Der Bundesrat hat in seiner 824. Sitzung am 7. Juli 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zur Vorlage allgemein
- 1. Die Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraums setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten voraus. Vor diesem Hintergrund unterstützt der Bundesrat das mit dem Grünbuch verfolgte Anliegen, dass die mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erreichte effizientere Strafverfolgung mit der Achtung der Rechte des Einzelnen einhergehen muss.
- 2. Als Rechtsgrundlage für die ins Auge gefassten Rechtsakte kommt allein Artikel 31 Abs. 1 Buchstabe c EUV in Betracht, der eine Annäherung der "jeweils geltenden Vorschriften" bezweckt, "soweit dies zur Verbesserung der Zusammenarbeit erforderlich ist".
- 3. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu dem Grünbuch zu Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der EU - vgl. BR-Drucksache 155/03(B) - bereits festgestellt, dass eine Regelung in diesem Sinne erforderlich sei, wenn auf die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards nicht verzichtet werden könne, um das gegenseitige Vertrauen in die Rechtsordnung des anderen zu gewährleisten. Hierbei sei zu unterscheiden zwischen der Bekräftigung der von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorgegebenen Standards in einem besonderen Rechtsinstrument der EU und der Schaffung erhöhter Standards. Im ersteren Fall müsse belegt sein, dass die EMRK und die dazugehörige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht ausreichten, um in den Konventionsstaaten für vergleichbare Schutzstandards zu sorgen, und damit weitere Durchsetzungshilfen benötigten. Besonders sorgfältig begründet werden müsste im zweiten Fall die Schaffung eines gehobenen Standards.
Auch mit dem vorliegenden Grünbuch hat die Kommission bestehende Defizite in dem erforderlichen Ausmaß nicht aufgezeigt. Bei Maßnahmen der EU, die auf die Schaffung von Mindeststandards für die Unschuldsvermutung hinauslaufen, wird das Subsidiaritätsprinzip strikt zu beachten sein. Insbesondere müsste zuvor im Einzelnen dargelegt werden, dass etwa festgestellte Defizite bei der Beachtung bzw. Ausgestaltung der Unschuldsvermutung in einzelnen Mitgliedstaaten Maßnahmen auf EU-Ebene erforderlich machen und nicht durch eine strikte Durchsetzung der in der EMRK enthaltenen Garantien, durch den EGMR, beseitigt werden können.
Zu den einzelnen Fragestellungen
4. Zu Frage 1: Begriff der Unschuldsvermutung
Der Begriff der Unschuldsvermutung besagt, dass jede Person, die einer Straftat beschuldigt wird, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt.
Der gesetzliche Beweis der Schuld erfolgt durch eine abschließende richterliche Entscheidung. Die Unschuldsvermutung schützt Personen, die Strafverfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind, in allen Verfahrensstadien vor strafenden staatlichen Eingriffen, die eine gerichtsförmige Feststellung der Schuld voraussetzen.
Aufgabe der Unschuldsvermutung ist es somit, staatliche Eingriffe zu begrenzen. Die Position des Beschuldigten wird durch die Unschuldsvermutung gestärkt was im Einzelfall mit einer Schwächung der Position tatsächlicher bzw. mutmaßlicher Opfer einhergehen kann. Die Unschuldsvermutung wirkt sich sowohl auf den Tatbestand als auch auf Rechtswidrigkeit und Schuld aus.
Unabhängig von der Stärke des bestehenden Tatverdachts und dem Stand der richterlichen Überzeugungsbildung wirkt sie gleich bleibend bis zur abschließenden gerichtlichen Schuldfeststellung weiter. Die Bedeutung der Unschuldsvermutung lässt also auch bei einer Erhöhung des Verdachtsgrads nicht nach.
Zwar findet sich weder im GG noch in der StPO ein ausdrücklicher Hinweis auf die Unschuldsvermutung, doch hat dieses Gebot nach der Rechtsprechung des BVerfG Verfassungsrang. Die in dem Grünbuch aufgeführten Merkmale bzw.
Auswirkungen weisen wesentliche Bezüge zur Unschuldsvermutung auf.
