Der Bundesrat hat in seiner 820. Sitzung am 10. März 2006 zu dem Jahresgutachten 2005/2006 des Sachverständigenrates gemäß § 6 Abs. 1 Sachverständigenratsgesetz und zu dem Jahreswirtschaftsbericht 2006 der Bundesregierung gemäß § 2 Abs. 1 StWG wie folgt Stellung genommen:
- 1. Der Bundesrat nimmt das Jahresgutachten 2005/2006 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Jahreswirtschaftsbericht 2006 der Bundesregierung zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland 2005 mit einem realen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 0,9 Prozent nach 1,6 Prozent im Jahr 2004 hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückgeblieben ist. Er stimmt mit Sachverständigenrat und Bundesregierung darin überein, dass sich die Exportnachfrage im vergangenen Jahr dank der dynamischen weltwirtschaftlichen Entwicklung einmal mehr als Wachstumsstütze erwiesen hat. Dagegen konnte die Binnenwirtschaft trotz erster Lichtblicke infolge der gestiegenen Ausrüstungsinvestitionen zum wiederholten Mal nicht vom dynamischen Außenhandel profitieren. Die Konjunktur blieb gespalten. Besonders der stagnierende private Verbrauch litt nach wie vor unter hohen Sozialabgaben und höheren Energiepreisen sowie der anhaltenden Angst vieler Arbeitnehmer vor einem Arbeitsplatzverlust. Die registrierte Arbeitslosigkeit erreichte - selbst bereinigt um die Sondereffekte der Hartz-IV-Reform - Nachkriegs-Rekordniveau. Die negative Entwicklung der Zahl sozialversicherungspflichtig beschäftigter Personen in Deutschland hielt weiter an. Für das Gesamtjahr 2005 erwartet der Sachverständigenrat einen nochmaligen Verlust von 395.000 sozialversicherungspflichtigen Stellen. Dementsprechend prekär blieb die Lage der Sozial- und Staatsfinanzen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde zum vierten Mal hintereinander verletzt, die Neuverschuldungsgrenze des Artikels 115 GG nicht eingehalten.
- 3. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Bundesrat die von wohltuender Vorsicht gekennzeichnete Prognose im Jahreswirtschaftsbericht der neuen Bundesregierung, die von einem realen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Jahresdurchschnitt 2006 um 1,4 Prozent ausgeht.
- 4. Nachdem sich die Anzeichen für eine nunmehr auch stärker binnenwirtschaftlich getragene konjunkturelle Erholung mehren, erscheint aber auch ein etwas höheres Wachstum erreichbar als von der Bundesregierung prognostiziert.
- 5. Der Bundesrat stellt mit Befriedigung fest, dass sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt mittlerweile zu stabilisieren beginnt. So lag die Zahl der Arbeitslosen im Januar erstmals nach längerer Zeit wieder unter dem Vorjahresniveau. Zwar hält der Abbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Bund nach wie vor an. Er hat sich aber zuletzt deutlich verlangsamt. Erste Länder haben die Beschäftigungswende bereits im Oktober/November 2005 geschafft. Aus Sicht des Bundesrates kommt es angesichts des hohen Anteils schlecht qualifizierter und niedrig produktiver Arbeitsloser jetzt auch darauf an, deutlich mehr Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich zu mobilisieren. Dies ist der entscheidende Maßstab, der an Kombilohn-Modelle anzulegen ist.
- 6. Der Bundesrat unterstützt den von der Bundesregierung verfolgten Generalkurs "Sanieren - investieren - reformieren". Er hält den geplanten Sanierungs-Mix aus Einsparungen, Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch Abbau von Steuervergünstigungen, Steuererhöhungen und Privatisierungserlösen für zielführend. Er sieht angesichts begrenzter Einsparmöglichkeiten auch zur Mehrwertsteuererhöhung keine Alternative. Der Haushalt des Bundes muss 2007 den Regelanforderungen des Artikels 115 GG genügen und das Defizit von Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen wieder unter die 3 %-Marke des Stabilitätspaktes von Maastricht gedrückt werden.
