Stellungnahme des Bundesrates
Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU

Der Bundesrat hat in seiner 909. Sitzung am 3. Mai 2013 beschlossen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:

1. Zum Gesetzentwurf allgemein

Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Bundesregierung, die Richtlinie 2011/95/EU in nationales Recht umzusetzen. Er weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass die rechtlichen Grundlagen und die Rücküberstellungpraxis in Deutschland im Verfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 28. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (sogenannte Dublin II-Verordnung) von Menschenrechtsorganisationen und Verbänden zunehmend als europarechtswidrig kritisiert werden.

Die Dublin II-Verordnung bezweckt, dass jeder in der Europäischen Union gestellte Asylantrag nur von einem Mitgliedstaat geprüft wird, um Sekundärbewegungen von Asylbewerbern innerhalb der Union entgegenzuwirken. Im nationalen Recht wurde die Dublin II-Verordnung im Wesentlichen in den §§ 27a und 34a des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) umgesetzt. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union zuständig ist. Nach nationalem Recht wird zur Beschleunigung des Verfahrens in diesen Fällen von einer Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung abgesehen und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80 oder 123 VwGO) ausgeschlossen.

Asylsuchende sind dadurch gezwungen, ihr Asylverfahren im Regelfall in dem Land zu betreiben, in dem sie zuerst die Europäische Union betreten haben. Vom Ausland aus kann ein Rechtsbehelf aber nur dann wirksam sein, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung der Überstellung vor deren gerichtlicher Überprüfung eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden können. Es besteht die Gefahr, dass den Betroffenen die Inanspruchnahme eines effektiven Rechtsschutzes auch dann verwehrt wird, wenn es um Rücküberstellungen in Länder geht, bei denen gravierende strukturelle Mängel im Asylverfahren bestehen und die Betroffenen ernsthaft befürchten müssen, eine geringere Chance auf ein ernsthafte Prüfung des Asylantrages zu haben oder konventionswidrigen Lebensbedingungen ausgesetzt zu werden.

Nach den gebotenen rechtsstaatlichen Prinzipien ist bei Rücküberstellungen im Rahmen des Dublin II-Verfahrens die Möglichkeit eines wirkungsvollen einstweiligen Rechtsschutzes zu eröffnen. Der Bundesrat fordert deshalb die Bundesregierung auf, im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU § 34a Absatz 2 AsylVfG dahingehend zu ändern, dass auch in Rücküberstellungsfällen nach der Dublin II-Verordnung einstweiliger Rechtsschutz möglich ist.

Begründung:

§ 34a Absatz 2 AsylVfG, welcher mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2007 auf das Dublin-Verfahren ausgedehnt wurde, sieht derzeit vor, dass gegen die Überstellung von Asylbewerbern zum Zwecke der Behandlung ihres Asylbegehrens an den zuständigen Mitgliedstaat kraft Gesetzes die Anwendung der Vorschriften über die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz ausgeschlossen ist.

Die bundesdeutsche Rechtsprechung geht dennoch davon aus, dass § 34a Absatz 2 AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass er - entgegen seinem Wortlaut - die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen möglich bleibt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die allgemein europaweit vereinbarten Mindeststandards aufgrund von innerstaatlichen systemischen Mängeln des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen in einem Mitgliedstaat nicht mehr gewährleistet sind.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer Entscheidung MSS gegen Belgien und Griechenland am 21. Januar 2011 festgestellt, dass EU-Staaten einen Asylbewerber im Rahmen des Dublin II-Verfahrens nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen dürfen, wenn sie wissen oder wissen müssten, dass dort keine Garantie für eine ernsthafte und konventionskonforme Überprüfung seines Asylantrages bestehe. Ein Schutzsuchender müsse in jedem Fall vor einer Rückführung in einen anderen Mitgliedstaat die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Überprüfung der Entscheidung mit aufschiebender Wirkung haben.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die rechtlichen Grundsatzfragen in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 am Beispiel Griechenlands entschieden und die Mitgliedstaaten verpflichtet, sowohl die Aufnahmebedingungen als auch das Asylverfahren im anderen Mitgliedsstaaten zu überprüfen, wenn vorgetragen wird, dass dort "systemische Mängel" vorliegen. Diese lägen dann vor, wenn die Aufnahmebedingungen und das Asylverfahren eines Mitgliedstaats Mängel aufwiesen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Grundrechts-Charta befürchten lassen. In einem solchen Fall habe die Abschiebung zu unterbleiben, was notfalls auch gerichtlich durchsetzbar sein müsse. Ein blindes Vertrauen, dass die Menschenrechte von Asylsuchenden in anderen Mitgliedstaaten beachtet werden, gebe es nicht.

