretung von Männern und Frauen in Aufsichtsräten zu sorgen. Das Beispiel einiger Mitgliedstaaten zeigt, dass es ohne weiteres möglich ist, sogar eine verbindliche Frauenquote auf nationaler Ebene einzuführen. Ausweislich der Begründung des Richtlinienvorschlags sind einige Mitgliedstaaten aber nicht bereit, die nach Ansicht der Kommission notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
- 7. Können die Mitgliedstaaten ein bestimmtes Ziel eigenständig erreichen, so ist die EU aber regelmäßig auch dann an einer Maßnahme gehindert, wenn die Mitgliedstaaten trotz ihrer Handlungsfähigkeit nicht tätig werden. Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn die Mitgliedstaaten es unterlassen, ein Vertragsziel der EU auf nationaler Ebene zu verfolgen. Dieser Ausnahmefall liegt hier schon deshalb nicht vor, weil es bei der gesellschaftlich umstrittenen Frage, wie die Vertretung von Frauen in Führungsgremien der Wirtschaft am besten erhöht werden kann, nicht um die Gegenpole Handeln und Unterlassen geht. Vielmehr ist eine Vielzahl von hierauf zielenden Maßnahmen denkbar. Den Mitgliedstaaten, die bislang keine verbindliche Zielvorgabe eingeführt haben, kann daher nicht vorgehalten werden, sie unterließen es, ein Vertragsziel der EU zu verfolgen. Dazu kommt, dass der Entscheidung für eine bestimmte Maßnahme eine Abwägungsentscheidung zwischen verschiedenen Rechtsgütern (Ziel, den Anteil von Frauen in Führungsgremien zu erhöhen auf der einen Seite, Rechtspositionen der Unternehmenseigner und männlichen Mitbewerber auf der anderen Seite) vorausgehen muss. Das zeigt sich schon daran, dass der Richtlinienvorschlag selbst bezüglich Vorständen und Aufsichtsräten zu unterschiedlichen Abwägungsergebnissen kommt. Gleiches gilt für kleine und mittlere Unternehmen. In den Fällen, in denen die Mitgliedstaaten eine Maßnahme ausreichend auf nationaler Ebene verfolgen können, hindert das Subsidiaritätsprinzip die Organe der EU daran, ihr Abwägungsergebnis an die Stelle des Ergebnisses der Mitgliedstaaten zu setzen, nur weil der nationale Abwägungsprozess zu lange dauert oder nicht das von den EU-Organen erwünschte Ergebnis hervorbringt. Da die Mitgliedstaaten die vorgeschlagenen Maßnahmen selbst genauso gut ergreifen können, verstößt der Richtlinienvorschlag gegen das Subsidiaritätsprinzip.
- 8. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Mitgliedstaaten die Anwendung des Auswahlverfahrens für Aufsichtsräte aussetzen können, wenn sie nachweisen können, dass sie die Zielvorgabe des Vorschlags - Anteil von Frauen im Aufsichtsrat von 40 Prozent bis zum 1. Januar 2020 - auf andere Art und Weise erreichen. Denn diese Gestaltungsbefugnis für das "Wie" der Zielerreichung ändert nichts daran, dass die Zielvorgabe selbst und der Zeitraum, bis zu dem sie erreicht werden muss, seitens der EU vorgegeben werden, obwohl die Mitgliedstaaten hierzu selbst ebenso in der Lage wären.
- 9. Aspekte, die den Schluss zuließen, dass die Ziele des Richtlinienvorschlags besser auf der Ebene der EU erreicht werden können, sind nicht ersichtlich. Insbesondere weist der Richtlinienvorschlag keinen nachvollziehbaren Bezug zur Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit auf. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten durch unterschiedlich ausgestaltete nationale Besetzungsverfahren oder Zielvorgaben für den Anteil von Frauen im Aufsichtsrat sind weder bekannt noch belegt. Durch die Wahl einer mindestharmonisierenden Maßnahme und die Gestaltungshoheit der Mitgliedstaaten für die Sanktionen wäre die rechtsvereinheitlichende Wirkung der Richtlinie zudem sehr begrenzt.
- 10. Die EU ist mithin für den Erlass der Maßnahme nicht zuständig. Selbst wenn die EU über eine Kompetenz verfügte, verstößt der Richtlinienvorschlag gegen beide Ausprägungen des Subsidiaritätsgrundsatzes: Das Ziel der Maßnahme lässt sich auf nationaler Ebene ausreichend verwirklichen. Es ist zudem nicht erkennbar, welcher Mehrwert einem Handeln auf der übergeordneten Ebene zukäme.