Der Bundesrat hat in seiner 956. Sitzung am 31. März 2017 beschlossen, zu dem Bericht und der Stellungnahme der Bundesregierung gemäß § 84 SGB VIII wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der 15. Kinder- und Jugendbericht, der von der Bundesregierung in Auftrag gegeben worden ist, beschreibt umfassend die Lebenslagen der 12- bis 27-Jährigen in Deutschland sowie das Wirken der Institutionen, die in öffentlicher Verantwortung das Aufwachsen junger Menschen begleiten. Der Bundesrat begrüßt ausdrücklich die Konzentration der Berichterstattung auf Jugendliche und junge Erwachsene. Er hebt hervor, dass nach den intensiven Debatten über die frühe Bildung und Erziehung in den letzten Jahren nunmehr das Augenmerk auch wieder verstärkt auf die Rahmenbedingungen gelenkt werden muss, die das gelingende Aufwachsen und die Förderung und Unterstützung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen wesentlich beeinflussen. Angesichts des demographischen Wandels besteht die Gefahr, dass Jugendliche und junge Erwachsene ihre Interessen schlechter in Gesellschaft und Politik durchsetzen können und ihre Themen eher als weniger bedeutsam erscheinen. Deshalb bedarf es nach Auffassung des Bundesrates aller notwendigen Anstrengungen, um gute Rahmenbedingungen für Jugendliche und junge Erwachsene sowie für ihre Interessenvertretung zu schaffen.
- 2. Mit den im Bericht beschriebenen Kernherausforderungen des Jugendalters - Qualifizierung, Selbstpositionierung und Verselbständigung - wird herausgestellt, dass es für junge Menschen nicht allein darauf ankommt, über schulische, berufliche und Hochschulbildung ihre gesellschaftlichen Integrationsbedingungen zu gestalten. Vielmehr verdeutlicht dieser Dreiklang der Herausforderungen, dass darüber hinaus die zur Verselbständigung führenden Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung und die Selbstpositionierungen im Sinne der Herausbildung eigener Vorstellungen und Werte sowie das Ausbalancieren sozialer Zugehörigkeiten als Aufgaben gesehen werden müssen, bei denen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen von der Gesellschaft insgesamt - aber insbesondere von den sie begleitenden Institutionen - Unterstützung erhalten müssen.
- 3. Der Bundesrat sieht daher die Notwendigkeit, dass sich alle beteiligten Institutionen verstärkt den Themen widmen, die im Zusammenhang mit den genannten Kernherausforderungen dazu beitragen, Jugendliche und junge Erwachsene bei der Bewältigung dieser Anforderungen zu unterstützen und zu fördern. Dies umfasst den Ausgleich sozial ungleicher Rahmenbedingungen junger Menschen, die Vermeidung von Armutslagen, die Überwindung migrations- oder milieubedingter Chancenungleichheit, die Ausgestaltung und Förderung der mit der Digitalisierung verbundenen Chancen sowie die Minimierung hiermit einhergehender Risiken, die Bereitstellung und den Ausbau von Freiräumen und die Verbesserung der Beteiligung an Entscheidungsprozessen auf dem Weg der Schaffung verbindlicher Mitbestimmungsmöglichkeiten auf allen staatlichen, gesellschaftlichen wie institutionellen Ebenen.
- 4. Da die Angebote der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Jugendschutzes eine herausragende Bedeutung haben, damit Jugendliche und junge Erwachsene die aufgeführten Kernherausforderungen verwirklichen können, betrachtet der Bundesrat diese Bereiche als soziale Infrastrukturangebote, die im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge grundsätzlich vorzuhalten und damit auch finanziell abzusichern sind. Eine SGB VIII-Reform muss das mit einbeziehen. Hier ist insbesondere die Bundesregierung gefordert, die in den §§ 11 bis 14 SGB VIII beschriebenen Leistungen so auszugestalten, dass diese im Kanon aller Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nicht hinter der Bedeutung und Regelungsqualität zum Beispiel der Bereiche frühkindliche Bildung und Erziehung sowie erzieherische Hilfen zurückbleiben. Auch würde damit die eigenständige Jugendpolitik, die der 15. Kinder- und Jugendbericht ausdrücklich fordert, finanziell untermauert.
- 5. Aus Sicht des Bundesrates ist auch eine inhaltliche Weiterentwicklung der Angebote der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Jugendschutzes durch öffentliche und freie Träger der Jugendhilfe wichtig. Dazu gehört insbesondere, dass die Angebote unter maßgeblicher Mitbestimmung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestaltet werden. Die Aspekte politischer Bildung sind möglichst in allen Angebotsformen einzubeziehen und sozial ungleiche Ausgangsbedingungen junger Menschen sind mit dem Ziel des Ausgleichs mit in den Blick zu nehmen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, dass die Träger ihre Angebote im Hinblick auf Form, Zielrichtung und Wirkung überprüfen und weiterentwickeln.
