Der Niedersächsische Ministerpräsident Hannover, den 6. Oktober 2009
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Peter Müller
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Niedersächsische Landesregierung hat beschlossen, gemeinsam mit dem Land Sachsen-Anhalt dem Bundesrat die als Anlage beigefügte
- Entschließung des Bundesrates zur Verminderung der Belastung und zur Effizienzsteigerung der Sozialgerichte durch Änderungen im materiellen Recht und im Verfahrensrecht
zuzuleiten.
Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 862. Sitzung des Bundesrates am 16. Oktober 2009 zu setzen und sie anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Christian Wulff
Entschließung des Bundesrates zur Verminderung der Belastung und zur Effizienzsteigerung der Sozialgerichte durch Änderungen im materiellen Recht und im Verfahrensrecht
Der Bundesrat möge folgende Entschließung fassen:
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, neben der notwendigen Neuordnung der Organisationsstruktur der Arbeitsgemeinschaften auch im Bereich des von den Sozialgerichten anzuwendenden materiellen Rechts, namentlich im SGB II und im SGB V, sowie im Prozessrecht Änderungen in Betracht zu ziehen.
Diese Änderungen müssen bei Wahrung der derzeitigen Rechtspositionen der Betroffenen dazu beitragen, die Verfahrenszahlen vor den Sozialgerichten einzudämmen. Erforderlich sind klarere Vorgaben, die bei der Rechtsanwendung einerseits den rechtsuchenden Bürgern die Orientierung erleichtern, andererseits mehr bestandskräftige Entscheidungen bereits in den Verwaltungsverfahren ermöglichen und schließlich die verbleibenden gerichtlichen Verfahren vereinfachen und so zu einer Effizienzsteigerung der Sozialgerichte führen.
Die Beteiligung der Länder an der Überprüfung des Änderungsbedarfs ist sicherzustellen.
Die Ergebnisse der von der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister eingesetzten länderübergreifenden Arbeitsgruppe "Maßnahmen zur Verminderung der Belastung und zur Effizienzsteigerung der Sozialgerichte" und die "Empfehlungen zur Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit" der von den Ländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt initiierten Praktiker-Arbeitsgruppe müssen bei der Überprüfung des Änderungsbedarfs einbezogen werden.
Begründung
In vielen Bundesländern setzt sich die besorgniserregende Belastungsentwicklung in der Sozialgerichtsbarkeit ungebremst fort. Die Zahl der erledigten Verfahren kann mit den weiter steigenden Eingangszahlen nicht Schritt halten, so dass die Bestände weiter wachsen. Zuletzt standen im Jahr 2007 bei den Hauptverfahren erster Instanz in der Sozialgerichtsbarkeit 310.482 Eingängen rund 10 % geringere Erledigungen, nämlich 279.582 Verfahren, gegenüber. Die Bestände beliefen sich Ende 2007 in diesem Bereich auf 365.760 Verfahren.
Diese ungünstige Entwicklung hat sich im Jahr 2008 zumindest teilweise fortgesetzt, obwohl die Länder vielfache Anstrengungen wie überproportionale Neueinstellungen von Richterinnen und Richtern auf Probe und/oder personelle Unterstützungen durch Abordnungen aus anderen Gerichtsbarkeiten sowie sonstige personalwirtschaftliche Maßnahmen unternommen haben. Weitere Neueinstellungen werden nicht vermeidbar sein, indes sind ihnen wegen der Haushaltslage in den Ländern ebenso Grenzen gesetzt wie im Hinblick auf eine ausgewogene Altersstruktur der Richterschaft.
Die ungünstige Entwicklung bei den Verfahrenszahlen der Sozialgerichte ist dabei maßgeblich auf den erheblichen Anstieg der Verfahrenszahlen im Bereich des SGB II zurückzuführen. Die häufig vordringliche Bearbeitung dieser Verfahren, die zudem durch einen hohen Anteil von Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz geprägt sind führt des Weiteren zu nicht mehr hinnehmbaren Verzögerungen in anderen Bereichen des materiellen Sozialrechts.
