Der Bundesrat hat in seiner 871. Sitzung am 4. Juni 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt nachdrücklich, dass die Kommission sehr rasch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon einen Vorschlag für eine Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative vorgelegt hat.
Dieser Vorschlag stellt insgesamt einen guten Ausgangspunkt für das weitere Rechtsetzungsverfahren dar.
Auch wenn er nicht in allen Punkten der Stellungnahme des Bundesrates zum Grünbuch (BR-Drucksache 841/09(B) ) entspricht, stellt er doch insgesamt einen ausgewogenen Regelungsentwurf dar.
- 2. Der Bundesrat sieht jedoch in einigen Punkten noch Änderungsbedarf und verweist in diesem Zusammenhang auf seine Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission (BR-Drucksache 841/09(B) ). Er unterstreicht vor diesem Hintergrund seine Überzeugung, dass die Akzeptanz der Europäischen Bürgerinitiative entscheidend von ihrer praxisgerechten Ausgestaltung abhängt.
- 3. Er bekräftigt erneut, dass er der Einführung der Bürgerinitiative zentrale politische Bedeutung beimisst.
- 4. Der Bundesrat erinnert an seine Position, wonach die Prüfung der Zulässigkeit durch die Kommission bereits vor Beginn der Sammlung von Unterstützungsbekundungen vollzogen werden sollte. Vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bereitstellung von Verwaltungsressourcen für die Überprüfung der Unterstützungsbekundungen bekräftigt der Bundesrat seine Überzeugung, dass die Zulässigkeitsentscheidung der Kommission bei der Registrierung erfolgen sollte.
Er hält die Anforderung von 300 000 Unterstützungsbekundungen aus mindestens drei Mitgliedstaaten für die Zulässigkeitsentscheidung über eine geplante Bürgerinitiative der Kommission für zu hoch.
- 5. Der Bundesrat teilt grundsätzlich die Auffassung der Kommission, dass durch die Orientierung der Mindestzahl der erforderlichen Bürgerinnen und Bürger pro Land zur Berücksichtigung eines Mitgliedstaates bei der Erreichung des Mindestquotums an Mitgliedstaaten, aus denen die Unterstützungsbekundungen stammen müssen, an der Sitzverteilung im Europäischen Parlament ein Ansatz gefunden wurde, der auch den Interessen der großen Mitgliedstaaten gerecht wird. Jedoch erscheint die von der Kommission geforderte Mindestzahl der Mitgliedstaaten von einem Drittel im Hinblick darauf, dass mit einer Bürgerinitiative lediglich die Aufforderung an die Kommission zum Tätigwerden formuliert wird, zu hoch. Aus diesem Grund überzeugt auch der Verweis der Kommission auf die Bestimmungen über die "verstärkte Zusammenarbeit" nicht.
- 6. Es muss sichergestellt sein, dass die Kommissionsentscheidungen über die Registrierung und Zulässigkeit einer geplanten Bürgerinitiative justiziabel ausgestaltet sind.
- 7. Im Hinblick auf die Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative begrüßt der Bundesrat zwar die in Artikel 4 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags vorgesehene Möglichkeit, die Registrierung wegen eindeutigen Verstoßes der Initiative gegen Werte der Union abzulehnen.
- 8. Allerdings hat der Bundesrat Bedenken, dass die Registrierung von Initiativen nach Artikel 4 Absatz 3 aus sachfremden Erwägungen, die über die mangelnde Ernsthaftigkeit und den Rechtsmissbrauch der Initiative hinausgehen, abgelehnt werden könnte. Er regt insbesondere an, den Begriff der "Werte" in Artikel 4 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags durch eine Bezugnahme auf Artikel 2 EUV zu ergänzen.
- 9. Der Bundesrat unterstützt die Forderung nach Offenlegung der Finanzierungs- und Unterstützungsquellen durch die Organisatoren gemäß Artikel 4 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags. Er ist jedoch der Auffassung, dass eine einmalige Veröffentlichung zu Beginn der Initiative dem Gedanken der Transparenz nicht ausreichend Rechnung trägt. Insbesondere höhere Finanzierungssummen müssen gemeldet und veröffentlicht werden.
- 10. Der Bundesrat begrüßt zwar die Bemühungen der Kommission, einer breiten Öffentlichkeit die Unterstützung einer Bürgerinitiative zu ermöglichen.