- 6. Der Bundesrat stimmt der Einschätzung des Berichts zu, dass Jugendliche und junge Erwachsene heute mehr denn je durch das Wirken der Bildungsinstitutionen Schule, Berufsbildung, Hochschulen geprägt werden. Insbesondere trifft dies zu für den Besuch der allgemeinbildenden Schulen. Hier hat sich der zeitliche Rahmen des Aufenthalts in der Institution Schule auch aufgrund zunehmender Ganztagsangebote in der Sekundarstufe I deutlich ausgeweitet. Damit hat die Schule real über ihren bildungspolitischen Auftrag hinaus auch eine größere Verantwortung für die Unterstützung junger Menschen bei der Bewältigung der drei Kernherausforderungen des Jugendalters. Schule bedarf damit neben der bildungspolitischen auch einer jugendpolitischen Gestaltung. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, die Anstrengungen der Länder, die erweiterten schulbezogenen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe verbindlich auszugestalten, im Kontext der SGB VIII-Reform zu unterstützen.
- 7. Insbesondere mit Blick auf Ganztagsangebote sieht der Bundesrat erhebliche Entwicklungspotenziale für die Schulen und vor allem für ihre Öffnung hin zu einer gleichberechtigten Kooperation mit der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und dem erzieherischen Jugendschutz. Der Bundesrat teilt die Einschätzung des Berichts, dass sich die Erwartungen an die Kooperation von Schulen und Jugendhilfe bisher nur ansatzweise erfüllt haben. Er sieht daher das Erfordernis einer gemeinsamen Entwicklung eines abgestimmten Bildungs- und Unterstützungskonzeptes durch den Schulbereich und den Jugendbereich sowie unter Mitwirkung junger Menschen selbst, das in gemeinsamer Verantwortung umgesetzt werden soll. Ein solches Konzept muss auf die drei Kernherausforderungen Qualifizierung, Selbstpositionierung und Verselbständigung ausgerichtet sein und die Grundlage für Ganztagsangebote bilden, die das Interesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen finden und die Ganztagsschule zu einem Ort von Eigeninitiative, Selbstorganisation und sozialem Lernen weiterentwickeln.
- 8. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Berichtskommission, dass die umfassende Beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen von zentraler Bedeutung für ihre politische und soziale Integration ist. Daher bedarf es, wie im Bericht treffend dargelegt, in Politik, Gesellschaft und Institutionen der verstärkten Ausgestaltung einer Beteiligungs- und Verantwortungskultur im Jugendalter. Grundlegend dafür ist die Verankerung von Partizipation und wirksamer Mitbestimmung in für Jugendliche und junge Erwachsene relevanten Lebenswelten und Bildungsorten. Dies gilt sowohl für die Angebote der Jugendarbeit als auch für die (Ganztags-)Schule. Wesentlich unterstützt werden kann diese Entwicklung nach Auffassung des Bundesrates durch die auch grundgesetzlich anzuerkennende Subjektstellung des Kindes und die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz.
- 9. Da es bei der jugend- und beteiligungsorientierten Weiterentwicklung der Ganztagsschule auch um die Herstellung gleichwertiger Lebens- und Entwicklungsbedingungen geht, sieht der Bundesrat die Bundesregierung in der Verantwortung, die hierfür erforderlichen finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrat die Bundesregierung zum wiederholten Male auf, mit den Ländern in Verhandlungen über eine den Lasten angemessene Verteilung der für den Bildungsbereich notwendigen Ressourcen einzutreten.
- 10. Der Bundesrat stellt fest, dass der häufig mit dem Eintritt der Volljährigkeit eintretende Wegfall von erzieherischen Hilfen für einen Teil der jungen Erwachsenen bedeutet, dass ihnen die Möglichkeit einer gelingenden Bewältigung ihrer Kernherausforderungen genommen wird. Dies ist aus Sicht des Bundesrates eine nicht hinnehmbare Einschränkung der Entwicklungschancen dieser jungen Menschen und führt überdies zu ansteigenden sozialen Folgekosten. Der Bundesrat appelliert daher an die zuständigen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, hier zu einer den Erfordernissen der jungen Menschen angemessenen Praxis zu kommen. Zugleich sieht der Bundesrat die Bundesregierung in der Verantwortung, hier über eine Reform des SGB VIII Rechtsklarheit zur Pflicht der bedarfsgerechten Hilfegewährung für junge Erwachsene im beschriebenen Sinn zu schaffen.