Der Bundesrat hat in seiner 868. Sitzung am 26. März 2010 gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Zielsetzung des Richtlinienvorschlags, den Schutz der Opfer von Straftaten durch die Vermeidung von Wiederholungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer zu verbessern. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Vorlage nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht.
- 2. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU (siehe die Stellungnahme des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5). Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden. Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber gegen den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt, rügen könnten.
- 3. Der Bundesrat hat erhebliche Zweifel, ob sich die vorgeschlagene Richtlinie auf Artikel 82 AEUV stützen lässt.
Nach dem in Artikel 5 Absatz 2 EUV normierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Die angegebene Rechtsgrundlage des Artikels 82 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe d AEUV gestattet im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Maßnahmen, um die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern. Artikel 82 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe a AEUV erlaubt die Festlegung von Regeln und Verfahren, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird.
- 4. Die von der beabsichtigten Richtlinie erfassten nationalen Opferschutzmaßnahmen werden von einigen Mitgliedstaaten in strafrechtlichen Verfahren getroffen, sind jedoch in anderen Mitgliedstaaten als zivilrechtlich (so im deutschen Gewaltschutzgesetz) oder verwaltungsrechtlich zu qualifizieren. Da die Mitgliedstaaten an ihren nationalen Systemen festhalten können, würde die Richtlinie nicht nur strafrechtliche, sondern auch zivil- und verwaltungsrechtliche Regelungen erfassen. Damit ist nicht nur der Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit betroffen, für den Artikel 82 AEUV einschlägig ist.
- 5. Der Bundesrat nimmt mit großer Besorgnis zur Kenntnis, dass im Rat erwogen wird, Artikel 82 AEUV dahingehend auszulegen, dass nicht nur strafrechtliche Maßnahmen erfasst werden, sondern auch solche, die in Verfahren anderer Art getroffen werden, sofern diese den Schutz vor Straftaten zum Ziel haben. Diese extensive Auslegung dehnt die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen weit in den Bereich der Prävention aus und ist nachdrücklich abzulehnen.
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen kann sich nur auf Entscheidungen beziehen, die im Rahmen der Strafrechtspflege und auf der Grundlage des Straf- bzw. Strafverfahrensrechts getroffen wurden. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut und der Systematik des Vertrages. Auch bei autonomer Auslegung des Artikels 82 AEUV ist der Begriff der Strafsache so zu verstehen, dass an eine begangene Straftat angeknüpft werden muss. Der Schutz vor bevorstehenden Straftaten ist hingegen dem Bereich der Gefahrenabwehr zuzuordnen, der von Artikel 82 AEUV nicht erfasst wird. Aus dem Regelungsgehalt der Artikel 82 bis 86 AEUV lässt sich ebenfalls der Schluss ziehen, dass sich die Vorschriften des entsprechenden Kapitels des Vertrages auf straf- und strafverfahrensrechtliche Maßnahmen im eigentlichen Sinne beziehen.
Die Erstreckung von Artikel 82 AEUV auf nicht strafrechtliche Entscheidungen, die lediglich das Ziel der Verhinderung von Straftaten verfolgen, könnte dazu führen, dass andere Kompetenzbestimmungen und deren möglicherweise restriktivere Voraussetzungen umgangen werden. So richtet sich etwa die gegenseitige Anerkennung zivilgerichtlicher Entscheidungen nach Artikel 81 AEUV. Zum Zwecke der Kriminalprävention gestattet Artikel 84 AEUV lediglich Maßnahmen der EU, die das Vorgehen der Mitgliedstaaten fördern und unterstützen.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die vertraglichen Kompetenzgrundlagen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen restriktiv ausgelegt werden müssen. Diese strikte und keinesfalls extensive Auslegung hat gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auch zu erfolgen, wenn ein Beschluss im Bereich der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen im Sinne von Artikel 82 Absatz 1 AEUV gefasst werden soll. Die Strafrechtspflege ist von kulturellen und historisch gewachsenen Vorverständnissen abhängig und in besonderem Maße durch die Werte und sittlichen Prämissen in den Mitgliedstaaten geprägt. Die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege ist eine zentrale Aufgabe staatlicher Gewalt, hinsichtlich deren Übertragung auf eine supranationale Ebene strenge Maßstäbe anzulegen sind.