Die gerichtliche Praxis benennt immer wieder als Ursache für die ungünstige Entwicklung des Geschäftsanfalls und die ungewöhnlich hohe Erfolgsquote in den gerichtlichen Verfahren im SGB-II-Bereich vielfache Änderungen eines ohnehin unübersichtlichen und lückenhaften materiellen Rechts.
Vor diesem Hintergrund haben sowohl die von der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister eingesetzte länderübergreifende Arbeitsgruppe "Maßnahmen zur Verminderung der Belastung und zur Effizienzsteigerung der Sozialgerichte" als auch die von den Ländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt initiierten Praktiker-Arbeitsgruppe zahlreiche Änderungsvorschläge erarbeitet.
Die Praktiker-Arbeitsgruppe hat insbesondere in den folgenden Bereichen des materiellen Rechts Änderungen angemahnt:
Klarstellung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung
Die Bestimmung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung führt in der täglichen Arbeit der Sozialgerichte mit Abstand zu den größten Anwendungsproblemen.
Die vom Gesetzgeber verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe "angemessen" und "Aufwendungen für Unterkunft" stellen die sozialgerichtliche Praxis vor erhebliche Schwierigkeiten. Bislang hat der Gesetz- und Verordnungsgeber davon abgesehen, der Verwaltung normative Vorgaben zu machen, sodass die Verwaltung bis auf Weiteres nicht auf eine bestimmte Vorgehensweise festgelegt ist. Hier ist dringend Abhilfe geboten.
Sanktionsregelung
Das wesentliche Problem der Sanktionsregelung liegt in seinem außerordentlich großen Umfang, verknüpft mit einem hohen Maß an Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit.
Die Vorschrift umfasst in ihrer derzeitigen Fassung sechs Absätze und erstreckt sich in den Gesetzestexten über mehrere Seiten. Ermessensentscheidungen sind bis auf wenige Ausnahmen derzeit nicht möglich. Insoweit provoziert die Regelung Verstöße gegen das rechtsstaatliche Gebot der Verhältnismäßigkeit sowie gegen das Gleichbehandlungsgebot bei vergleichbaren Obliegenheitsverletzungen.
Einkommensanrechnung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft
Derzeit wird das Einkommen der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nach der so genannten horizontalen Einkommensanrechnung zwischen den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft verteilt. Die Berechnung der Individualansprüche, insbesondere bei Aufhebungs- und Erstattungsforderungen, entbehrt bei der gegenwärtig anzuwendenden horizontalen Einkommensanrechnung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft jeglicher Verhältnismäßigkeit zwischen Aufwand und Nutzen. Insoweit sollte geprüft werden, ob die Verteilungsregelung hinsichtlich des verfügbaren Einkommens innerhalb der Bedarfsgemeinschaft dahingehend abzuändern ist, dass das jeweilige Einkommen zunächst nur bei demjenigen Bedürftigen angerechnet wird der das Einkommen erzielt, und nur das Einkommen, das den persönlichen Bedarf übersteigt, zur weiteren Verteilung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft herangezogen wird (so genannte vertikale Einkommensanrechnung). Vorteil einer solchen Änderung wäre insbesondere eine Verringerung der Anzahl der Leistungsbezieher und damit Prozessbeteiligten, ohne dass sich eine Veränderung des Gesamtanspruchs der Bedarfsgemeinschaft ergäbe. Damit einher ginge eine Reduzierung der Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe.
Abrechnung von Krankenhausleistungen
Vor den Sozialgerichten sind in großer Anzahl Abrechnungsstreitigkeiten wegen Krankenhausleistungen anhängig, in denen - mangels Vorverfahren - nachträglich und zeitaufwendig die für eine Entscheidung erheblichen Tatsachen ermittelt werden müssen. Der Versuch des Gesetzgebers, dieser Entwicklung mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (BGBl. I 2007 S. 358) entgegenzutreten, hat bislang zu keiner spürbaren Entlastung der Sozialgerichte geführt. Hier ist zu prüfen, ob die gesetzliche Vorgabe verfahrensrechtlicher Anforderungen für die Überprüfung von Art und Umfang sowie die ordnungsgemäße Abrechnung von Krankenhausleistungen oder ein obligatorisches, vorgerichtliches Einigungsverfahren zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen zu einer verbesserten Sachaufklärung und damit zu einer Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit führen.