Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 10. Dezember 2010
An die Präsidentin des Bundesrates
Frau Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz, Bremen und Nordrhein-Westfalen haben beschlossen, beim Bundesrat den in der Anlage mit Begründung beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einzubringen.
Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der 878. Sitzung des Bundesrates am 17. Dezember 2010 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuleiten.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Entschließung des Bundesrates zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
Der Bundesrat möge beschließen:
I. Der Bundesrat stellt fest:
- 1. Menschen, die Vollzeit arbeiten, müssen von ihrer Arbeit menschenwürdig leben können. Um sicherzustellen, dass über eine Vollzeitbeschäftigung ein Existenz sicherndes und eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichendes Arbeitseinkommen erzielt werden kann, brauchen wir einen Rechtsanspruch auf eine Mindestvergütung. Dieser gesetzliche Mindestlohn als Lohnuntergrenze ist ein wichtiger Beitrag, um die Würde der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu achten und Armut zu bekämpfen. Teilzeitbeschäftigte sind ebenfalls vor Niedriglöhnen zu schützen.
- 2. Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn würde sich der Niedriglohnsektor weiter ausweiten mit der Folge, dass immer weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von ihrer Arbeit leben könnten und ergänzende Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II beziehen müssten (Institut Arbeit und Qualifizierung (IAQ): nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 9,3 Mrd. Euro pro Jahr). Der Gemeinschaft der Steuerzahler soll nicht zugemutet werden, unangemessen niedrige Löhne von Unternehmen durch ergänzende Sozialleistungen zu finanzieren. Deshalb ist es auch wichtig, die Regelung der Hinzuverdienstgrenzen im SGB II nicht isoliert zu betrachten. Ziel muss weiterhin sein, einen menschenwürdigen Lebensstandard über Arbeitseinkommen sicher zu stellen.
- 3. Niedriglöhne schwächen aufgrund der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Sozialversicherungen auch die soziale Absicherung der Beschäftigten im Alter. Mit einem ausreichenden Mindestlohn würde erreicht, dass vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Alterssicherung erreichen können, die oberhalb der bedürftigkeitsorientierten Leistungen der Grundsicherung im Alter liegt. Gleichzeitig würde durch einen gesetzlichen Mindestlohn die Erosion der Beitragsbasis der Sozialversicherungen gestoppt.
- 4. Niedriglohn betrifft überwiegend weibliche Beschäftigte: Der Anteil der abhängig beschäftigten Frauen mit Niedriglohn ist etwa doppelt so groß wie derjenige der Männer (Statistisches Bundesamt 2009, Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit). Das in Deutschland bestehende Lohngefälle zwischen Frauen und Männern von 23 Prozent ist u.a. auf das Fehlen eines gesetzlichen Mindestlohns zurückzuführen. Ein gesetzlicher Mindestlohn wäre daher ein wichtiger Beitrag zur Herstellung der Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern.
- 5. Fairer Wettbewerb sollte über Produktivität und Qualität der Leistung und nicht über Lohndrückerei ausgetragen werden. Lohndrückerei und entsprechender Unterbietungswettbewerb belastet seriös arbeitende Unternehmen und verdrängt diese vom Markt.
- 6. Auch die Erfahrungen der europäischen Nachbarländer mit Mindestlöhnen sind positiv. In Deutschland hat die Einführung von branchenbezogenen Mindestlöhnen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) der Beschäftigungssituation in den in das AEntG aufgenommen Branchen nicht geschadet. Die Arbeitgeber der Branchen, für die Mindestlöhne bereits vereinbart wurden, begrüßen diese, weil sie Lohndrückerei und Unterbietungswettbewerb unterbinden und Beschäftigung sichern.
- 7. Auch im Hinblick auf die für die EU-Beitrittsländer mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien am 1. Mai 2011 eintretende volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ist es erforderlich, für alle Beschäftigten einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, um weiteren Druck auf das deutsche Lohngefüge zu verhindern. Darüber hinaus gehende branchenbezogene Mindestlöhne nach dem AEntG oder Tarifvertragsgesetz bleiben davon unberührt.