Hervorzuheben ist die enge Verbindung der Unschuldsvermutung zu dem Grundsatz "in dubio pro reo", wonach sich Zweifel stets zu Gunsten des Beschuldigten auswirken. Grundsätzlich obliegt es dem Staat, alle den Beschuldigten belastenden Umstände - wie auch die ihn entlastenden - zu beweisen. Die Unschuldsvermutung verlangt eine faire, ergebnisoffene Verfahrensgestaltung, die nur von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht sichergestellt werden kann. Nicht erwähnt, gleichwohl bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die Gewährleistung einer effektiven Verteidigung. Die Unschuldsvermutung enthält zudem das Verbot, die Strafe durch das Verfahren vorwegzunehmen und das Verfahren selbst als Strafe zu begreifen. Über den jeweiligen Verfahrenszweck hinausgehende strafähnliche Eingriffe und Diskriminierungen gilt es zu vermeiden. Dies hat insbesondere Folgen für die Ausgestaltung und Dauer der Untersuchungshaft. Zu den die Unschuldsvermutung charakterisierenden Merkmalen gehören schließlich das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten, der "nemo tenetur" - Grundsatz und ein faires Verfahren bei der Vermögenseinziehung.
5. Zu Frage 2: Vorkehrungen zur Gewährleistung der Unschuldsvermutung
Adressat der Unschuldsvermutung sind die staatlichen Verfolgungsorgane im weitesten Sinne, d.h. nicht nur der Richter, sondern auch Staatsanwaltschaft und Polizei. Alle diese Stellen müssen nach Möglichkeit verhindern, dass die Öffentlichkeit vorzeitig von der Schuld des Beschuldigten ausgeht. Für den Staat besteht insoweit eine Schutzpflicht. Andererseits hat die Öffentlichkeit einen legitimen Informationsanspruch. Eine objektive Unterrichtung über das Strafverfahren und die Gefährlichkeit des Beschuldigten ist daher statthaft, soweit sich diese an nachprüfbaren Tatsachen festmachen lässt. Nummer 23 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren stellt klar, dass die Unterrichtung der Öffentlichkeit weder den Untersuchungszweck gefährden noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen dürfe. Weiter heißt es dort:
- "(...), der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren darf nicht beeinträchtigt werden. Auch ist im Einzelfall zu prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit an einer vollständigen Berichterstattung gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Beschuldigten oder anderer Beteiligter (...) überwiegt. Eine unnötige Bloßstellung (...) ist zu vermeiden. Dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit wird in der Regel ohne Namensnennung entsprochen werden können." Die Presserichtlinien der Landesjustiz- und Landesinnenverwaltungen legen den für Presseauskünfte zuständigen Bediensteten zudem nahe, gegebenenfalls darauf hinzuweisen, dass der Beschuldigte bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gilt. Verstöße gegen die Unschuldsvermutung durch Äußerungen von Seiten des Gerichts oder der Strafverfolgungsbehörden sind rechtswidrig und können Unterlassungs-, Gegendarstellungs- und Schadenersatzansprüche auslösen.
Die StPO sieht eine Vielzahl von Maßnahmen und Entscheidungen vor, die unter Umständen tief in die Grundrechte des Beschuldigten eingreifen. Neben der Anordnung von Untersuchungshaft sind hier die Überwachung des Fernmeldeverkehrs, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die Durchsuchung und die vorläufige Festnahme zu nennen. Solche Maßnahmen sind für die Aufklärung der Straftat, die Sicherung der Verfahrensdurchführung und die Sicherung der zu erwartenden Sanktion unerlässlich und verstoßen nicht gegen die Unschuldsvermutung. Sie setzen das Bestehen eines bestimmten Verdachtsgrads voraus. Untersuchungshaft, die bereits mehr als sechs Monate andauert, darf nur dann aufrechterhalten werden, wenn - neben dem weiter bestehenden dringenden Tatverdacht - eine Verurteilung wegen der besonderen Schwierigkeit oder des besonderen Umfangs der Ermittlungen oder aus einem anderen wichtigen Grund nicht möglich war. Anderenfalls ist der Beschuldigte aus der Haft zu entlassen. Das BVerfG stellt hohe Anforderungen an den in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgrundsatz. § 119 Abs. 3 StPO bestimmt zudem dass dem Untersuchungsgefangenen nur solche Beschränkungen auferlegt werden dürfen, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordern. Die näheren Einzelheiten sind in der Untersuchungshaftvollzugordnung festgelegt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist bei der Auslegung des § 119 Abs. 3 StPO ein strenger Maßstab anzulegen.
