892. Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2012
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz (AV), der Rechtsausschuss (R) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Vorhaben der Kommission, durch Einrichtung einer Plattform, die eine unabhängige, transparente, wirksame und faire außergerichtliche Online-Beilegung von grenzüberschreitenden Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmern ermöglichen soll, zur Entwicklung des europäischen Binnenmarkts und zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.
- 2. Der Bundesrat begrüßt alle Bestrebungen, Handelshemmnisse abzubauen und den Binnenmarkt zu fördern. Die Möglichkeit zur außergerichtlichen Streitbeilegung kann hierzu unter Umständen einen Beitrag leisten.
- 3. Zur Vermeidung von Disparitäten sollte im Interesse der Rechtsanwender sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher Hinsicht ein uneingeschränkter Gleichlauf zwischen den Vorschriften der Verordnung über Online-Streitbeilegung und der Richtlinie über alternative Streitbeilegung hergestellt werden, soweit die beiden Rechtsakte identische Regelungsbereiche betreffen.
In zahlreichen Artikeln findet sich eine abweichende Wortwahl, ohne dass dabei ein Unterschied im Sinngehalt zu erkennen wäre oder beabsichtigt sein dürfte.
Auch vermag der Bundesrat nicht nachzuvollziehen, warum einzelne Begriffe zwar in beiden Rechtsakten verwendet, jedoch nur in einem der Rechtsakte definiert werden und warum teilweise mit Verweisungen auf den jeweils anderen Rechtsakt gearbeitet, an anderer Stelle die Begriffsbestimmung dagegen wiederholt wird.
- 4. Der in Artikel 2 des Verordnungsvorschlags festgelegte sachliche Geltungsbereich erstreckt sich auf vertragliche Streitigkeiten aus dem Online-Verkauf von Waren oder der Online-Bereitstellung von Dienstleistungen.
- - Teilweise ist der Anwendungsbereich damit enger als derjenige der von der Kommission im Oktober 2011 vorgeschlagenen Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht. Letztere erfasst insbesondere auch Streitigkeiten über vorvertragliche Pflichten sowie über Verträge über die Bereitstellung digitaler Güter. Zudem ist die Definition der grenzüberschreitenden bzw. grenzübergreifenden Streitigkeit darin wesentlich weiter. Durch die weite Fassung des Begriffs der Niederlassung in Artikel 4 des vorliegenden Verordnungsvorschlags wird dessen Anwendungsbereich gegenüber der vorgeschlagenen Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, die den dort verwendeten Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts deutlich enger fasst, noch weitergehend eingeschränkt. Nach Auffassung des Bundesrates sollte der Anwendungsbereich der Verordnung über Online-Streitbeilegung dahingehend erweitert werden, dass alle Streitigkeiten erfasst werden, auf die die Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Anwendung finden soll.
- - Der Bundesrat regt an, eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf Streitigkeiten, die die Haftung für fehlerhafte Produkte im Sinne der Richtlinie 85/374/EWG betreffen, zu erwägen.
- 5. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass im Interesse der Schaffung eines breiten, uneingeschränkten Zugangs von Verbrauchern und Unternehmern in der EU zu Verfahren der Online-Streitbeilegung bei grenzübergreifenden Rechtsgeschäften und zur Förderung eines funktionierenden Binnenmarkts unabhängig von einzelnen Vertriebsformen der Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung nicht ausschließlich auf grenzübergreifende Online-Geschäfte beschränkt werden sollte. Nach Ansicht des Bundesrates sollten Verbraucher, die ein grenzübergreifendes Rechtsgeschäft beispielsweise per Telefon, Telefax oder persönlich vor Ort abgeschlossen haben, in gleichem Umfang von den Vorteilen der europäischen Online-Streitbeilegung unter Verwendung der Europäischen Plattform für Online-Streitbeilegung (OS-Plattform) profitieren. Der Bundesrat spricht sich somit für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des vorliegenden Verordnungsvorschlags auf sämtliche Formen des Abschlusses von grenzübergreifenden Rechtsgeschäften zwischen Verbrauchern und Unternehmen aus.
- 6. Ferner geht nach Auffassung des Bundesrates aus den Begriffsbestimmungen in Artikel 4 des Verordnungsvorschlags nicht eindeutig hervor, ob der Anwendungsbereich der Verordnung schon eröffnet ist, wenn die Dienstleistung online angeboten und online "bestellt" wird (so die Definition in Artikel 4 Buchstabe c) oder nur dann, wenn die Dienstleistung darüber hinaus auch online "erbracht" wird, worauf die Einschränkung in Artikel 4 Buchstabe d abstellt, die bestimmt, dass "Offline-Dienstleistungen" und "Dienstleistungen, die nicht über elektronische Verarbeitungs- und Speichersysteme erbracht werden", als nicht auf elektronischem Weg erbracht gelten. Nach dieser Einschränkung wäre aber auch der in der begleitenden Mitteilung der Kommission "Alternative Verfahren zur Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten im Binnenmarkt" vom 29. November 2011, KOM (2011) 791 endg. auf Seite 8 ff. gerade als Beispiel für den Mehrwert der OS-Plattform angeführte Fall, nämlich die Buchung einer Urlaubsreise über das Internet, nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst. Für den Fall, dass Letzteres nicht bezweckt sein sollte, spricht sich der Bundesrat für eine entsprechende sprachliche Klarstellung aus.