Der Bundesrat hat jedoch bereits betont, dass das Verfahren für alle Beteiligten praktikabel ausgestaltet sein und ein unverhältnismäßiger Aufwand vermieden werden sollte. Gleichzeitig sollte die verfahrensmäßige Ausgestaltung darauf gerichtet sein, Missbrauch vorzubeugen (BR-Drucksache 841/09(B) ). Die im Kommissionsvorschlag enthaltenen Anforderungen an Sammlung, Überprüfung und Authentifizierung von Unterstützungsbekundungen werden diesen Forderungen vor allem unter den in den folgenden Ziffern genannten Gesichtspunkten nicht in vollem Umfange gerecht.
- 11. Der Bundesrat ist sich der Bedeutung der Online-Beteiligung im Hinblick auf Bürgerfreundlichkeit und geringen Bürokratieaufwand bewusst. Das Online-Verfahren muss aber zwingend auch die datenschutzrechtlichen Anforderungen erfüllen und der aufgrund der technischen Möglichkeiten erhöhten Gefahr manipulativer Missbräuche wirksam begegnen.
In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass in Deutschland weder für Wahlen noch für Volksinitiativen oder Volks- und Bürgerbegehren Onlineverfahren vorgesehen sind.
- 12. Aus Sicht des Bundesrates ergeben sich vor allem bei der Authentifizierung Probleme: Im Kommissionsvorschlag ist bei der elektronischen Sammlung nur eine Kontrolle der Identifizierungsdaten vorgesehen. Eine Unterschrift oder Authentifizierung durch Verwendung eines besonderen elektronischen Signaturschlüssels wird indes nicht verlangt. Solange ein sicheres Authentifizierungsverfahren nicht zur Verfügung steht, sollte deshalb davon abgesehen werden, ein Onlineverfahren obligatorisch einzuführen, (BR-Drucksache 841/09(B) , Ziffer 13).
Zumindest sollte es den Mitgliedstaaten ermöglicht werden, entsprechend ihrer Staatspraxis bei Wahlen oder Abstimmungen selbst zu entscheiden, ob neben der Sammlung der Unterschriften in Papierform auch ein Online-Verfahren zugelassen wird.
- 13. Der Bundesrat weist auf die Mängel des im Verordnungsvorschlag enthaltenen Sicherungskonzepts zur Gewährleistung des Datenschutzes bei der Online-Sammlung (Artikel 6 Absatz 2 Satz 2, Artikel 9 des Verordnungsvorschlags) hin: Im Interesse eines wirksamen Schutzes der gesammelten personenbezogenen Daten darf es nicht möglich sein, dass Unterstützungsbekundungen online gesammelt werden, ohne dass vorher die zuständige Behörde des Mitgliedstaats die Sicherheit des technischen Systems überprüft und bestätigt hat.
Ferner fehlen besondere Regelungen, die es den zuständigen Behörden ermöglichen, bei Datenschutzverstößen während der Unterschriftensammlung die Berechtigung zur Durchführung von Online-Sammlungen nachträglich zu entziehen.
Der Bundesrat bittet daher die Gesetzgebungsorgane zu regeln, wie sich Datenschutzrechtsverstöße bei der Sammlung auf die Berücksichtigung der unter Verstoß gesammelten und gespeicherten Unterstützungsbekundungen auswirken.
- 14. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass gemäß Anhang III des Verordnungsvorschlags die "persönliche Identifikationsnummer", die Art des Ausweisdokuments und der Mitgliedstaat, der das Ausweisdokument ausgestellt hat, anzugeben sind. Da Deutschland keine "persönliche Identifikationsnummer" kennt, wäre eine Überprüfung anhand dieser Angabe nicht möglich. Auch die Sozialversicherungsnummer wäre zur Überprüfung der Mitwirkungsberechtigung nicht geeignet. Daher sollte den Mitgliedstaaten ein Spielraum bei der näheren Ausgestaltung der Voraussetzungen für die Identifizierung belassen werden. Im Übrigen hält es der Bundesrat für erforderlich, auch die ausstellende Behörde des Herkunftsmitgliedstaats anzugeben, um eine Überprüfung der Unterstützungsbekundungen zu ermöglichen.
- 15. Hinsichtlich der Befugnisdelegation nach Artikel 15 des Verordnungsvorschlags begrüßt der Bundesrat ausdrücklich, dass die Kommission sowohl ein Einspruchs-, als auch ein Widerrufsrecht aufgenommen und diese nicht durch ein Dringlichkeitsverfahren eingeschränkt hat.