- 8. Die Zahl der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen, die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angemessene Arbeitsbedingungen garantieren, ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen und liegt mittlerweile bei unter 1 Prozent aller Tarifverträge (2009). Auch die Tarifbindung geht seit Jahren stetig zurück. Tarifverträge gelten nur noch für etwa 50 Prozent aller Arbeitsverhältnisse (2009). Nur in Luxemburg und Großbritannien werden noch weniger Beschäftigte von Tarifverträgen erfasst. In den übrigen EU-Staaten ist das Niveau der Tarifbindung deutlich höher. Die Spanne reicht von 70 Prozent in Portugal bis 99 Prozent in Österreich. Es hat sich in Deutschland eine fast ausschließlich wettbewerbsorientierte Tarifpolitik entwickelt, die die Löhne in den letzten zwei Jahrzehnten hinter der Produktivitätsentwicklung hat zurückbleiben lassen. Deutschland zählt heute zu den europäischen Ländern mit dem höchsten Anteil an Niedriglohnbeschäftigung.
II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vor allem die nachfolgenden Punkte regelt:
- - Es muss ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden, der eine unterste Grenze des Arbeitsentgelts festsetzt, unterhalb derer keine Löhne und Gehälter vereinbart werden dürfen. Dieser Mindestlohn soll vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein existenzsicherndes Einkommen gewährleisten und eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Teilzeitbeschäftigte sind ebenfalls vor Niedriglöhnen zu schützen.
- - Der Mindestlohn soll als Bruttoarbeitsentgelt für eine Zeitstunde festgesetzt werden.
- - Der Mindestlohn wird von einer unabhängigen Kommission nach dem Vorbild Großbritanniens (Low Pay Comission) jährlich überprüft und vorgeschlagen. Er wird durch Rechtsverordnung festgesetzt.
- - Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) setzt die Mindestlohnkommission ein. Die Besetzung der Kommission wird gesetzlich vorgegeben. Die Kommission soll sich zu je einem Drittel aus Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern, Arbeitgeberinnen/Arbeitgebern und unabhängigen Wissenschaftsvertreterinnen und -vertretern zusammensetzen. Das BMAS wirkt darauf hin, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern gewährleistet wird.
- - Die Mitglieder der Kommission sollen keinen Weisungen unterliegen. Die Kommission wird von einer oder einem nicht stimmberechtigten Vorsitzenden geleitet, die oder der vom BMAS bestellt wird. Die Empfehlungen der Kommission sind schriftlich zu begründen.
- - Andere arbeitsvertragliche und tarifvertragliche Entgeltvereinbarungen sowie Entgeltfestsetzungen auf Grund anderer Gesetze sind nur zulässig, wenn sie ein höheres Arbeitsentgelt als den Mindestlohn vorsehen.
- - Den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, die den Mindestlohn nicht zahlen, wird die Berufung auf die für Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer bestehenden Ausschlussfristen untersagt. Mindestlohnansprüche können nicht verfallen. Ein Verzicht auf entstandene Mindestlohnansprüche ist unzulässig.
- - Die festgesetzten Mindestlöhne sind zwingend; ihre Einhaltung wird kontrolliert. Die Kontrolle der Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns erfolgt durch die Behörden der Zollverwaltung, die auch für die Kontrolle der Einhaltung der nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz zwingenden Arbeitsbedingungen zuständig sind.
Begründung:
Das Ausmaß der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland hat seit Mitte der 1990er Jahre deutlich zugenommen und liegt mittlerweile deutlich über dem europäischer Nachbarländer. Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) hat eine Bestandsaufnahme von 2008 ausgewertet und festgestellt, dass in diesem Jahr 6,55 Millionen Beschäftigte von Niedriglöhnen betroffen waren. Dies ist eine Steigerung allein zwischen 2004 und 2008 - also im Wirtschaftsaufschwung - um 650.000 Beschäftigte. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor sind im Vergleich von 1995 und 2007 inflationsbereinigt nicht gestiegen bzw. in Westdeutschland sogar gesunken. Der Anteil von Beschäftigten mit Niedriglöhnen von weniger als 50 Prozent oder sogar einem Drittel des Medians ist laut IAQ deutlich gestiegen. Aktuell bekommen 15 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Westen und 35 Prozent im Osten einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro.
Von Niedriglöhnen sind zwar insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen betroffen, aber auch unter den Vollzeitbeschäftigten arbeitet inzwischen jeder Siebte für einen Niedriglohn. Damit würde ein Mindestlohn auf Bruttostundenbasis sowohl Vollzeit- wie auch Teilzeitbeschäftigte vor unangemessenen niedrigen Löhnen schützen.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken hatten Rheinland-Pfalz und Bremen bereits im Jahr 2007 den "Entwurf eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohns - Mindestlohngesetz" im Bundesrat (Bundesrats-
Drucksache 622/07 (PDF) ) eingebracht. Leider wurde diese Chance nicht genutzt, so dass sich die Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland weiter fortsetzen konnte.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010 Standards für die Neubemessung der Regelsätze und Regelleistungen im Sozialgesetzbuch II und Sozialgesetzbuch XII gesetzt. Hilfebedürftige haben Anspruch auf die Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums.
