912. Sitzung des Bundesrates am 5. Juli 2013
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Finanzausschuss (Fz), der Ausschuss für Kulturfragen (K) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Feststellung der vorgeschlagenen Ratsempfehlung, dass die öffentlichen Finanzen in Deutschland insgesamt solide sind. Der Bundesrat hält zum einen fest, dass hierzu die Konsolidierungsanstrengungen aller staatlichen Ebenen beigetragen haben. Zum anderen ist der Bundesrat der Auffassung, dass eine Verbesserung der strukturellen Einnahmebasis von Bund, Ländern und Kommunen erforderlich ist, um die Erbringung der notwendigen staatlichen Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger bei gleichzeitiger Einhaltung der verfassungsrechtlich verankerten Schuldengrenzen auch künftig zu gewährleisten. Der Bundesrat hält es vor diesem Hintergrund für geboten, Bezieher sehr hoher Einkommen und Vermögende stärker an der weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu beteiligen. Hierzu ist insbesondere der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer von 42 auf 49 Prozent zu erhöhen, damit Besserverdienende einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Zusätzlich bedarf es der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, um große Vermögen auch wieder an der Finanzierung staatlicher Leistungen zu beteiligen.
- 2. Der Bundesrat sieht in der Einführung eines Mindestlohns eine geeignete Maßnahme, um die Situation von Geringverdienern - wie in der vorgeschlagenen Ratsempfehlung angemahnt - zu verbessern. Nach Auffassung des Bundesrates kann mit dieser Maßnahme darüber hinaus ein die Binnennachfrage stützendes Lohnwachstum erreicht und gleichzeitig für eine Entlastung der Sozialsysteme und für Mehreinnahmen in den öffentlichen Haushalten gesorgt werden. Der Bundesrat fordert daher, dass der vom Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf für die Einführung eines Mindestlohns noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
- 3. Der Bundesrat teilt die Forderung der vorgeschlagenen Ratsempfehlung, die signifikanten fiskalischen Fehlanreize für Zweitverdiener abzubauen, die durch das wirtschafts- und gesellschaftspolitisch überholte Modell des Ehegattensplittings entstehen.
- 4. Der Bundesrat hält wie die vorgeschlagene Ratsempfehlung eine Überprüfung der bisherigen Anwendungsbereiche für den ermäßigten Umsatzsteuersatz und der vollständigen Umsatzsteuerbefreiung für dringend erforderlich. Der Bundesrat bedauert, dass die derzeitige Legislaturperiode des Deutschen Bundestags abzulaufen droht, ohne dass die von der Bundesregierung seit Langem angekündigte Überprüfung des Anwendungsbereichs des ermäßigten Satzes bei der Umsatzsteuer tatsächlich angegangen worden sein wird.
- 5. Der Bundesrat unterstützt die Ziele der Europa-2020-Strategie im Bildungsbereich und verweist in diesem Zusammenhang auf die nationalen Ziele, die sich Deutschland für die Reduktion der Zahl der frühen Schulabgänger und die Erhöhung der Zahl der 30- bis 34-Jährigen mit einem Hochschul- oder gleichwertigen Abschluss gesetzt hat. Er bedauert in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitsunterlage der Kommission (SWD(2013) 355 final) bei der Angabe der "Personen mit Hochschulabschluss" (vgl. Tabelle VIII: Arbeitsmarkt- und Sozialindikatoren) nicht die nationale Definition dieses Ziels (unter Einbezug von Personen mit ISCED-4-Abschlüssen) berücksichtigt.
Er unterstreicht zugleich die Notwendigkeit weiterer, kontinuierlicher Anstrengungen hinsichtlich der Förderung der Qualität der Bildungs- und Ausbildungssysteme in der EU und würdigt in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Mehrwert der europäischen Bildungszusammenarbeit.
- 6. Gleichzeitig erinnert er daran, dass die europäische Bildungskooperation ein freiwilliger Prozess ist, der sich aufgrund der vertraglich festgelegten Kompetenzverteilung jedweder Vorgaben durch die europäische Ebene entzieht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausrichtung der europäischen Bildungskooperation auf den Europa-2020-Prozess und der hiermit verbundenen Bestrebungen einer deutlichen Verschärfung der offenen Methode der Koordinierung (vgl. zuletzt BR-Drucksache 725/12(B) ).