Nur unvermeidbare Beschränkungen der Freiheit, die an der Situation des konkreten Einzelfalls zu messen sind, sind danach zulässig.
6. Zu Frage 3: Beweislast
Eine verschuldensunabhängige Haftung und eine Umkehrung der Beweislast in dem Sinne, dass dem Beschuldigten lediglich nachgewiesen werden müsste, in einer bestimmten Weise gehandelt zu haben, und es diesem sodann obliegt nachzuweisen dass es für sein Handeln eine "harmlose" Erklärung gibt (primafacie-Fälle), wären mit Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung nicht vereinbar und könnten daher nicht akzeptiert werden. Die Bestrafung eines Beschuldigten setzt dessen Verschulden voraus, das im Einzelfall nachgewiesen werden muss.
Im Bereich der Einziehung von Vermögenswerten kennt das deutsche Strafrecht beim erweiterten Verfall ( § 73d StGB) Beweiserleichterungen, jedoch keine Umkehr der Beweislast. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung steht gesetzlichen Regelungen zu solchen Beweiserleichterungen bei der Vermögenseinziehung nicht entgegen, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet werden.
Gemäß § 73d StGB kann der Verfall angeordnet werden, wenn Umstände die Annahme rechtfertigen, dass die betreffenden Gegenstände für rechtswidrige Taten oder aus ihnen erlangt worden sind. Liegen bereits im Ermittlungsverfahren Gründe für die Annahme vor, dass die Voraussetzungen für einen Verfall oder eine Einziehung gegeben sind, können solche Gegenstände auch vor einer Verurteilung sichergestellt werden. Der BGH hat im Hinblick auf die verschlechterte Beweissituation für den Beschuldigten eine stringente Auslegung der Vorschrift angemahnt. Danach kommt die Anordnung des erweiterten Verfalls nur dann in Betracht, wenn der Tatrichter durch eine erschöpfende Beweiswürdigung die uneingeschränkte Überzeugung gewonnen hat dass der Angeklagte die von der Anordnung betroffenen Gegenstände aus rechtswidrigen Taten erlangt hat. Das BVerfG hat diese Rechtsprechung bestätigt. Dabei ging es davon aus, dass das Rechtsinstitut des erweiterten Verfalls keinen strafenden oder strafähnlichen Charakter habe, sondern die Beseitigung des rechtswidrigen Vorteils erstrebe.
Soweit ersichtlich, ist es bei grenzüberschreitenden Fällen unter dem Gesichtspunkt der Beweislast bislang nicht zu Schwierigkeiten gekommen.
7. Zu Frage 4: Schutz vor Selbstbelastung und Schweigerecht
Dem Beschuldigten steht in jeder Phase des Strafverfahrens das Recht zu, die Aussage zur Sache zu verweigern. Dies gilt auch für Angaben zur Person, soweit diese nicht der Feststellung der Identität des Beschuldigten dienen. Das Schweigerecht ergibt sich aus
- - § 136 StPO, wonach der Beschuldigte bei seiner ersten Vernehmung darauf hinzuweisen ist, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen,
- - § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, wonach der Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung nochmals auf seine Aussagefreiheit hinzuweisen ist, und
- - § 55 StPO, der ein Auskunftsverweigerungsrecht für denjenigen begründet, der bei wahrheitsgemäßer Auskunft der Gefahr einer Strafverfolgung ausgesetzt wäre.
Verstöße gegen das Belehrungsverbot begründen ein grundsätzliches Verwertungsverbot.
Hiervon wird nur dann eine Ausnahme gemacht, wenn feststeht, dass der Beschuldigte sein Schweigerecht gekannt hat oder wenn der verteidigte Angeklagte in der Hauptverhandlung ausdrücklich der Verwertung zugestimmt oder ihr nicht widersprochen hat.
Das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten kann durch Mitwirkungspflichten, nicht aber durch Duldungspflichten berührt werden. Eine Reihe von Vorschriften lassen es zu, auf den Beschuldigten auch gegen seinen Willen als Beweismittel zurückzugreifen, etwa um ihn psychiatrisch oder körperlich zu untersuchen (§§ 81, 81a StPO) oder erkennungsdienstlich zu behandeln (§ 81b StPO). Insoweit hat der Beschuldigte die Verpflichtung, die betreffenden Maßnahmen über sich ergehen zu lassen. Diese können auf Grund richterlichen Beschlusses und - bei Gefahr im Verzug - auch auf Anordnung der Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls auch von deren Ermittlungspersonen zwangsweise durchgesetzt werden. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht.