Die Charta der Grundrechte sei dahingehend auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen Asylbewerber nicht in einen Mitgliedstaat überstellen dürfen, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden. Eine unwiderlegbare Vermutung, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte der Asylbewerber beachten, hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausdrücklich verworfen, auch wenn er die Vermutung einer korrekten Behandlung der Asylbewerber in anderen Mitgliedstaaten als grundsätzlich rechtmäßig bestätigt. Behauptungen eines Asylsuchenden, für ihn bestehe in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, die konkrete Gefahr einer Artikel 3 EMRK zuwider laufenden Behandlung ausgesetzt zu sein, ist deshalb in einem summarischen Eilrechtsschutzverfahren nachzugehen. Dabei sind Länderberichte von europäischen Institutionen wie z.B. des Menschenrechtsbeauftragten des Europarats, des UNHCR sowie von Nichtregierungsorganisationen zu berücksichtigen.

In den letzten zwei Jahren mehren sich Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, in denen sie sich in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in verfassungskonformer Auslegung des § 34a Absatz 2 AsylVfG über den Ausschluss des Eilrechtsschutzes hinwegsetzen.

Das derzeit auf EU-Ebene noch laufende Verfahren zur Neufassung der Dublin-Verordnung lässt erwarten, dass die Mitgliedstaaten künftig generell zur Sicherung von Eilrechtsschutz gegen Überstellungsentscheidungen verpflichtet sein werden.

Auch angesichts dieser Entwicklung hält es der Bundesrat für geboten, im deutschen Recht umgehend effektiven Rechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention und den unionsrechtlichen Vorgaben festzuschreiben.

§ 34a Absatz 2 AsylVfG ist daher dahingehend zu ändern, dass auch in Rücküberstellungsfällen nach der Dublin II-Verordnung einstweiliger Rechtsschutz gewährt wird.

2. Zu Artikel 2 Nummer 8 ( § 72 Absatz 2 AufenthG), Nummer 9 (§ 79 Absatz 1 Satz 2 AufenthG)

In Artikel 2 sind Nummer 8 und 9 wie folgt zu fassen:

'8. § 72 Absatz 2 wird aufgehoben.

9. § 79 Absatz 1 Satz 2 wird wie folgt gefasst:

"Über das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Absatz 2 bis 5 oder Absatz 7 und das Vorliegen eines Ausschlusstatbestandes nach § 25 Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der Grundlage der ihm vorliegenden und im Bundesgebiet zugänglichen Erkenntnisse und, soweit es im Einzelfall erforderlich ist, der den Behörden des Bundes außerhalb des Bundesgebietes zugänglichen Erkenntnisse."'

Begründung:

Zu Nummer 8:

Das bisherige Erfordernis einer Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist durch eine originäre Entscheidungszuständigkeit des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots zu ersetzen. Die Entscheidung hierüber obliegt dem Bundesamt bereits im Rahmen der Asylverfahren (§ 24 Absatz 2, § 31 Absatz 3 AsylVfG). Daneben eine weitere Entscheidungszuständigkeit der Ausländerbehörden - nach Beteiligung des Bundesamtes - vorzusehen, ist nicht zweckmäßig und führt zu vermeidbaren negativen Kompetenzkonflikten und Verfahrensverzögerungen.

Zu Nummer 9:

Als für die Durchführung der Asylverfahren zuständige Behörde verfügt das Bundesamt über die erforderliche Kompetenz zur Beurteilung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote. Hinzu kommt, dass bei dem nach herrschender Meinung objektiv und weit auszulegenden Begriff eines Asylgesuchs/-antrags die Abgrenzung zwischen nicht asylrelevanten zielstaatenbezogenen Gefahren und asylrelevantem Vorbringen in der Praxis Schwierigkeiten bereitet und zwischen Bundesamt und Ausländerbehörden negative Kompetenzstreitigkeiten auslöst (vgl. zu dieser Abgrenzungsproblematik Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG Rdnrn. 60 bis 64 zu § 13).

Die bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten bzw. negativen Kompetenzstreitigkeiten sind durch eine Bündelung der Zuständigkeit bei dem für die Beurteilung von Auslandssachverhalten kompetenten Bundesamt im Rahmen des Asylverfahrens zu beseitigen (siehe im Übrigen Begründung zu Nummer 8).