Der Bundesrat hat in seiner 990. Sitzung am 5. Juni 2020 die aus der Anlage ersichtliche Entschließung gefasst
Anlage
Entschließung des Bundesrates: "Für erwerbstätige Leistungsbeziehende in der Grundsicherung für Arbeitsuchende muss mehr Einkommen ankommen - Mehr Erwerbsbeteiligung durch Anpassung der Hinzuverdienstregeln bei Einkommen aus Erwerbstätigkeit im SGB II"
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, unter Mitwirkung der Länder eine Gesetzesvorlage zur Anpassung der Hinzuverdienstregeln bei Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) unter Maßgabe der folgenden Eckpunkte zu initiieren:
- 1. Ziel des Gesetzentwurfs muss es sein, die Transferentzugsrate beim Erzielen höherer Einkommen abzusenken, um für Personen, die ergänzend zum Erwerbseinkommen SGB II-Leistungen erhalten, Anreize zu schaffen, den Umfang der Erwerbstätigkeit über den geringfügigen Bereich hinaus auszuweiten. Die Ausweitung der Beschäftigung über den geringfügigen Bereich hinaus muss sich immer finanziell bezahlbar machen.
Aufgrund der hohen Transferentzugsrate bei höheren Bruttoeinkommen schafft das derzeitige System der Einkommensanrechnung im SGB II insbesondere Anreize, um geringfügige Beschäftigungen aufzunehmen. Für eine Weiterentwicklung der Hinzuverdienstvorschriften im SGB II erscheint es daher angezeigt, insbesondere die Motivation zur Aufnahme existenzsichernder Beschäftigung zu stärken.
Zudem sollten erwerbstätige Transferleistungsbeziehende stärker in die aktive Arbeitsmarktpolitik einbezogen werden, um eine nachhaltige existenzsichernde Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Angesichts der zunehmenden und in Folge der Corona-Pandemie sich weiter beschleunigenden Digitalisierung zahlreicher Bereiche des Arbeitsmarktes dürften sich die Beschäftigungsperspektiven für Menschen mit einfacher Qualifikation in absehbarer Zeit kaum spürbar bessern. Daher braucht es gerade auch für die Gruppe der Beziehenden ergänzender SGB II-Leistungen eine enge Verzahnung passiver Sozialleistungen mit der Arbeitsmarktpolitik.
- 2. Die Einkommensanrechnung im SGB II ist dahingehend auszugestalten, dass keine Anreize für den Ausbau eines durch staatliche Kombilohnmodelle finanzierten Niedriglohnsektors entstehen. Nicht vorzugswürdig erscheint dagegen die Schaffung von Anreizen, die zum Verbleib im geringfügigen Einkommenssegment führen und mittelbar den Niedriglohnsektor am Arbeitsmarkt staatlich finanzieren.
- 3. Die Hinzuverdienstregelungen im SGB II sind insbesondere im Hinblick auf die Beendigung der Hilfebedürftigkeit anzupassen, so dass erwerbsfähige Leistungsbeziehende mit Erwerbseinkommen motiviert sind, ihren Lebensunterhalt unabhängig von staatlichen Transferleistungen zu bestreiten.
- 4. Die angepassten Hinzuverdienstregeln dürfen jedoch nicht die "Attraktivität" des SGB II-Leistungsbezugs erhöhen mit der Folge, dass die Zahl der individuellen Arbeitsstunden sogar reduziert wird. Ziel der Reform der Hinzuverdienstregeln im SGB II ist es daher ausdrücklich nicht, bestimmte Personengruppen wieder in den SGB II-Leistungsbezug zu führen.
Begründung:
Zielstrebig wurde in den vergangenen Jahren das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium zur Eingliederung erwerbsfähiger Leistungsbeziehender der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgebaut, um ihre Integration in Arbeit zu verbessern. Eine große Gruppe der Leistungsbeziehenden in der Grundsicherung für Arbeitsuchende stand allerdings bisher nicht im Mittelpunkt bundesgesetzgeberischer Überlegungen: erwerbstätige Leistungsbeziehende, die über Einkommen verfügen und deren Sozialleistungen deshalb teilweise reduziert werden.
Über eine Millionen Menschen sind im Bezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende und gehen einer Beschäftigung nach (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, März 2019). Dieser Personenkreis besitzt großes Potenzial, durch Erwerbseinkommen dauerhaft die Hilfebedürftigkeit zu verlassen. Durch die bestehenden Hinzuverdienstregeln für Einkommen aus Erwerbstätigkeit wird dieses Potenzial bisher jedoch nicht hinreichend ausgeschöpft. Das belegen auch wissenschaftliche Untersuchungen (so ifo Institut München, Forschungsbericht 098/2019: "Anreize für Erwerbstätige zum Austritt aus dem Arbeitslosengeld-II-System und ihre Wechselwirkungen mit dem Steuer- und Sozialversicherungssystem" oder Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, Forschungsbericht 9/2018: "Erwerbstätigkeit im unteren Einkommensbereich stärken - Ansätze zur Reform von Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kinderzuschlag").
Die Motivation, eine Arbeit aufzunehmen, bleibt weiterhin ein zentrales Element zur Integration in den Arbeitsmarkt. Es ist ein erster und entscheidender Schritt, um im Erwerbsleben wieder Fuß zu fassen. Oftmals handelt es sich um eine geringfügige Beschäftigung, die den Einstieg in Erwerbsarbeit eröffnet.
Ein Teil des monatlichen Erwerbseinkommens der zwischen 100 Euro und 1 000 Euro liegt, wird nach derzeitiger Rechtslage zu 80 Prozent auf die Grundsicherung angerechnet. Dies ist leistungsfeindlich und schafft viel zu wenig Anreiz, aus einer geringfügigen Beschäftigung etwa in einen Midi-Job zu wechseln. Das belegt eindrucksvoll auch die Statistik: Während mehr als 100 000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte über ein monatliches Erwerbseinkommen zwischen 400 Euro und 450 Euro verfügen, haben nur knapp 36 000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte ein monatliches Einkommen aus Erwerbstätigkeit zwischen 450 Euro und 500 Euro (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, März 2019). Die jetzige Rechtslage ist offensichtlich viel zu unattraktiv, um ein Einkommen über 450 Euro im Monat zu erzielen und so den Mini-Job zu verlassen.
Hinzu kommt: Der Hinzuverdienst bei einem Erwerbseinkommen zwischen 1 000 Euro bis 1 200 Euro im Monat ist mit einer Anrechnungsquote auf die Grundsicherung von sogar 90 Prozent nochmals unattraktiver. Diese hohe effektive Grenzbelastung führt dazu, dass erwerbsfähige Leistungsbeziehende so gut wie keinen finanziellen Mehrwert darin erkennen, ihr Beschäftigungsverhältnis verbunden mit dem Ziel auszuweiten, den SGB II-Leistungsbezug zu verlassen.