Macht der Beschuldigte von seinem Schweigerecht vollständig Gebrauch, darf dies grundsätzlich nicht zu seinem Nachteil verwendet werden. Sagt der Beschuldigte jedoch teilweise zu einer ihm vorgeworfenen Tat aus, kann seine Aussage in Verbindung mit dem teilweisen Schweigen auch für ihn nachteilig gewertet werden. Aus seinem Schweigen hinsichtlich weiterer selbstständiger Taten können dagegen keine für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden, auch wenn er sich zu dem ersten Vorwurf eingelassen hat. Unzulässig ist es zudem das Verhalten des Beschuldigten, der in einem anderen Verfahren als Zeuge vernommen wurde und sich dort auf sein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO berufen hat, in dem gegen ihn gerichteten Verfahren zu berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund wäre es nach dem deutschen Prozessrecht unzulässig, in dem Fall, dass "die vorliegenden Beweismittel eine Erklärung verlangen", das Ausbleiben einer Aussage des Beschuldigten, "zu der dieser in der Lage sein sollte", als Beweismittel zu verwerten.
Eine Aussage, die "unter mittelbarem Druck erlangt worden ist", wäre in Deutschland nicht verwertbar, wenn sie durch verbotene Vernehmungsmethoden im Sinne des § 136a StPO erlangt worden ist. Auf die Frage, ob im Übrigen "erdrückende Beweise" vorliegen, kommt es dabei nicht an, von der problematischen Definition einmal abgesehen.
Unterschiede in Fällen mit Auslandsberührung lassen sich nicht feststellen.
Das Schweigerecht gilt nach der deutschen Rechtslage nicht für juristische Personen. Das BVerfG hat ein solches im Jahr 1997 verneint.
8. Zu Frage 5: Recht, die Vorlage belastenden Beweismaterials zu verweigern
Zunächst wird auf die Antwort zu Frage 4 verwiesen. Soweit die (aktive) Mitwirkung des Beschuldigten erforderlich ist, kann er hierzu nicht gezwungen werden da dies gegen den "nemo tenetur"-Grundsatz verstieße. Dies wäre etwa der Fall bei der Untersuchung der Atemluft auf Alkohol. Bei der Verweigerung der Atemalkoholuntersuchung muss der Beschuldigte eine Blutentnahme dulden.
9. Zu Frage 6: Abwesenheitsverfahren
Wenn der Angeklagte für die deutsche Gerichtsbarkeit unerreichbar ist, findet eine auf ein Sachurteil gerichtete Hauptverhandlung ausnahmslos nicht statt.
Möglich sind allerdings beweissichernde Maßnahmen. Hiervon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Angeklagte sein Anwesenheitsrecht im tatrichterlichen Verfahren verliert oder er von seiner Anwesenheitspflicht entbunden wird. Eine Entziehung des Anwesenheitsrechts ist beispielsweise möglich, wenn der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft seine Verhandlungsunfähigkeit herbeigeführt hat ( § 231a StPO) oder wenn sich der bereits zur Sache vernommene Angeklagte unentschuldigt entfernt (§ 231 Abs. 2 StPO). Möglich ist auch eine Entfernung des Angeklagten im Falle ordnungswidrigen Verhaltens (§ 231b StPO). Für einzelne Beweisaufnahmeakte erlaubt § 247 StPO unter Zeugenschutzgesichtspunkten, sie in Abwesenheit des Angeklagten durchzuführen. Im Berufungsverfahren schließlich kann über eine Berufung der Staatsanwaltschaft auch in Abwesenheit des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten verhandelt und entschieden werden. Eine Dispensierung des Angeklagten ist allein in Fällen leichterer Kriminalität möglich. So kann beispielsweise gemäß § 232 StPO nach ordnungsgemäßer Ladung und einem entsprechenden Hinweis ohne den Angeklagten verhandelt werden, wenn es lediglich um eine Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen, Verwarnung mit Strafvorbehalt und Fahrverbot sowie - mit einem zusätzlichen Hinweis - um die Entziehung der Fahrerlaubnis geht. Auf Antrag des Angeklagten kann dieser von seiner Anwesenheitspflicht u. a. entbunden werden, wenn (lediglich) eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten zu erwarten ist ( § 233 StPO). Eine Beurlaubung des Angeklagten ist zulässig, wenn dieser von den in seiner Abwesenheit verhandelten Gegenständen nicht betroffen ist (§ 231c StPO).