- 7. Der Bundesrat stellt in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass bildungsbezogene länderspezifische Empfehlungen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten unberührt lassen müssen. Dies umfasst auch die Überwachung der Implementierung im Rahmen des Europäischen Semesters.
- 8. Der Bundesrat erkennt die wichtige Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung für die Beschäftigungsfähigkeit der jungen Generation bzw. als Beitrag für nachhaltiges und stabiles Wirtschaftswachstum an. Er warnt aber erneut vor einer Verkürzung der Bildung auf die Bereitstellung von "Humankapital" für die Wirtschaft, orientiert an kurzfristigen Arbeitsmarkterfordernissen. Nur inhaltlich und pädagogisch breit angelegten, die Gesamtpersönlichkeit in den Blick nehmenden Bildungsangeboten kann es gelingen, junge Menschen in nachhaltiger Weise mit den personalen, sozialen, fachlichinhaltlichen und methodischen Kompetenzen auszustatten, auf die der Arbeitsmarkt bzw. die Wirtschaft angewiesen ist (vgl. zuletzt BR-Drucksache 141/13(B) ).
- 9. Die Kommission diagnostiziert in Erwägungsgrund 16 "ungerechtfertigte Beschränkungen und Martkzutrittsschranken" und kritisiert in diesem Zusammenhang den Meisterbrief oder gleichwertige Qualifikationen. Diese Kritik vermag der Bundesrat allerdings in Bezug auf berufsbezogene Ausbildungs-, auf Dienstleistungs- und auf Handwerksfragen nicht nachzuvollziehen. Einerseits wird sowohl in den Erwägungsgründen als auch den daraus abgeleiteten Empfehlungen das Reform- und Stabilitätsprogramm Deutschlands als erfolgreich anerkannt; andererseits werden Hinweise in Bezug auf Ausbildung, Dienstleistungswirtschaft und Handwerk sowie Baugewerbe gegeben, die weder in dem hier dargestellten Zusammenhang noch wegen mangelnder Begründung oder substantiierter Erläuterungen schlüssig sind.
- 10. Eine der wesentlichen Grundlagen der überdurchschnittlich guten Wirtschaftsund Beschäftigungslage sowie einer sehr geringen Arbeitslosigkeit besonders von Jugendlichen und Hochschulabgängern sowie der Teilhabe auch im Bildungsstandard Benachteiligter an Wertschöpfungswirkungen ist das deutsche marktkonforme Regelungssystem. Das zeigt sich insbesondere bei der hohen Wettbewerbsfähigkeit der durch Inhaberinnen und Inhaber des großen Befähigungsnachweises (Meisterinnen/Meister) betriebenen Handwerksbranchen, im Dualen Ausbildungssystem für alle Absolventen der unterschiedlichen Bildungsebenen (Lehre bis Duales Studium) sowie bei den im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur mäßig reglementierten freien Berufen.
- 11. Die bestehenden beruflichen Ausbildungs-, Berufszugangs- und Berufsausübungsregeln stützen somit die stabile deutsche Konjunktur und sind einer der Gründe der hohen Wettbewerbsfähigkeit sowie der im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten signifikant geringen Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugend und der Abgänger von Hochschulen.
Insgesamt ist der Bundesrat der Auffassung, dass sich das Duale Ausbildungssystem des Handwerks, der Industrie und des Handels als berufliches Ausbildungssystem bewährt hat und einer der Gründe für eine hohe Wettbewerbsfähigkeit im gewerblichen Bereich sowie die geringe Jugendarbeitslosigkeit ist. Das handwerkliche und gewerbliche Ausbildungssystem nimmt alle Absolventen der unterschiedlichen Bildungsebenen auf und gibt ihnen eine verlässliche berufliche Basis. Sowohl das Duale Ausbildungssystem als auch die qualifizierte Ausbildung der Inhaber von Handwerks- und Gewerbebetrieben haben sich als marktstützendes und marktkonformes Vorbild für andere Mitgliedstaaten in der EU entwickelt.