- 7. Sparen allein genügt nicht. Der Bundesrat begrüßt deshalb auch das zu Jahresbeginn bei der Regierungsklausur in Genshagen von der Bundesregierung beschlossene Wachstumspaket. Die dadurch ausgelösten Impulse werden dazu beitragen die Konjunktur so zu festigen, dass die 2007 anstehenden großen Konsolidierungsschritte den Aufschwung nicht nachhaltig gefährden.
- 8. Von besonderer Bedeutung für die Stabilisierung des Wirtschaftsklimas und die Stärkung des Vertrauens von Unternehmen und Verbrauchern erachtet der Bundesrat die rasche Inangriffnahme weiterer notwendiger Strukturreformen. Er geht davon aus, dass die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern auf der Grundlage der steuerpolitischen Konzepte von Sachverständigenrat und Stiftung Marktwirtschaft ein Unternehmenssteuerrecht entwickelt mit dem eine Steigerung der Attraktivität des Standorts Deutschland einhergeht ohne die notwendige Stabilisierung der Einnahmenseite der öffentlichen Haushalte zu gefährden.
- 9. Zum 1. Januar 2007 muss das Erbschaftsteuergesetz dahingehend reformiert werden dass für jedes Jahr der Unternehmensfortführung die auf das übertragene Unternehmen entfallende Erbschaftsteuerschuld reduziert wird und letztlich ganz entfällt, wenn das Unternehmen mindestens zehn Jahre nach Übergabe fortgeführt wird. Die ebenfalls unabweisbaren Reformen in den Sozialen Sicherungssystemen müssen darauf abzielen, den Faktor Arbeit im globalen Wettbewerb von gesetzlichen Lohnzusatzkosten zu entlasten. Das heißt die Summe der Sozialbeiträge muss unter 40 Prozent sinken.
- 10. Nach Auffassung des Bundesrates steht besonders der Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft durch eine hohe bürokratische Regelungsdichte, die noch immer schwache Eigenkapitalausstattung sowie Probleme bei der Unternehmensfinanzierung unter Druck. Der Bundesrat begrüßt deshalb die Pläne der Bundesregierung, ein Mittelstands-Entlastungsgesetz auf den Weg zu bringen mit dem Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflichten verringert Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht und beschleunigt Doppel- und Mehrfachprüfungen abgebaut, Schwellenwerte vereinheitlicht, die Verpflichtung von Betrieben zur Bestellung von Beauftragten begrenzt sowie die bereits begonnene Vereinfachung der betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung von Kleinbetrieben fortgeführt werden sollen. Mit Befriedigung stellt der Bundesrat fest, dass der Bürokratieabbau durch die Einrichtung eines Normenkontrollrats im Bundeskanzleramt, einen Bürokratie-TÜV und die Übernahme des niederländischen Standardkosten-Modells auf eine neue Grundlage gestellt wird. Für Existenzgründer sowie speziell für kleine und mittlere Unternehmen müssen, gerade auch im Hinblick auf Basel II, die Finanzierungsbedingungen durch steuerliche Erleichterungen bei der Bildung von Eigenkapital, einen erleichterten Zugang zu den Kreditmärkten sowie die Unterstützung bei der Nutzung neuer Finanzierungsformen verbessert werden.
