Der Bundesrat hat in seiner 946. Sitzung am 17. Juni 2016 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt das Ziel der Kommission, gemäß dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft, die soziale Dimension der EU sichtbarer zu machen. Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft wird im EU-Vertrag explizit genannt. Er begrüßt darüber hinaus die mit der Europäischen Säule sozialer Rechte angestrebte soziale Aufwärtskonvergenz.
- 2. Der Bundesrat weist darauf hin, dass durch die soziale Querschnittsklausel in Artikel 9 AEUV bereits alle wesentlichen Elemente für eine stärkere soziale Konvergenz im Grunde angelegt sind. Er fordert die Kommission auf, in Umsetzung dieser Querschnittsklausel horizontale soziale Folgenabschätzungen auf der Basis der sozialpolitischen Zielstellungen der Verträge vorzunehmen.
- 3. Auf der Grundlage der vorgelegten Mitteilung ist nicht ersichtlich, wie die in der Europäischen Säule sozialer Rechte dargelegten Prinzipien implementiert werden sollen, um soziale Reformen in den Mitgliedstaaten anzustoßen. Der Bundesrat schlägt vor, die Europäische Säule sozialer Rechte in einem ersten Schritt mit den Armutsbekämpfungs- und Beschäftigungszielen der Strategie Europa 2020 zu verknüpfen und so die soziale Dimension des Europäischen Semesters zu stärken. Soweit sich die wirtschaftspolitische Steuerung sowie die makroökonomische Überwachung der Strategie Europa 2020 mit den länderspezifischen Empfehlungen auf den Sozialbereich beziehen, sollen im Rahmen des wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierungsprozesses sozialpolitische Aspekte verstärkt Berücksichtigung finden. Dabei ist gleichzeitig darauf zu achten, dass die Autonomie der Sozialpartner uneingeschränkt respektiert bleibt. Er fordert darüber hinaus die Kommission auf, die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen, strukturelle Wettbewerbsschwächen abzubauen, weiterhin zu unterstützen, um wieder mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen zu können.
- 4. Die EU verfügt bereits heute über eine soziale Dimension. Diese umfasst unter anderem den sozialen Dialog, die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung, die Förderung sozialer Gerechtigkeit und eines angemessenen sozialen Schutzes, die Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitsbedingungen sowie die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen. Angesichts einer immer enger vernetzten Wirtschafts- und Währungsunion ist es aus Sicht des Bundesrates angezeigt, den Fokus bei der Gesetzgebung nicht nur auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu legen, sondern - unter Wahrung der geltenden Zuständigkeitsverteilung, insbesondere unter Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes - die soziale Situation in den Mitgliedstaaten in gleichem Maße zu berücksichtigen.
- 5. Der Bundesrat weist auf die unterschiedlichen Sozialmodelle in der EU und die differenziert ausgestalteten Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten im sozialpolitischen Bereich hin. Vor diesem Hintergrund ist eine umfassende Vereinheitlichung von Sozialstandards auf EU-Ebene nicht zielführend. Vielmehr geht es darum, bei der Gestaltung der Politiken der EU verstärkt sozialpolitische Zielsetzungen zu berücksichtigen und sozialpolitische Ziele und (Mindest-)Standards zu formulieren, die von der EU und den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen verfolgt werden. Darüber hinaus sollte darauf hingewirkt werden, dass bereits geltende Standards weiter umgesetzt werden. Ebenso gilt es, dass bei einem Ausbau der sozialen Dimension die bestehende Kompetenzordnung, die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten sowie die nationalen Bedürfnisse, Leistungsfähigkeiten und Traditionen respektiert werden müssen.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass gerade beschlossene Strukturreformen in den Mitgliedstaaten mit hoher (Jugend-)Arbeitslosigkeit eine tatsächliche Verbesserung der sozialen Situation in Europa bewirken.
