Bundesministerium für Gesundheit Bonn, den 30. März 2007
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Harald Ringstorff
Sehr geehrter Herr Präsident,
der Bundesrat hat am 15. Dezember 2006 eine Entschließung zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen verabschiedet (BR-Drs. 823/06(B) ).
Als Anlage übersende ich Ihnen die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser Entschließung.
Mit freundlichen Grüßen
Ulla Schmidt
Stellungnahme der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen (BR-Drs. 823106 (Beschluss)) 21. März 2007
Die Bundesregierung hält an ihrer Stellungnahme vom 21. November 2006 (BR-Drs. 864/06 (PDF) ) zur Entschließung des Bundesrates für eine höhere Verbindlichkeit der Kinderfrüherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohle (BR-Drs. 056/06 (PDF) ) fest. Darin hat sie ausführlich den Rahmen der aus ihrer Sicht notwendigen und zielführenden Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung dargestellt.
Die Forderungen, die der Bundesrat in der Entschließung zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen erhebt, gehen über die von der Bundesregierung für notwendig und zielführend gehaltenen Maßnahmen hinaus. Daher werden sie aus den nachfolgenden Gründen abgelehnt.
- I. Für eine bundesgesetzliche Regelung zur Einführung verpflichtender Früherkennungsuntersuchungen ist eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes erforderlich. Abstrakt ist die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes wie folgt zu beurteilen:
Für Regelungen der allgemeinen Gesundheitsvorsorge steht den Ländern die alleinige Gesetzgebungskompetenz zu.
Der Bund kann demgegenüber auf Grund seiner Gesetzgebungskompetenz für die öffentliche Fürsorge (Artikel 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) Regelungen zur vorbeugenden Bekämpfung von drohenden Notlagen im Bereich der Jugendpflege und des Jugendschutzes treffen, sofern eine Erforderlichkeit für.. eine bundesgesetzliche Regelung besteht (Artikel 72 Abs. 2 GG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichte ist der Begriff der öffentlichen Fürsorge im Sinne des Grundgesetzes nicht eng auszulegen. Er umfasst auch präventive Maßnahmen zum Ausgleich von Notlagen und besonderen Belastungen sowie Vorkehrungen gegen die Gefahr der Hilfsbedürftigkeit (BVerfGE 88, 203, 329 f.). Maßgeblich für das Bestehen der Kompetenz des Bundes für die öffentliche Fürsorge ist der Schwerpunkt der zu treffenden Regelung. Gesetze, die in erster Linie dem Gesundheitswesen dienen, fallen nicht unter diesen Kompetenztitel. Die Entscheidung der Verfassung (Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 und 19a GG), dem Bund für das Gesundheitswesen nur in eingeschränktem Maße Gesetzgebungskompetenzen zuzuweisen, darf nicht durch eine erweiternde Auslegung der Gesetzgebungskompetenzen für die öffentliche Fürsorge unterlaufen werden (BVerfGE a.a.O.)
Die zurzeit in § 26 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 25 Abe. 3 SGB V beschriebene Untersuchung dient ausschließlich der Früherkennung von Krankheiten. Allein dadurch, dass die Teilnahme an ihnen zur Rechtspflicht erhoben wird, würde sich am Charakter und an der Funktion der Untersuchung nichts ändern. Die zurzeit durchgeführte Früherkennungsuntersuchung Ist Gesundheitsvorsorge. Der Bundesgesetzgeber hat durch § 26 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 25 Abs. 3 SGB V lediglich geregelt, dass sie zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört; für diese rein begünstigende Regelung konnte er auf Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (Sozialversicherung) zurückgreifen,:
Wenn die Früherkennungsuntersuchung ein. Instrument der Kinder- und Jugendhilfe werden soll, so dass über Artikel 74 Abs. 1 Nr. 7 GG an eine bundesgesetzliche Regelung zu denken wäre, Ist sie insgesamt unter dieser neuen Funktion und Zweckbestimmung zu betrachten. Die Teilnahmepflicht und die Meldepflicht bei Nichtteilnahme müssen dann in erster Linie als Regelungen zur Verhütung drohender Notlagen von Kindern ausgestaltet und begründet werden. Unter dieser neuen Funktion und Zweckbestimmung wäre die verpflichtende Teilnahme en Früherkennungsuntersuchungen aber kein verhältnismäßiges Mittel, Erkenntnisse über soziale Gefahren - Gewalteinwirkungen, Verwahrlosung, Vernachlässigung - zu gewinnen. Ärztliche Untersuchungen wären für sich alleine nicht geeignet, Vernachlässigung und Gewalt zuverlässig zu erkennen und zu unterbinden. Lediglich als Neben-Ergebnis der ärztlichen Untersuchung könnten auch Erkenntnisse über soziale Gefahren gewonnen werden, etwa wenn Gewalteinwirkungen erkennbar werden oder Entwicklungsdefizite auf Verwahrlosung, Vernachlässigung etc. hindeuten. Dabei wäre die Untersuchung als solche aber nicht einmal in der Lage, diese Erkenntnisse in fürsorgerische Maßnahmen umzusetzen, Die Untersuchungspflicht wäre für jene ca. 95 % der Eltern, die die Untersuchungen bereits jetzt freiwillig wahrnehmen, unnötig. Eltern jedoch, die ihre Fürsorgepflicht massiv verletzen, werden ihr Kind - mit oder ohne Untersuchungspflicht - einer ärztlichen Untersuchung entziehen.