- 7. Nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 7 Absatz 3 des Verordnungsvorschlags haben die OS-Mittler die Aufgabe, die Parteien über die Vor- und Nachteile der von den AS-Stellen angewandten Verfahren zu informieren bzw. zu beraten. Nach Artikel 8 Absatz 2 sind die Parteien hinsichtlich jeder AS-Stelle über etwaige Gebühren, die Abwicklungssprache, die Verfahrensdauer, etwaige Anwesenheitspflichten sowie die Frage der Bindungswirkung des AS-Ergebnisses aber bereits von der OS-Plattform zu informieren. Dies legt nahe, dass die Information und Beratung über Vor- und Nachteile im Sinne der Artikel 6 und 7 durch die OS-Mittler über die in Artikel 8 genannten Kriterien hinausgehen soll und damit notwendigerweise subjektive Bewertungen enthalten wird.
Der Bundesrat hegt Zweifel, ob die von den Mitgliedstaaten eingerichteten OS-Mittler [dies leisten können und ob sie] mittels subjektiver Bewertungen in den Markt eingreifen und im Ergebnis positive oder negative Bewertungen hinsichtlich der Verfahren einzelner AS-Stellen anhand nicht näher definierter Kriterien abgeben sollten.
- 8. Der Bundesrat begrüßt im Grundsatz die Intention, durch Vorgabe von Höchstfristen für den Abschluss einzelner Streitbeilegungsverfahren die Effizienz, Transparenz und Akzeptanz des Konzepts der alternativen Streitbeilegung zu fördern. Er weist jedoch darauf hin, dass die besondere Komplexität gerade von grenzübergreifenden vertraglichen Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen in der vorrangigen Ermittlung der zuständigen AS-Stelle sowie der Überwindung etwaiger Sprach- und Rechtsanwendungsprobleme besteht. Diesen Verfahrensschritten sollte auch im Bereich der Online-Streitbeilegung durch angemessene Fristvorgaben verstärkt Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund hält der Bundesrat die in Artikel 9 Buchstabe b des Verordnungsvorschlags vorgegebene Regelfrist von 30 Tagen für den Abschluss von über die OS-Plattform eingereichten Beschwerden als zu kurz bemessen. Im Interesse aller potenziellen Verfahrensbeteiligten regt der Bundesrat an, insoweit eine inhaltliche Annäherung des Verordnungsvorschlags an die entsprechenden Fristvorgaben (90 Tage) des Vorschlags für eine Richtlinie über alternative Streitbeilegung (KOM (2011) 793 endg., vgl. BR-Drucksache 772/11 (PDF) und zu772/11) vorzunehmen.
- 9. Angesichts der besonderen Bedeutung des Netzes der Europäischen Verbraucherzentren (ECC-NET) für die Koordination grenzübergreifender Verfahren der alternativen Streitbeilegung bei Verbraucherstreitigkeiten betont der Bundesrat die Notwendigkeit, bei der Umsetzung des vorliegenden EU-Konzepts durch die Mitgliedstaaten verstärkt auf die Ressourcen dieses Netzwerks zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund sieht er besondere Vorteile in der Ansiedlung der gemäß Artikel 6 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags von den Mitgliedstaaten zu benennenden OS-Kontaktstellen bei den jeweiligen nationalen Mitgliedsorganisationen des vorgenannten Netzwerks.
- 10. Der Verordnungsvorschlag geht allerdings in einzelnen Punkten zu weit.
- 11. Der Bundesrat regt an, insbesondere die Vorschriften zu den Informationspflichten der Unternehmer (Artikel 13) mit dem Ziel der Bürokratiekostenentlastung vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen zu überarbeiten. Die Unternehmer sollten nicht verpflichtet sein, den Verbraucher über die Möglichkeiten und das Procedere der außergerichtlichen Streitbeilegung im Rahmen der OS-Plattform zu informieren. Dies gilt insbesondere in dem Fall, dass der Unternehmer zu einer außergerichtlichen Streitbeilegung nicht bereit ist. Angesichts der - insbesondere im Fernabsatzbereich - bereits bestehenden umfassenden Informationspflichten sollten den Unternehmen nicht noch zusätzliche Bürokratielasten auferlegt werden.
- 12. Eine Verpflichtung der Unternehmer zur Mitwirkung an der außergerichtlichen Streitbeilegung lehnt der Bundesrat ab. Eine Inanspruchnahme außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren im grenzüberschreitenden Handel sollte der Entscheidung des Unternehmers im Einzelfall vorbehalten bleiben.
- 13. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
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- 14. Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Ausschuss für Kulturfragen empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.