- 7. Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit setzt sich der Bundesrat für die Stärkung von Mobilität und Durchlässigkeit in einem gemeinsamen europäischen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ein. Zur Bewältigung der Herausforderung, die die Jugendarbeitslosigkeit darstellt, soll die weitere Umsetzung der Europäischen Ausbildungsallianz und der Jugendgarantie ebenso beitragen wie ein am tatsächlichen Bedarf auf dem Arbeitsmarkt orientiertes, praxisbezogenes Ausbildungsmodell in den betroffenen Staaten. Hier sollten auch die positiven Erfahrungen mit dem deutschen System der dualen Berufsausbildung einbezogen werden. So verzeichnet Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten.
- 8. Der Bundesrat betont, dass die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips gerade in der Sozial- und Gesundheitspolitik als bedeutende Bereiche der nationalen Souveränität Zurückhaltung hinsichtlich neuer Legislativakten auf EU-Ebene gebieten und nur neue Legislativakte gestatten, die diesem Grundsatz Rechnung tragen.
- 9. Der Bundesrat fordert die Kommission auf, die Chancen und Risiken der fortschreitenden Technisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt zu berücksichtigen, um trotz der Veränderungen ein hohes arbeits- und sozialrechtliches Schutzniveau für alle Beschäftigten sicherzustellen. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass eine stärkere soziale Konvergenz nur dann erreicht werden kann, wenn in allen Mitgliedstaaten sichergestellt ist, dass für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer faire Arbeits- und Entlohnungsbedingungen herrschen.
- 10. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich eine größere wirtschaftliche und soziale Konvergenz insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Stabilität in der Eurozone, der Verbesserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums und der Vermeidung von Armut. Die Sozialpartner müssen in diesem Prozess eine zentrale Rolle einnehmen. Er fordert die Kommission auf, einen Austausch der Mitgliedstaaten hinsichtlich bewährter Verfahren, zum Beispiel des erfolgreichen deutschen Systems der dualen Ausbildung, im Sinne eines Voneinander-Lernens zu unterstützen. Zudem sollten vorrangig bereits vorhandene Koordinierungsinstrumente wie das Europäische Semester genutzt werden.
- 11. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Verwirklichung der sozialen Dimension innerhalb aller 28 Mitgliedstaaten der EU auch von einem effektiven Abruf zur Verfügung stehender Fördermittel - insbesondere des Europäischen Sozialfonds - abhängt (siehe bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 29. November 2013, BR-Drucksache 721/13(B) ). Er ruft die Kommission auf, den Aufbau der für einen besseren Mittelabruf erforderlichen Strukturen in den Mitgliedstaaten mit besonderen sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen stärker und nachhaltig zu begleiten sowie die administrativen Abläufe zu verschlanken bzw. zu vereinfachen. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass es auch in wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten nach wie vor Regionen mit sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen und in wirtschaftlich stärkeren Regionen soziale und wirtschaftliche Problemlagen - unter anderem auch kommunale - gibt, die einer besonderen Förderung aus Strukturfondsmitteln bedürfen.
- 12. Artikel 153 AEUV legt fest, dass die EU durch Richtlinien Mindestvorschriften erlässt und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen und des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags unterstützt und ergänzt. Der Bundesrat lehnt im Hinblick auf die vertraglich verankerten Kompetenzen der EU insbesondere rechtliche bindende Vorgaben, Kündigungen mit einer verbindlichen Abfindung zu versehen sowie inhaltliche Bedingungen für die Probezeit festzulegen, ab.
- 13. Die europäische Säule sozialer Rechte umfasst nach einem ersten Entwurf der Kommission auch Bereiche wie den Bildungsbereich, in denen der EU nur eine unterstützende und ergänzende Rolle zukommt und für welche primär die Mitgliedstaaten zuständig sind. Ungeachtet dessen soll die Säule zu einem Bezugsrahmen für das Leistungsscreening der Teilnahmestaaten werden und nationale Reformen vorantreiben. Vor dem Hintergrund der in Artikel 165 und 166 AEUV sehr eng gesteckten Kompetenzgrenzen lehnt der Bundesrat ein derartiges Leistungsscreening als formalisierte Überwachung und Bewertung bei Bildungsthemen entschieden ab. Im Bildungsbereich darf die EU lediglich die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördern und deren Tätigkeit unter strikter Beachtung der mitgliedstaatlichen Verantwortung für die Lehrinhalte und der Freiwilligkeit der europäischen Bildungskooperation unterstützen.
