888. Sitzung des Bundesrates am 14. Oktober 2011
Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat,
zu dem Gesetz zu verlangen, dass der Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes aus folgenden Gründen einberufen wird:
1. Zu Artikel 1 (§ 198 Absatz 2 Satz 1 und 2 GVG)
In Artikel 1 ist § 198 Absatz 2 wie folgt zu ändern:
- a) Satz 1 ist zu streichen.
- b) In Satz 2 ist das Wort "Hierfür" durch die Wörter "Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist," zu ersetzen.
Begründung:
Die in § 198 Absatz 2 Satz 1 GVG-neu vorgesehene Beweislastumkehr fügt sich nicht in die Systematik des deutschen Schadenersatzrechts ein. Dieses sieht den Ersatz immaterieller Schäden nur in Ausnahmefällen vor (§ 253 Absatz 1 BGB), insbesondere bei Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter wie Körper, Gesundheit, Freiheit und sexueller Selbstbestimmung (§ 253 Absatz 2 BGB). Die Gewährung eines immateriellen Schadenersatzes für eine bloße zeitliche Verzögerung in einem gerichtlichen Verfahren fällt daher ohnehin aus dem bisher gesetzlich geregelten Rahmen. Eine Umkehr der Beweislast würde das Regel-Ausnahme-Verhältnis zusätzlich in Frage stellen. Die Regelung zur Beweislastumkehr sollte daher gestrichen werden, zumal die Aussicht auf Ersatz eines nicht nachweisbedürftigen immateriellen Schadens einen ungewollt hohen Anreiz schafft, von der Verzögerungsrüge und dem anschließenden Entschädigungsverfahren Gebrauch zu machen, obwohl diese gemäß der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur in wenigen Ausnahmefällen Erfolg haben dürften.
Eine Umkehr der Beweislast wird entgegen der Argumentation der Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung (vgl. BT-Drs. 17/3802) auch nicht durch die Rechtsprechung des EGMR gefordert. Der Gerichtshof postuliert zwar in seiner Entscheidung Scordino/Italien - Urteil vom 29. März 2006 (Große Kammer), Nr. 3681/97 - eine widerlegbare Vermutung dafür, dass eine überlange Verfahrensdauer einen Nichtvermögensschaden verursacht hat. Dem lässt sich aber nach deutschem Recht hinreichend durch eine sachgerechte Handhabung des § 287 ZPO Rechnung tragen. Einer Beweislastumkehr bedarf es hierzu ebenso wenig wie in den Fällen, in denen nach deutschem Recht (ausnahmsweise) ein Ersatz immaterieller Schäden gewährt wird.
2. Zu Artikel 1 (§ 198 Absatz 5 Satz 1 GVG)
In Artikel 1 sind in § 198 Absatz 5 Satz 1 die Wörter "frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge" durch die Wörter "erst nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens" zu ersetzen.
Begründung:
Die Möglichkeit einer Entschädigungsklage während des laufenden Verfahrens birgt die Gefahr von (weiteren) Verzögerungen, und zwar auch für den Fall, dass durch das Entschädigungsgericht lediglich die Akten zur Entscheidung über eine Aussetzung des Entschädigungsverfahrens (§ 201 Absatz 3 GVG-neu) angefordert werden. Die Erhebung einer Entschädigungsklage sollte daher erst nach Abschluss des zugrunde liegenden Verfahrens möglich sein.
Entgegen den Ausführungen der Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung (vgl. BT-Drs. 17/3802) wäre dadurch auch die präventive Wirkung des Rechtsbehelfs nicht entscheidend beeinträchtigt. Die Möglichkeit, dass nach Ablauf des Verfahrens eine erfolgreiche Entschädigungsklage erhoben werden kann, entfaltet eine ausreichende präventive Wirkung.
Die Reform sollte darauf begrenzt werden, den Ersatz der durch unangemessen lange Verfahren entstandenen Schäden zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist es ausreichend, wenn ein nachträglicher, restitutiver Rechtsbehelf geschaffen wird, vgl. Urteil vom 8. Juni 2006, Nr. 75529/01 (Sürmeli./. Deutschland), Rnr. 99; Urteil vom 2. September 2010, Nr. 46344/06 (Rumpf./. Deutschland), Rnr. 53.