Der Zugang zur Dienstleistungswirtschaft im Bereich der freien Berufe berücksichtigt allseits wohlverstandene Interessen von Auftraggebern und Auftragnehmern. Zugangs- und Berufsausübungsbeschränkungen sind bereits wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Bedingungen (Grundrechte des Grundgesetzes) nicht diskriminierend und nur im Falle zwingender Gründe des Allgemeininteresses zulässig; insoweit sind das deutsche Verfassungs- und das europäische Dienstleistungs- und Niederlassungsrecht deckungsgleich.
Beschränkungen im Zugang zu freien Berufen und deren Ausübung erfolgen allenfalls zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor unqualifizierten Dienstleistungserbringern, ohne damit den freien Zugang und die Berufsausübung aus anderen Mitgliedstaaten unionsrechtswidrig auszuschließen oder zu behindern.
Begründung zu Ziffern 9 bis 11 (nur gegenüber Plenum):
Der Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für Deutschland ist umfangreich, in seinen Erwägungen und Schlussfolgerungen aber nicht vollständig beziehungsweise in Teilen nicht nachvollziehbar.
Der Vorschlag erfasst nicht die anerkannten positiven Auswirkungen des deutschen Regulierungssystems bei der nachhaltigen berufsqualifizierenden Ausbildung, dem Handwerk und den freien Berufen. Dessen Vorteile zeigen sich derzeit insbesondere im Vergleich zu den südeuropäischen Mitgliedstaaten, die nunmehr eine vergleichbare Umsetzung in ihrem Ordnungssystem zu erwägen scheinen, um soweit Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltige Arbeitsplätze aufzubauen.
- 12. Der Bundesrat begrüßt die Einschätzung der Kommission, wonach Deutschland auf einem guten Weg ist, das nationale Ziel von zehn Prozent des BIP für Forschungs- und Bildungsausgaben zu erreichen. Er nimmt die Empfehlung zur Kenntnis, den vorhandenen Spielraum zu nutzen, damit auf allen staatlichen Ebenen mehr und effizienter als bisher wachstumsfördernde Bildungs- und Forschungsausgaben getätigt werden.
- 13. Hinsichtlich der erneuten Empfehlung zum Ausbau von Ganztagskindertagesstätten und Ganztagsschulen verweist der Bundesrat wiederholt auf die erheblichen Anstrengungen der Länder, die seit einigen Jahren nachweislich in einer kontinuierlich und substantiell wachsenden Verfügbarkeit von Ganztagskindertagesstätten und Ganztagsschulen resultieren. Dem wird die Kommission mit ihrer Kritik nicht gerecht, auch wenn die Anstrengungen auf Länderebene auch in Zukunft fortgesetzt werden müssen. Mit Blick auf die Feststellung der Kommission, dass der potenzielle Beitrag von Ganztagsschulen zu einer qualitativ hochwertigen Bildung noch verbessert werden könne, weist der Bundesrat darauf hin, dass die Qualität des Bildungsangebots in vielen Ländern z.B. durch die Einführung von Qualitätsrahmen bzw. durch festgelegte Verfahren zur Qualitätssicherung und -entwicklung sichergestellt wird.
- 14. Der Bundesrat würdigt die Feststellung der Kommission, wonach Deutschland bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen und damit bei der Effizienz von Bildungsausgaben Fortschritte erzielt. Er erkennt gleichzeitig an, dass die weitere Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Menschen wie auch insgesamt die weitere Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit in den Schulsystemen der Länder eine vordringliche Aufgabe bleibt.
Unbeschadet dessen erscheint unter anderem die nicht näher begründete Forderung der Kommission nach einer "Überprüfung" der erst 2012 gestarteten Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener wegen noch nicht vorliegender Erkenntnisse zu ihrer Wirksamkeit deutlich verfrüht. Zudem sind die für Deutschland behaupteten niedrigen Beteiligungswerte am lebenslangen Lernen indikatorinduziert und berücksichtigen nicht die deutlich positiveren Ergebnisse des europaweiten "Adult Education Survey (AES)" 2012 (vgl. auch BR-Drucksache 141/13(B) ).
B
- 15. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik, der Gesundheitsausschuss und der Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.