- 14. Der Bundesrat sieht mit großer Sorge, dass Bildungsthemen auf EU-Ebene von anderen Bereichen, insbesondere dem Bereich Beschäftigung und Soziales, zunehmend vereinnahmt werden. Institutionell hat dies bereits in der Umstrukturierung der Generaldirektionen der Kommission und der Zuordnung der beruflichen Bildung und Erwachsenenbildung sowie des Bereichs der "Fertigkeiten" zur Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration Niederschlag gefunden. Der Bundesrat betont erneut, dass die Bildungskooperation auf europäischer Ebene einen ausschließlich freiwilligen Prozess darstellt und sich der Bildungsbereich hierin elementar von dem stärker vergemeinschafteten Beschäftigungsbereich unterscheidet. Der Bildungsbereich darf nicht faktisch mit anderen Politikbereichen gleichgestellt werden. Darüber hinaus fordert der Bundesrat, dass Bildungsdossiers auch bei zukünftigen Initiativen der Kommission, wie der sogenannten "Agenda für neue Kompetenzen", weiterhin federführend von den hierfür zuständigen Bildungsgremien behandelt werden.
- 15. Der Bundesrat stellt fest, dass der Entwurf der sozialen Säule sowie das die Mitteilung begleitende Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen eine Vielzahl von Bildungsthemen, wie Fertigkeiten und lebenslanges Lernen, Zugang zu qualitätsvoller allgemeiner und beruflicher Bildung, Fortbildung und Weiterqualifizierung, Anerkennung von Fertigkeiten und Qualifikationen sowie Bildungsausgaben, ansprechen. Der Bundesrat verleiht seiner Sorge Ausdruck, dass originäre Bildungsangelegenheiten immer mehr von anderen Politikbereichen vereinnahmt werden. Dies steht weder in Einklang mit den europäischen Verträgen noch wird es dem Eigenwert von Bildung gerecht.
- 16. Mit Blick auf eine mögliche rechtliche Verankerung der sogenannten EU-Jugendgarantie unter Kapitel I Nummer 4 des Entwurfs einer europäischen Säule sozialer Rechte weist der Bundesrat auf Folgendes hin: Der Bundesrat befürwortet grundsätzlich eine Garantie eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes für alle Menschen unter 25 Jahren, allerdings nicht im Sinne einer staatlichen Garantie, sondern als eine Summe von Angeboten aller Akteure in der beruflichen Bildung (Wirtschaft, Arbeitsverwaltung und Staat). Denn der Erfolg der Suche nach Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen ist auch von den betreffenden Personen selbst abhängig und kann nicht von der öffentlichen Hand und der Wirtschaft garantiert werden. Der Bundesrat lehnt daher eine Garantie im Sinne einer rechtlichen Verpflichtung der für die Eingliederung in Arbeit zuständigen Stellen (Jobcenter) ab. Er betont die Notwendigkeit guter wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten als Voraussetzung für das Entstehen von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Die Bindung an eine Frist von vier Monaten unter Ziffer 4 Buchstabe a verkennt zudem, dass betriebliche Ausbildungen an Regelungen, wie Ausbildungsordnungen, gebunden sind. Der Bundesrat weist darauf hin, dass ein unterjähriger Ausbildungsbeginn, den die Viermonatsfrist zur Folge haben könnte, zu Schwierigkeiten führen kann, da die früheren betrieblichen Ausbildungsinhalte nicht erlernt wurden.
- 17. Der Bundesrat bittet, bei der Erarbeitung von konkreten Empfehlungen die nationalen Zuständigkeiten zu beachten. So obliegt es den Mitgliedstaaten, über die Bezahlung von Elternurlaub zu entscheiden (Kapitel I Nummer 5).
