Der Bundesrat hat in seiner 956. Sitzung am 31. März 2017 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es auch im europäischen Rahmen im deutschen Interesse ist, das bisherige hohe Niveau der Versorgungssicherheit und -qualität ohne Abstriche aufrecht zu erhalten. Die Versorgungssicherheit und -qualität auf dem bestehenden hohen Niveau ist ein wichtiger Standortfaktor für einen großen Industriestandort wie Deutschland. Sie ist maßgeblich für die Wettbewerbsfähigkeit der hier ansässigen Unternehmen und die Sicherung von Arbeitsplätzen sowie den Erhalt der gesellschaftlichen Akzeptanz der Energiewende insgesamt.
- 2. Der Bundesrat bekräftigt, dass die Versorgungssicherheit ein für alle gleich verfügbares Gut der nationalen öffentlichen Daseinsvorsorge bleiben muss.
- 3. Er begrüßt die europäische Zielsetzung, die Stabilität des europäischen Stromnetzes insgesamt zu sichern und die grenzüberschreitende Stromversorgungssicherheit zu gewährleisten. Ein gemeinsamer Ansatz für Risikoermittlung und -bewertung ist ein wichtiger Schritt, die grenzüberschreitende Kooperation auf Seiten der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Risikovorsorge im Stromsektor zu erhöhen.
- 4. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass weder die Risiken einer Stromversorgungskrise noch deren Auswirkungen an Landesgrenzen halt machen, sondern vielmehr grenzübergreifend zu betrachten und zu bewerten sind.
- 5. Er begrüßt daher die Absicht der Kommission, durch ein höheres Maß an Transparenz und eine intensivierte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sowohl im Vorfeld als auch bei der Bewältigung einer Stromversorgungskrise ein gesteigertes Maß an Versorgungssicherheit in Europa zu erreichen.
- 6. Der Bundesrat stellt fest, dass das im europäischen Vergleich hohe Niveau der Versorgungssicherheit in Deutschland maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass die Verantwortung für die Versorgungssicherheit und die Entscheidungsbefugnis über die Netzführung in einer Hand liegen.
- 7. Vor diesem Hintergrund sieht er die vorgesehene Einrichtung so genannter regionaler Betriebszentren (Regional Operation Centers - ROCs) und die teilweise Übertragung nationaler Kompetenzen im Bereich der Energieaufsicht auf diese Betriebszentren äußerst kritisch und lehnt diese ab.
- 8. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass die mit dem vorliegenden Verordnungsvorschlag einhergehende stärkere Zentralisierung bisher nationaler Zuständigkeiten für die Energieversorgungssicherheit auf EU-Ebene auf das für eine europäische Harmonisierung der Risikovorsorge auf hohem Niveau notwendige Maß beschränkt wird.
- 9. Er sieht die geplante Kompetenzverlagerung für den Betrieb der Übertragungsnetze auf supranationale Einrichtungen kritisch und bittet die Bundesregierung zu prüfen, inwiefern die beabsichtigte Verlagerung mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist.
- 10. Der Bundesrat befürchtet, dass durch die geplante Verlagerung das bestehende hohe Niveau der Versorgungssicherheit und -qualität in Deutschland auch in einem supranational organisierten, auf harmonisierten Versorgungssicherheitsmethoden basierenden System nicht in diesem Maße gewährleistet werden kann.
- 11. Er stellt fest, dass die hier vorgeschlagene Entwicklung einer gemeinsamen Methodik sowie Implementierung von regionalen Plänen und Instrumenten im Widerspruch dazu steht, dass die nationalen Übertragungsnetzbetreiber weiterhin für den operativen "Realtime"-Systembetrieb verantwortlich bleiben sollen. Die Bezugnahme ausschließlich auf die von der Kommission geplanten sogenannten "regionalen Betriebszentren" als handelnde Einheiten ist widersprüchlich und führt zu Inkonsistenzen.
- 12. Der Bundesrat stellt zudem fest, dass auch in Zukunft im Krisenfall und, um einen sicheren und verlässlichen Systembetrieb zu gewährleisten, die nationalen Übertragungsnetzbetreiber weiterhin die zentralen handelnden Organe sein werden und nicht die neu zu gründenden eigenständigen regionalen Betriebszentren. Die Bestimmung von Krisenszenarien sollte dementsprechend nicht ausschließlich an diese Zentren delegiert werden.
- 13. Insbesondere darf die in Artikel 12 des Verordnungsvorschlags vorgesehene Verpflichtung zur präventiven Erarbeitung und im Krisenfall zur Durchführung von "regional abgestimmten Maßnahmen" nicht dazu führen, dass die Letztentscheidungsbefugnisse der inländischen Übertragungsnetzbetreiber bzw. der Bundesnetzagentur ausgehöhlt werden.
- 14. Europäische Konzepte sollten sich darauf beschränken, die nationale Krisenvorsorge bei grenzüberschreitenden Krisen zu ergänzen. Um das Sicherheitsniveau der Stromversorgung innerhalb der EU nachhaltig zu erhöhen, sind die Festlegung von einheitlichen und vergleichbaren Mindestanforderungen im Hinblick auf Risikobewertung sowie Krisenprävention und Bewältigung sowie ein intensiver und einheitlicher Informationsaustausch und eine darauf aufbauende abgestimmte Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Akteuren der Mitgliedstaaten ausreichend.