Die zu treffende Regelung sollte sich auf das gesetzgeberisch absolut Notwendige beschränken und darf die Gerichte nicht noch weiter belasten. Es besteht kein Anlass zu einer Übererfüllung der Vorgaben des EGMR. Vielmehr sollte zur Vermeidung zusätzlicher Verzögerungen durch das neu einzuführende Verfahren dieses auf einen nachträglichen Rechtsschutz beschränkt werden.
Als Folge wäre die Aussetzungsmöglichkeit in § 201 Absatz 3 Satz 1 GVG-neu zu streichen.
3. Zu Artikel 1 (§ 199 Absatz 1 und 4 - neu - GVG)
In Artikel 1 ist § 199 wie folgt zu ändern:
- a) In Absatz 1 ist die Angabe "2 und 3" durch die Angabe "2 bis 4" zu ersetzen.
- b) Folgender Absatz 4 ist anzufügen:
(4) § 198 findet nur Anwendung auf den Beschuldigten und denjenigen Verletzten oder seinen Erben, der gegen den Beschuldigten nach § 403 der Strafprozessordnung einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch im Strafverfahren geltend macht."
Begründung:
Es besteht auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kein Anlass, in Ermittlungs- und Strafverfahren auch anderen Beteiligten als dem Beschuldigten und dem Adhäsionskläger nach § 403 StPO einen Entschädigungsanspruch gemäß § 198 Absatz 1 GVG-neu zuzubilligen. Das Beschleunigungsgebot des Artikels 5 Absatz 3 Satz 2 und des Artikels 6 Absatz 1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sowie des Artikels 14 Absatz 3 Buchstabe c des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (vgl. BGBl. 1973 II, S. 1533) ist, soweit Ermittlungs- und Strafverfahren inmitten stehen, lediglich als Recht des Beschuldigten verbürgt. Darüber hinaus ist lediglich demjenigen Verletzten und dessen Erben, der gegen den Beschuldigten einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch im Strafverfahren geltend macht (vgl. § 403 StPO), mit Blick darauf, dass es sich hier um eine Streitigkeit in Bezug auf "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK handelt, ein Entschädigungsanspruch gemäß § 198 Absatz 1 GVG-neu zuzubilligen.
4. Zu Artikel 1 (§ 201 Absatz 1 Satz 4 GVG)
In Artikel 1 ist § 201 Absatz 1 Satz 4 zu streichen.
Begründung:
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Präsidenten der Gerichte und ihre ständigen Vertreter von der Mitwirkung bei Entscheidungen über Entschädigungsansprüche nach § 198 GVG-neu zwingend ausgeschlossen sein sollen. Die Vorschrift könnte im Sinne eines Misstrauens gegenüber den Präsidenten der Gerichte und ihren ständigen Vertretern missverstanden werden, zumal derartige gesetzliche Bestimmungen zur Verhinderung der Entscheidungsmitwirkung der Gerichtsspitze unüblich sind. Die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 201 Absatz 1 Satz 4 GVG-E (vgl. BR-Drs. 540/10 (PDF) ) führt zu Recht aus, dass es für den neuen Entschädigungsanspruch auf eine Pflichtverletzung des mit der Sache befassten Richters nicht ankomme. Der Entschädigungsanspruch bestehe neben und unabhängig von der Dienstaufsicht des Gerichtspräsidenten über die seinem Gericht zugeordneten Richter. Bei der Entscheidung über den Entschädigungsanspruch ist daher eine Verflechtung mit den Aufgaben der Dienstaufsicht nicht zu befürchten. Es sollte deshalb - wie auch sonst - dem Geschäftsverteilungsplan des jeweils zuständigen Gerichts überlassen bleiben, die Besetzung des für Entschädigungsklagen zuständigen Spruchkörpers zu regeln. Ein Bedarf für die vorliegende gesetzliche Regelung besteht jedenfalls nicht.
Soweit die Bundesregierung demgegenüber in ihrer Gegenäußerung (vgl. BT-Drs. 17/3802) darauf verweist, dass der hier vorgesehene Rechtsbehelf nicht auf eine Pflichtverletzung der jeweiligen Richter, sondern allein auf die objektiv unangemessene Dauer des Verfahrens abstelle, spricht dies nicht für, sondern gegen einen Ausschluss der Präsidenten und ihrer Vertreter von der Entscheidung, weil die Gefahr einer Vermischung mit der Dienstaufsicht aufgrund dessen, wie bereits ausgeführt, fern liegt.