Der Staat ist durch dieses Urteil auch in der Pflicht, sicher zu stellen, dass ein Arbeitnehmer zumindest dieses menschenwürdige Existenzminimum erhält. Dies kann er einerseits über ergänzende Sozialleistungen erreichen. Damit würde das Arbeitseinkommen zum Hinzuverdienst herabgestuft und die Arbeitsleistung des einzelnen nicht gewürdigt.
Der andere Weg führt über die Festsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns, der das menschenwürdige Existenzminimum während des Arbeitslebens und auch noch im Alter gewährleistet und zudem zwingend erforderlich ist, um sowohl bei Löhnen als auch bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe eine Armut und Ausgrenzung bewirkende "Entwicklung nach unten" zu verhindern.
Für die Einführung eines solchen gesetzlichen Mindestlohns, der als Mindestforderung ein angemessenes Entgelt für Vollzeitarbeit und die Ernährung der Familie gewährleistet und eine Höhe haben soll, die die Inanspruchnahme von sozialrechtlichen Transferleistungen auch im Alter entbehrlich macht, hat sich auch der 68. Deutsche Juristentag 2010 ausgesprochen.
Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns warnen vor dessen negativen Beschäftigungswirkungen. Die neuere empirische Forschung - vor allem des UC Institute for Labor and Employment in Berkeley - sowie zahlreiche Studien im Auftrag der britischen Low Pay Commission kommen jedoch zum Ergebnis, dass die Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen neutrale oder sogar leicht positive Beschäftigungseffekte hat.
Über die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohnes sollte nicht das Parlament entscheiden. Es bietet sich an, dass eine unabhängige Mindestlohnkommission nach dem Vorbild Großbritanniens (Low Pay Commission), die im Einvernehmen mit den Tarifparteien eingesetzt wird, regelmäßig über die Einkommensentwicklung im unteren Bereich berichtet und eine Empfehlung ausspricht. Die endgültige Festsetzung des Mindestlohnes soll dann durch das BMAS erfolgen.
Durch die Berufung von Vertreterinnen und Vertretern aus Kreisen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie der Wissenschaft in die Kommission wird eine ausgewogene Berücksichtigung der für die Entscheidung erforderlichen Aspekte gewährleistet.
Die vorgesehene Regelung steht im Einklang mit dem Verfassungsrecht. Sie schafft einen verfassungsmäßig gebotenen Ausgleich zwischen der Tarifautonomie ( Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes - GG) und dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1 GG). Die Festsetzung des Mindestlohnes dient dazu, die existenzsichernde Funktion des Arbeitsentgelts und die elementare Würde und ökonomische Funktion von Arbeit zu sichern. Sie soll in den Bereichen, in denen die Gefahr besteht, dass elementare Gerechtigkeitsmaßstäbe verletzt werden, Lohngerechtigkeit sichern. Dieses Ziel hat aufgrund des Sozialstaatsprinzips und aufgrund der Berufsfreiheit Verfassungsrang.
Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn, der für alle Menschen im Land transparent die Lohnuntergrenze festlegt, sichert zudem, dass jede einzelne Arbeitnehmerin und jeder einzelne Arbeitnehmer ihren/seinen Rechtsanspruch ohne weiteres beziffern und rechtlich geltend machen kann.
Beispiele aus europäischen Nachbarländern zeigen, dass sich gesetzliche und tarifliche Mindestlöhne gut vereinbaren lassen. Das AEntG ist (in seinem die Erstreckung tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen betreffenden Teil) auf einzelne Branchen beschränkt. Dieses Instrument der Erstreckung auf alle Arbeitgeber und -nehmer einer Branche sollte neben der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns insbesondere auch im Hinblick auf die volle Freizügigkeit im Mai 2011 durch eine Öffnung des AEntG allen Branchen zur Verfügung gestellt werden.
Unabhängig hiervon ist auch im Hinblick auf den Eintritt der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-Beitrittsländer mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien zum 1. Mai 2011 die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum Schutz der Arbeitnehmer und auch der Arbeitgeber vor einem Unterbietungswettbewerb bei Löhnen unerlässlich und wichtig für Bereiche, in denen die Tarifvertragsparteien nicht präsent oder zu schwach sind, um angemessene Löhne zu vereinbaren.