- 18. Nach dem Entwurf der Kommission sollen Mindestlöhne und -gehälter mit einem transparenten und vorhersehbaren Mechanismus in einer Weise festgelegt werden, die den Zugang zu Beschäftigung und die Motivation, sich Arbeit zu suchen, gewährleistet. Entsprechend der Kompetenzverteilung in den Verträgen verbleibt die Festlegung von Mindestlöhnen in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Unabhängig davon ist die Lohnfindung Angelegenheit der Tarifpartner, die sich dabei regelmäßig auch an der Produktivität orientiert (siehe zuletzt auch die Stellungnahme des Bundesrates vom 29. Januar 2016, BR-Drucksache 503/15(B) ).
- 19. Der Bundesrat stellt fest, dass insbesondere betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliche Gesundheitsvorsorge bzw. der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit Älterer nicht expliziert erwähnt sind. Der Bundesrat fordert, dass Ziele und Maßnahmen hinsichtlich der Verhaltens- und Verhältnisprävention in Kapitel II Nummer 9 des Entwurfs einer europäischen Säule sozialer Rechte konkretisiert werden.
- 20. Der Bundesrat hat bereits bei der Richtlinie 2014/50/EU über Mindestvorschriften zur Erhöhung der Mobilität von Arbeitnehmern zwischen den Mitgliedstaaten durch Verbesserung des Erwerbs und der Wahrung von Zusatzrentenansprüchen darauf hingewiesen, dass bei Sozialleistungsansprüchen sowohl den Interessen der Unternehmen in Bezug auf Mitarbeiterbindung als auch denen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bezug auf Flexibilität und Portabilität erworbener Ansprüche Rechnung zu tragen ist (vergleiche die Stellungnahme des Bundesrates vom 10. Februar 2006, BR-Drucksache 784/05(B) ). Ansprüche auf Fortbildung sollten konkreten Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien überlassen bleiben.
- 21. Der Bundesrat fordert zudem besonders, dass die Besonderheiten des öffentlichen Dienstes einschließlich der Beamtenversorgung berücksichtigt und die Rechtsetzungskompetenzen der Mitgliedstaaten uneingeschränkt und dauerhaft erhalten bleiben. Der unter Kapitel I Nummer 3 Buchstabe b des Entwurfs einer europäischen Säule sozialer Rechte aufgestellte Grundsatz sollte daher so gefasst werden, dass zum Ausdruck gebracht wird, dass die Wahrung und Portabilität der im Laufe des Berufslebens erworbenen Sozialleistungsansprüche gewährleistet werden soll, um einen Arbeitsplatzwechsel sowie Berufsübergänge zu erleichtern. Im Bereich des öffentlichen Dienstes ist dem Interesse an der Funktions- und Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung dabei gleichermaßen Rechnung zu tragen.
- 22. Er weist zu Kapitel III Nummer 13 darauf hin, dass im Hinblick auf ein geschlechterbedingtes Vorsorgegefälle dem Aspekt der Erhöhung der Beschäftigungsrate von Frauen eine besondere Bedeutung zukommt. Dies sollte verdeutlicht werden.
- 23. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Vorsorgesysteme so gestaltet werden müssen, dass sowohl ihre finanzielle Tragfähigkeit als auch die Angemessenheit ihrer Leistungen auch zukünftig sichergestellt sind (Kapitel III Nummer 13 Buchstabe b des Entwurfs einer europäischen Säule sozialer Rechte). Der Bundesrat wendet sich allerdings gegen die Vorgabe eines Automatismus zwischen Renteneintrittsalter und Anstieg der Lebenserwartung. Es muss Sache der nationalen Politik bleiben, darüber zu entscheiden, inwieweit und in welcher Weise die Regelaltersgrenze 67 gegebenenfalls weiter entwickelt wird.
- 24. Er empfiehlt vor dem Hintergrund ähnlicher sozialer Herausforderungen wie zum Beispiel der Modernisierung der Sozialen Sicherungssysteme, die Europäische Säule sozialer Rechte möglichst nicht nur in der Wirtschafts- und Währungsunion, sondern von Anfang an in der gesamten EU anzuwenden.
- 25. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.