5. Zu Artikel 1 (§ 201 Absatz 1 Satz 5 - neu - bis 7 - neu - GVG)
In Artikel 1 sind dem § 201 Absatz 1 folgende Sätze anzufügen:
"Die Landesregierungen werden ermächtigt, in Ländern, in denen mehrere Oberlandesgerichte bestehen, durch Rechtsverordnung die Zuständigkeit weiterer Oberlandesgerichte für deren Bezirk oder eines anderen Oberlandesgerichts zu bestimmen. Die Landesregierungen können die Ermächtigung nach Satz 5 durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen. Die Länder können die Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts für einzelne Bezirke oder das gesamte Gebiet mehrerer Länder bestimmen."
Begründung:
Länder, in denen mehrere Oberlandesgerichte bestehen, sollten die Möglichkeit haben, die Zuständigkeit desjenigen Oberlandesgerichts für die Entschädigungsklage vorzusehen, das auch für die Berufung oder Revision gegen die Urteile des jeweiligen Gerichts zuständig ist. Insoweit sollte ein Gleichlauf hergestellt werden können. Das Argument der Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung (vgl. BT-Drs. 17/3802), ein Gleichlauf sei insoweit nicht notwendig, weil im Entschädigungsverfahren keine Sachprüfung stattfinde, überzeugt demgegenüber nicht, weil für die Fragen, ob ein Verfahren unangemessen lange dauert und wie hoch die angemessene Entschädigung zu veranschlagen ist, durchaus Sacherfordernisse und -argumente eine entscheidende Rolle spielen können.
Eine zu große Nähe zu dem "angegriffenen" Gericht ist dabei ebenso wenig zu befürchten wie eine zu sehr divergierende Rechtsprechung. Dem örtlich zuständigen Oberlandesgericht wird auch ansonsten eine unparteiische Entscheidung über Berufung oder Revision zugetraut; es ist nicht einzusehen, warum dies bei einer Entscheidung über die Entschädigungsklage anders zu beurteilen sein sollte. Eine divergierende Rechtsprechung wird bereits durch die Möglichkeit der Revision nach § 201 Absatz 2 Satz 3 GVG-neu ausreichend verhindert.
Ferner sollten Länder, in denen mehrere Oberlandesgerichte bestehen, die Möglichkeit haben, statt des Oberlandesgerichts am Sitz der Landesregierung ein anderes Oberlandesgericht als zuständig zu bestimmen, um einem gegebenenfalls bestehenden Ungleichgewicht bei der Verteilung von Zuständigkeitskonzentrationen entgegen zu wirken.
Es sollte zudem auch die Möglichkeit bestehen, dass mehrere Länder für ihr Gebiet die Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts bestimmen können. Ob dies im Wege des Staatsvertrages oder auf andere Weise, etwa durch Verwaltungsvereinbarung erfolgt, muss dabei dem jeweiligen Landesverfassungsrecht überlassen bleiben.
Demgegenüber überzeugt das Argument der Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung nicht, wonach eine Dekonzentrationsermächtigung zur Gefahr einer Zuständigkeitszersplitterung und einer Unübersichtlichkeit der Rechtslage führen würde. Die Frage stellt sich ohnehin von vornherein nur in den Ländern, in denen mehrere Oberlandesgerichte bestehen. Auch insoweit wird es anwaltlich vertretenen Anspruchstellern aber auch in anderen Bereichen zugemutet, sich vor Klageerhebung kundig zu machen, welche Zuständigkeitsregelung in dem betreffenden Land besteht. Dies ist für Rechtsanwälte ein routinemäßiger Vorgang, der leicht durch einen Blick in die einschlägige Landesgesetzgebung bewältigt werden kann. Auch das Argument, die angestrebte Bündelungswirkung würde verfehlt, überzeugt nicht, weil nicht ersichtlich ist, warum hier eine über andere Sachbereiche hinausgehende Bündelung erforderlich sein sollte und im Übrigen die notwendige Rechtseinheit, wie bereits ausgeführt, durch die Revisionsmöglichkeit ausreichend gewährleistet wird.
Dem Anliegen kann im Übrigen auch dadurch entsprochen werden, dass in § 201 Absatz 1 GVG-neu die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk der streitgegenständliche Prozess geführt wurde, vorgesehen wird. Für die Länder, die demgegenüber eine Konzentration der Zuständigkeiten herbeiführen wollen, ergibt sich die Möglichkeit hierzu dann ohne ausdrückliche Ermächtigung bereits aus § 13a GVG.