- 16. Artikel 17 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags ist zu streichen.
Begründung
Wesentliches Anliegen des Vertrags von Lissabon war die Stärkung der demokratischen Grundlagen der EU, weshalb gerade die Stellung des europäischen Gesetzgebers durch eine Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments aufgewertet wurde. Eines dieser Rechte des europäischen Gesetzgebers ist die Möglichkeit, die Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte zu ermächtigen. Dabei bleiben Europäisches Parlament und Rat jedoch in jedem Stadium Herr des Verfahrens, ohne die Ausübung ihrer Befugnisse vor der Kommission verantworten zu müssen.
Würde man den Widerruf einer Ermächtigung zum Erlass delegierter Rechtsakte, der nach dem Vertrag von Lissabon im freien Belieben des Europäischen Gesetzgebers steht, nunmehr an eine Unterrichtungs- und Begründungspflicht wie in Artikel 17 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags binden, wäre das institutionelle Gleichgewicht in der EU verkehrt und ihre demokratische Grundlage geschwächt. Daher sollte Artikel 17 Absatz 2 gestrichen werden.
- 17. Der Bundesrat bekräftigt, dass er eine Frist von 18 Monaten für die Sammlung der Unterschriften für angemessen hält; die von der Kommission vorgeschlagene Frist von zwölf Monaten ist vor dem Hintergrund des beträchtlichen organisatorischen Aufwands einer europaweiten Kampagne für eine Bürgerinitiative zu kurz bemessen.
- 18. Der Bundesrat erinnert an seinen Vorschlag (BR-Drucksache 841/09(B) , Ziffer 17), die Organisatoren einer zulässigen Bürgerinitiative nach Vorlage der Bürgerinitiative bei der Kommission zu ihren Zielen anzuhören. Artikel 11 des Verordnungsvorschlags sollte um dieses Anhörungsrecht ergänzt werden.
- 19. Er erinnert ferner an seine Forderung (BR-Drucksache 841/09(B) , Ziffer 13), den Unionsbürgerinnen und -bürgern das Recht einzuräumen, ihre Unterstützungsbekundung bis zum Ablauf der Sammelfrist zu widerrufen.
- 20. Die äußerst kurzen Fristen zur Vernichtung von Unterlagen nach Artikel 12 erscheinen dem Bundesrat nicht sachgerecht, da hierdurch eine spätere gerichtliche Klärung der Frage, ob die erforderliche Zahl gültiger Unterstützungsbekundungen erreicht worden ist, erschwert bzw. unmöglich gemacht würde.
- 21. Es wird grundsätzlich begrüßt, dass den Mitgliedstaaten ein Spielraum eröffnet werden soll, auf welche Weise sie die Unterstützungsbekundungen im Einzelfall überprüfen. Im Sinne einer gleichmäßigen Verwaltungspraxis der Mitgliedstaaten erscheint es jedoch geboten, den unbestimmten Rechtsbegriff "in angemessener Form" in Artikel 9 Absatz 2 des Vorschlags wenigstens in der Begründung näher zu erläutern.
- 22. Der Bundesrat hält es darüber hinaus für erforderlich, in den Verordnungsvorschlag Regelungen zur Gültigkeit/Ungültigkeit von Unterstützungsbekundungen aufzunehmen. Relevanz hat dies insbesondere bei lückenhaften Angaben oder im Falle von Abweichungen zwischen den in der Unterstützungsbekundung gemachten Angaben und den hierzu bei der zuständigen Behörde gespeicherten Daten.
- 23. Der Bundesrat begrüßt die Bestimmungen in Artikel 13 des Verordnungsvorschlags zur Haftung der Organisatoren. Er fordert darüber hinaus - auch um den Überprüfungsaufwand der nationalen Behörden zu begrenzen -, dass mögliche Verstöße und Falschangaben von Unterstützern geahndet werden und in den entsprechenden Formularen ein rechtlicher Hinweis hierauf aufgenommen wird.
- 24. Nicht zuletzt hält es der Bundesrat für unabdingbar, eine innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Kostentragung zu schaffen. Soweit die Länder und deren Kommunen für die Durchführung einer Bürgerinitiative in Anspruch genommen werden, sollte ähnlich wie bei den Wahlkostenerstattungen für die bundesweiten Wahlen unbedingt eine Kostenregelung getroffen werden.