- II. Bundesrat und Bundesregierung sind sich einig, dass gefährdete ,Kinder bzw. ihre Eltern möglichst frühzeitig identifiziert werden müssen, damit die zuständigen Behörden der Kinder- und Jugendhilfe oder des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) frühzeitig unterstützend und präventiv einschreiten können. Die Bundesregierung hält bei der Bekämpfung von Kindesvernachlässigung und -misshandlung in allererster Linie primär- und sekundärpräventive Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitsdienstes durch aufsuchende Hilfen und gezielte Förderung von Risikofamilien für notwendig. Es gilt - da wo nötig -, die Erziehungskompetenz der Eltern frühzeitig, möglichst bereits vor der Geburt ihres Kindes, zu stärken, indem durch die wirksame Vernetzung der Arbeit z.B. von Hebammen, Ärztinnen und Ärzten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ÖGD und Kinder- und Jugendhilfe Risiken für eine gesunde kindliche Entwicklung erkannt und die erforderlichen Hilfen rechtzeitig eingeleitet werden. Vorrangig sind der Schutz und die Förderung von Kindern aus besonders belasteten Familien insbesondere in der vulnerablen Zelt von der vorgeburtlichen Phase bis zum dritten Lebensjahr. Genau da setzt des auf der Grundlage des Koalitionsvertrages unter Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend entwickelte Aktionsprogramm "Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme" an, welches in Zusammenarbeit mit den Ländern flächendeckend umgesetzt werden soll.
Auch die vom Bundesministerium der Justiz auf Vorschlag der Experten-Arbeitsgruppe "Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls geplanten gesetzlichen Regelungen, z.B. die Konkretisierung der Rechtsfolgen des § 1666 BGB, werden eine verbesserte Grundlage für die Verpflichtung der Eltern, Leistungen der Gesundheitsvorsorge (z.B. Vorsorgeuntersuchungen) für ihr Kind in Anspruch zu nehmen, im Einzelfall schaffen.
Die Nichtteilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen kann im Einzelfall ein Indiz dafür sein, dass die Eltern der ihnen obliegenden Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachkommen. Daher haben Einladungsmodelle, bei denen die Information über die Nichtteilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen als Element bei der identifizierung gefährdeter Gruppen und als Ansatzpunkt für aufsuchende Hilfen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der Kinder-und Jugendhilfe nutzbar gemacht wird, Ihren Stellenwert innerhalb eines Gesamtkonzeptes frühpräventiver Hilfen. Eine sich darauf gründende Forderung von gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtuntersuchungen ist jedoch - auch vor dem Hintergrund der Ausführungen zu 1. - eine falsche Schwerpunktsetzung. Diese Einschätzung deckt sich auch mit einer aktuellen Stellungnahme des Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin. Danach belegen zahlreiche internationale Studien die Wirksamkeit aufsuchender Fürsorge in Risikofamilien zur Senkung der Zahl von Misshandlungen und Vernachlässigung von Kindern. Für die Einführung von Pflichtuntersuchungen konnten solche Effekte jedoch in keiner der Untersuchungen nachgewiesen werden,
Die meisten Kinder, die in den letzten Monaten auf tragische Weise schlimmsten Formen der Kindesvernachlässigung und -misshandlung ausgesetzt wurden, waren den kommunalen Behörden seit längerem bekannt. Es erscheint daher zunächst notwendig, die Schwierigkeiten bei der Identifikation und Betreuung von Risikofamilien genauer zu analysieren und auf dieser Grundlage den tatsächlichen Nutzen der derzeit diskutierten Handlungsvorschläge unter Berücksichtigung ihrer rechtlichen und organisatorischen Praktikabilität objektiv einzuschätzen.
Die Bundesregierung Ist bereit, sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten in diesem Prozess weiter zu beteiligen und den Dialog auf der Ebene der Jugend- und Familienministerinnen bzw. minister fortzusetzen, Sollten bei diesem gemeinsamen Prozess Defizite und Maßnahmen identifiziert werden, die von Seiten der Bundesregierung angegangen werden müssen, so wird die Bundesregierung die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten umfassend nutzen, um Abhilfe zu schaffen.