Der Bundesrat hat in seiner 954. Sitzung am 10. März 2017 gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die vorgesehene Festschreibung EU-weiter Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer, nationaler Berufsregulierungen oder vor Änderung bestehender Regulierungen in Form einer Richtlinie in nationale Hoheitsrechte eingreift und mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit nicht im Einklang steht.
- 2. Er bezweifelt, dass sich der Richtlinienvorschlag auf eine für ein Tätigwerden der EU erforderliche Rechtsgrundlage stützen lässt. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU (vergleiche hierzu die Stellungnahmen des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5, vom 26. März 2010, BR-Drucksache 043/10(B) , Ziffer 2, und vom 16. Dezember 2011, BR-Drucksache 646/11(B) , Ziffer 2).
- 3. Der Vorschlag bedeutet einen Eingriff in das Recht der Mitgliedstaaten zur Regulierung reglementierter Berufe. Es obliegt den einzelnen Mitgliedstaaten, Regelungen in Bezug auf den Zugang zu einem Beruf oder seine Ausübung einzuführen, sofern die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Die EU verfügt in diesem Bereich über keine umfassende Rechtsetzungs- und Harmonisierungskompetenz.
- 4. Die Kommission stützt ihren Vorschlag auf Artikel 46, Artikel 53 Absatz 1 und Artikel 62 AEUV. Voraussetzung für die gewählte Rechtsgrundlage ist, dass der geplante Rechtsakt tatsächlich den Zweck hat, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Niederlassungswilligen oder Dienstleistungserbringer mit Hilfe der Rechtsangleichung den Wechsel vom Herkunfts- in den Zielstaat zu erleichtern und so die Wahrnehmung grenzüberschreitender Tätigkeiten zu verbessern. Es bedarf eines positiven Binnenmarkteffekts. Die Mobilität von Selbständigen und abhängig Beschäftigten wird über die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen gewährleistet. Ein Handlungserfordernis zur Mobilitätssicherung besteht daher nicht. Der europäische Gesetzgeber hat in Artikel 59 Absatz 3 der Anerkennungsrichtlinie bereits die Verhältnismäßigkeitskriterien benannt, die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt wurden.
- 5. Ziel der gewählten Rechtsgrundlage ist es, die im nationalen Recht bestehenden zulässigen Schranken mit Hilfe der Anerkennung bzw. Koordinierung nationalen Rechts im Interesse der Rechtssicherheit zu überwinden. Eine Kodifizierung der Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen einer Richtlinie bringt keinen Mehrwert und dient allenfalls einer Vereinheitlichung der Prüfung der Schranken der Grundfreiheiten, führt aber nicht zu deren Überwindung. Die vorgeschlagene verbindliche Regelung ist daher nicht vom Ziel der Rechtsgrundlage gedeckt.
- 6. Nach Artikel 5 Absatz 3 EUV darf die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH und Artikel 59 Absatz 3 der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen besteht bereits ein einheitlicher EU-Rechtsrahmen zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit nationaler Berufsreglementierungen. Die Einhaltung dieser Rechtsprechung kann auch auf nationaler Ebene ausreichend gewährleistet werden.
- 7. Die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfordert gemäß Artikel 5 Absatz 4 EUV, dass die Maßnahmen der EU inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen.
- 8. Der Bundesrat bezweifelt, dass die Festschreibung EU-weiter Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer, nationaler Berufsregulierungen oder vor Änderung bestehender Regulierungen und die dabei vorgeschriebene Methodik inhaltlich verhältnismäßig, insbesondere erforderlich und angemessen sind. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist sowohl in den Unionsverträgen als auch in der EU-Gesetzgebung kodifiziert. Es entfaltet seine Wirkung bereits als Bestandteil des materiellen Rechtsstaatsprinzips gemäß Artikel 2 und Artikel 5 AEUV. Eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit bestehender und zukünftiger Berufsreglementierungen findet in Deutschland (wie auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten) bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen statt.
- 9. Der vorliegende Richtlinienvorschlag geht mit seinen äußerst detaillierten Prüfungsvorgaben deutlich über die ständige Rechtsprechung des EuGH hinaus. Die Festlegung weitergehender Anforderungen an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch eine Richtlinie ist weder erforderlich noch angemessen und nicht mit dem Ziel der Richtlinie vereinbar, den nationalen Behörden die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erleichtern.
- 10. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass auch andere, weniger in die Rechte der Mitgliedstaaten einschneidende Maßnahmen als der Erlass eines Rechtsakts in Betracht kämen (freiwillige Selbstregulierung et cetera). Bereits nach geltendem Recht wird bei jedem Erlass und jeder Änderung einer Berufsreglementierung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt. Im Zeitalter von Deregulierung und Bürokratieabbau können die detaillierten Prüfungsvorgaben und umfassenden Vorgaben zur Methodik nicht nachvollzogen werden. Der damit verbundene enorme Aufwand steht in keinem Verhältnis zum möglichen Nutzen. Der bestehende EU-Rechtsrahmen und die ständige Rechtsprechung des EuGH zur Verhältnismäßigkeitsprüfung könnten den nationalen Behörden auch - wie im Februar 2015 vom Europäischen Rat gefordert - mittels einer (rechtlich unverbindlichen) Leitlinie zur Verfügung gestellt werden, um die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erleichtern. Eine effektive Überprüfung mitgliedstaatlicher Rechtsetzung und damit auch die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips kann über bestehende Kontrollmechanismen (wie beispielsweise Pilotverfahren und Vertragsverletzungsverfahren) erreicht werden. Der Erlass einer neuen eigenständigen Richtlinie ist auch unter diesem Gesichtspunkt nicht erforderlich.