- 15. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Regelungen zur Steigerung des Sicherheitsniveaus der Stromversorgung innerhalb der EU in ihrer Gesamtheit zu keiner Verschlechterung des Sicherheitsniveaus der Stromversorgung in einem einzelnen Mitgliedstaat führen dürfen.
- 16. Er fordert daher eine Klarstellung des Verordnungsvorschlags dahingehend, dass die nationalen und für die Versorgungssicherheit in Deutschland verantwortlichen Übertragungsnetzbetreiber sowie die national zuständige Bundesnetzagentur als zuständige Aufsichtsbehörde an der Analyse und Bewertung von Versorgungsrisiken sowie der Erarbeitung von regional abgestimmten Maßnahmen zu deren Bewältigung mitwirken, in letzter Instanz jedoch alleine entscheidungsbefugt sind und damit das bewährte Prinzip, Verantwortung und Entscheidungsbefugnis für die Netzführung in einer Hand zu belassen, nicht durchbrochen wird.
- 17. Der Bundesrat unterstützt die Vorgabe, die Methodik zur Risikobewertung und -vorsorge vom Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) entwickeln zu lassen.
- 18. Er stellt fest, dass bereits heute die Übertragungsnetzbetreiber intensiv im Rahmen von ENTSO-E und der Koordinierungsgruppe Strom zusammenarbeiten. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass durch die enge Zusammenarbeit der beteiligten Stellen die getroffenen Maßnahmen für einen sicheren und effizienten Systembetrieb in Europa gesorgt haben.
- 19. Der Bundesrat spricht sich gegen die für den Fall einer Stromversorgungskrise vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur solidarischen Zusammenarbeit auf regionaler Ebene aus, soweit sie zu einer einseitigen Belastung energieinfrastrukturstarker Länder mit hohem Grad an Versorgungssicherheit führen kann, und bittet die Bundesregierung, diese Position gegenüber der Kommission zu vertreten.
- 20. Er stellt außerdem fest, dass der im Verordnungsvorschlag vorgesehene probabilistische Ansatz zur Berechnung der Versorgungssicherheit noch entwickelt und ausgestaltet werden muss. Hierzu gehören insbesondere geeignete probabilistische Versorgungssicherheitskenngrößen sowie geeignete Szenarien, Eingangsdaten und Sensitivitäten/Unsicherheiten für ein Monitoring der Versorgungssicherheit. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Regionen im Erarbeitungsprozess beteiligt werden.
- 21. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die bisherige Leistungsbilanz und der zu erarbeitende probabilistische Ansatz zur Beurteilung der Versorgungssicherheit zumindest übergangsweise parallel fortgeführt werden müssen, bis die geeigneten europäischen Instrumente zur Beurteilung von Versorgungssicherheit betriebsbewährt so verfügbar sind, dass auch in dem neuen System das bisherige hohe Niveau der Versorgungssicherheit und -qualität für Deutschland gewährleistet ist. Solange ist es weiterhin erforderlich, Aussagen zu insbesondere zukünftig sicher verfügbaren Kapazitäten auf der Grundlage des Berichts über die Leistungsbilanz gemäß § 12 Absatz 4 und 5 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) und der vollständigen Daten der ENTSO-E belastbar zu überprüfen und für Deutschland ausreichende Erzeugungskapazitäten vorzuhalten, um jederzeit eine Deckung der deutschen Lastspitzen zu ermöglichen.
- 22. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Bewertung von Versorgungssicherheit unter Berücksichtigung von Effekten des grenzüberschreitenden Stromaustauschs von einer Marktmodellierung zu einer Lastflussrechnung weiterentwickelt werden muss, um ein umfassenderes Bild des Netzzustands mit Blick auf Leitungsüberlastungen, mögliche Engpässe und daraus ableitbare Netzausbauerfordernisse im europäischen Verbund zu ermöglichen. Eine valide Einschätzung insbesondere der zu erwartenden Kapazitäten in Europa, möglicher realistischer Flexibilisierungspotentiale und der für die Versorgungssicherheit notwendigen gesicherten Leistung ist in diesem Zusammenhang unverzichtbar. Er fordert die Bundesregierung auf, sich bei der Kommission für eine entsprechende Umsetzung im Verordnungsvorschlag einzusetzen.
- 23. Der Bundesrat spricht sich gegen die von der Kommission vorgeschlagene Absicht aus, zentrale Elemente zu einem späteren Zeitpunkt über delegierte Rechtsakte nachträglich zu regeln. Er sieht darin die Gefahr der Kompetenzverlagerung und einer unzureichenden demokratischen Kontrolle.
- 24. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die in der Vorlage vorgesehenen Fristen zur Umsetzung der Vorgaben (insbesondere unter Artikel 5, 6, 7 und 8 des Verordnungsvorschlags) zu kurz gewählt sind.