Nach Auffassung des Bundesrates haben Angeklagte grundsätzlich ein Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung. Verfahren gegen abwesende Angeklagte sind nur statthaft, wenn dem Angeklagten rechtliches Gehör und die Gelegenheit zur Teilnahme an der Hauptverhandlung gewährt worden sind oder er durch einen Rechtsbehelf Gelegenheit zu einem neuen Verfahren erhält, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht in vollem Umfang geprüft wird. Abwesenheitsurteile sind nicht zulässig bei schwerwiegenden Straftaten.
In Auslieferungsverfahren bestehen zum Teil Schwierigkeiten festzustellen, ob die verfolgte Person, gegen die ein Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, rechtliches Gehör und eine angemessene Verteidigung hatte oder, wenn dies nicht der Fall war, ob es in dem ersuchenden Staat einen Rechtsbehelf gibt, der effektiven Rechtsschutz verspricht. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU enthält nunmehr Regelungen über die Zusicherung wirksamen Rechtsschutzes.
10. Zu Frage 7: Terrorismusbekämpfung
Im Zuge der Einführung neuer Rechtsvorschriften zur Terrorismusbekämpfung nach den Anschlägen in New York und Madrid sind - neben anderen Maßnahmen - durch das 34. StrÄndG vom 22. August 2002 (BGBl. I S. 3390) die Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen im Ausland in Deutschland unter Strafe gestellt und die Regelungen des erweiterten Verfalls und der Einziehung in Fällen des § 129 und des § 129a StGB für anwendbar erklärt worden. Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung und zur Änderung anderer Gesetze (BGBl. I S. 2836) wurden europäische Vorgaben in das deutsche Recht umgesetzt.
Soweit die Anordnung strafprozessualer Maßnahmen vom Vorliegen des Verdachts einer Straftat gemäß den §§ 129a und 129b StGB abhängig ist, sind eine Reihe von Regelungen der StPO angepasst worden bzw. haben dadurch einen erweiterten Anwendungsbereich erhalten, dass durch die genannten Strafnormen selbst eine erweiterte Strafbarkeit begründet worden ist. Ein spezielles auf terroristische Delikte zugeschnittenes Verfahrensrecht gibt es in Deutschland nicht. Die - durch Deliktskataloge nur für bestimmte Straftaten für anwendbar erklärten Regelungen - gelten gleichermaßen für andere Kriminalitätsbereiche außerhalb terroristischer Straftaten. Mit Blick auf die Unschuldsvermutung ist die Erweiterung des § 112 Abs. 3 StPO, der die Anordnung von Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen eines Haftgrunds zulässt, auf Straftaten gemäß dem neu eingeführten § 129b StGB zu erwähnen; in der Rechtsprechung wird § 112 Abs. 3 StPO indes einschränkend interpretiert.
11. Zu Frage 8: Ende der Unschuldsvermutung
Auf die Antwort zu Frage 1 wird Bezug genommen. Die Unschuldsvermutung endet jedenfalls zu dem Zeitpunkt, in dem der gesetzliche Beweis der Schuld durch eine das Verfahren abschließende richterliche Schuldfeststellung erfolgt.
Eine nicht rechtskräftige Entscheidung in einer Vorinstanz genügt hierzu nicht.
12. Zu Frage 9: Allgemeines
Probleme mit Auslandsberührung, die einer EU-einheitlichen Regelung bedürften, sind im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung bislang nicht bekannt geworden.
13. Nicht behandelte Fragen
Der Bundesrat weist darauf hin, dass wesentliche Fragen im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung und dem Schweigerecht nicht aufgegriffen worden sind. Zu nennen ist etwa die Problematik des Widerrufs einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe vor erneuter (rechtskräftiger) Verurteilung.
Diskussionswürdig wären zudem Mechanismen, wie Verletzungen der Unschuldsvermutung "repariert" werden können.