- 11. Der Bundesrat sieht insbesondere in der Mittelstandsoffensive einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der von kleinen und mittleren Unternehmen geprägten Wirtschaft in den neuen Ländern. Er weist allerdings darauf hin, dass gerade mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland die zügige Umsetzung der zur Steigerung der Attraktivität des Investitionsstandortes Deutschland notwendigen weitergehenden Strukturreformen geboten ist. Der Aufbau Ost wird nur dann neue Dynamik gewinnen können, wenn die gesamtdeutsche Wachstumsschwäche überwunden wird. Der Bundesrat ist wie die Bundesregierung der Auffassung, dass die neuen Länder auf Grund ihrer besonderen Strukturprobleme weiterhin einer spezifischen Förderung bedürfen. Er begrüßt in diesem Zusammenhang die im Jahreswirtschaftsbericht vorgenommene Bekräftigung des Solidarpaktes II als Finanzierungs- und Planungsgrundlage für den Aufbau Ost, das Eintreten der Bundesregierung für die Verlängerung der Investitionszulage sowie die Absicht, die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" auf hohem Niveau fortzuführen.
- 12. Im Hinblick auf eine effiziente Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel muss die Förderung künftig noch stärker auf die Erzielung größtmöglicher Wachstumseffekte ausgerichtet werden.
- 13. Der Bundesrat unterstreicht, dass Energiepolitik nicht nur Klimaschutzpolitik sein kann, sondern vor allem auch Wirtschaftspolitik sein muss. Schon auf Grund der im internationalen Vergleich sehr hohen Arbeitskosten steht der Beschäftigungsstandort Deutschland unter Druck. Der Bestand an Arbeitsplätzen darf nicht auch noch durch zu hohe Energiepreise gefährdet werden. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb auf, sich auf dem geplanten Energiegipfel klar zu den Zielen Versorgungssicherheit, Preiswürdigkeit und Umweltverträglichkeit zu bekennen. In dem dafür notwendigen ausgewogenen Energiemix kann auf die Kernenergie auf absehbare Zeit nicht verzichtet werden. Die Förderung der erneuerbaren Energien muss effizienter erfolgen. Beim Emissionshandel ist die Kostenbelastung der Wirtschaft stärker zu berücksichtigen.
- 14. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Bundesregierung, dass Erhalt und Förderung von Sicherheit und Gesundheitsschutz in den Unternehmen wichtige Elemente einer sozial ausgewogenen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sind.
- 15. Insoweit entsprechen sich Bestrebungen der Bundesregierung und des Bundesrates, die Arbeitsschutzüberwachung weiter zu entwickeln und in ihrem Leistungsangebot effizienter zu organisieren.
- 16. In diesem Zusammenhang steht der Bundesrat ebenfalls den Planungen der Bundesregierung, vorhandene Überschneidungen der Aufsichtsdienste von Ländern und Unfallversicherungsträgern aufzulösen und Synergien im Vollzug des Arbeitsschutzes zu erschließen, grundsätzlich positiv gegenüber.
- 17. Der Bundesrat geht davon aus, dass der beste Weg zur Umsetzung der von der Bundesregierung benannten Ziele und Vorhaben grundsätzlich nicht in Änderungen des dualen Systems im Arbeitsschutz, sondern in seiner Optimierung liegt. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass eine Konzentration der Überwachung von Arbeitsschutzmaßnahmen ganz oder auch nur in Teilbereichen bei den Unfallversicherungsträgern oder bei den staatlichen Überwachungsbehörden zwar größere Transparenz für die Betriebe schafft. Dabei darf jedoch nicht unterschätzt werden, dass jede Art der Aufgabenkonzentration zu vielfältigen Folgewirkungen u. a. in Bezug auf die Qualität und die Kosten der Aufgabenwahrnehmung führen wird, wobei eine Entlastung auf der einen Seite zu überproportionalen Belastungen der anderen Seite führen kann.
- 18. Wesentlich für die Optimierung des dualen Systems im Arbeitsschutz ist eine Verbesserung der Zusammenarbeit der staatlichen Arbeitsschutzbehörden mit den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Ankündigung der Bundesregierung, zusammen mit den Ländern gemeinsame nationale Arbeitsschutzziele definieren und ihre Umsetzung kontinuierlich evaluieren zu wollen, wird insoweit begrüßt.