935. Sitzung des Bundesrates am 10. Juli 2015
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU) und der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. 2014 haben über 600 000 Menschen in der EU Asyl beantragt, und die aktuellen Eurostat-Zahlen gehen von einer weiteren deutlichen Steigerung im Jahr 2015 aus. Die Flüchtlings- und Asylpolitik ist in Deutschland für die Länder und Kommunen aktuell ein prioritäres Thema. Der Bundesrat begrüßt daher, dass die Kommission einen Vorschlag für eine Europäische Migrationsagenda vorgelegt hat.
- 2. Der Bundesrat begrüßt ferner die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen der Migrationsagenda, zur Bewältigung der Herausforderungen der sprunghaft angestiegenen Migration die europäischen und nationalen Anstrengungen im Lichte der internationalen Verpflichtungen bündeln und im Einklang mit den Grundsätzen der Solidarität und der geteilten Verantwortung effektivieren zu wollen.
- 3. Er begrüßt weiterhin, dass die Kommission dazu alle politischen Maßnahmen und Instrumente einsetzen und die verschiedenen Politikbereiche der EU, insbesondere Entwicklungspolitik, Nachbarschaftspolitik, Handel, Beschäftigung, Außenpolitik und Innenpolitik, kohärent abstimmen will. Dabei wäre es zu begrüßen, auch die Zuständigkeiten innerhalb der Kommission zum Umgang mit den Herausforderungen der Migration stärker zu bündeln.
- 4. Der Bundesrat stellt fest, dass die Europäische Migrationsagenda vor allem das Grenzmanagement an den EU-Außengrenzen, das defizitäre Zuständigkeitssystem der Asylzuständigkeitsbestimmung und ihre Durchsetzung, die beschleunigte Bearbeitung von Asylanträgen sowie Aspekte der Rückführung in den Vordergrund stellt, und bedauert, dass humanitäre Gesichtspunkte nur am Rande erwähnt werden.
- 5. Der Bundesrat unterstützt die Bundesregierung bei ihren Bemühungen, die EU dazu zu bewegen, eine stärkere Verantwortung bei der Bekämpfung der Fluchtursachen zu übernehmen und einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen anzustreben.
- 6. Um die Probleme zu lösen, sollten die Ursachen der Migration stärker betrachtet und den betroffenen Menschen langfristige Perspektiven in ihren Herkunftsländern eröffnet werden. Dies wird dem Schutzbedürfnis der Menschen, die sich regelmäßig nicht ohne Not auf den Weg nach Europa begeben, gerecht und stellt ein Bekenntnis zu den unverzichtbaren Menschenrechten dar. In diesem Zusammenhang kommt auch der - von der Konferenz der Vereinten Nationen zu Nachhaltiger Entwicklung initiierten - Erarbeitung und Verabschiedung von neue globale "Ziele für nachhaltige Entwicklung" ein großer Stellenwert zu. Dabei sind insbesondere stärkere Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung, dem Aufbau nachhaltiger Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen und der Förderung von demokratischer Transformation und Stabilität notwendig. Zur Schaffung einer langfristigen und verlässlichen Perspektive ist eine zielgerichtete Koordinierung der Aktivitäten der internationalen, nationalen und interregionalen Organisationen vorzusehen.
- 7. Der Bundesrat begrüßt die beabsichtigte Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), das zur Vertiefung der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich beiträgt. Er sieht es aber mit Befremden, dass die Kommission in der gegenwärtigen Situation, in der bereits über 25 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, den Anschein erweckt, die Bekämpfung von Missbrauchsmöglichkeiten des Asylrechts sei in den Vordergrund der geplanten neuen Befugnisse zu stellen.
- 8. Zur Gewährleistung der Seenotrettung schlägt er die Einrichtung einer internationalen, zivilen Seenotrettungsmission im zentralen Mittelmeer vor, welche auch Schiffe enthalten soll, die permanent auf See stationiert sind.
- 9. Der Bundesrat stimmt der Notwendigkeit zu, mit Drittstaaten weiterhin zusammenzuarbeiten, um Lösungen der Migrationsfragen zu erreichen. Er sieht jedoch die Gefahr, dass durch eine Tätigkeit der EU in einem Herkunftsland mit dem Ziel, "die Migration bereits an der Quelle anzugehen", die dortigen Überwachungssysteme verstärkt und neue Auffanglager errichtet werden; eine Fortführung des sogenannten Khartum-Prozesses (gemäß der Erklärung von Vertreterinnen und Vertretern aus 58 Staaten Europas und Afrikas vom 28. November 2014) wird kritisch gesehen.
- 10. Der Bundesrat empfiehlt, seitens der Kommission in Erwägung zu ziehen, den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) durch die EU zu mandatieren, im Auftrag der EU und außerhalb ihres Territoriums Asylverfahren durchzuführen.
- 11. Der Bundesrat regt gegenüber der Kommission an, die Einrichtung eines Sonderfonds für Flüchtlinge in besonderen Notsituationen zu prüfen.
- 12. Der Bundesrat stellt fest, dass im bestehenden "Gemeinsamen Europäischen Asylsystem" (GEAS) die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU derzeit zu einer einseitigen Belastung einiger weniger Mitgliedstaaten führt.
- 13. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass es in der EU-Flüchtlingspolitik mehr Solidarität und eine fairere Verantwortungsteilung braucht. Im Sinne einer geteilten Verantwortung zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene sind dafür gemeinsame Lösungen erforderlich. Wichtig ist dabei, dass in den politischen Prozess in Deutschland auch die Länder und Kommunen einbezogen werden.
- 14. Ausgangspunkt für eine gerechtere Verantwortungsteilung kann die Einführung eines Verteilungsschlüssels je Mitgliedstaat sein. Der Bundesrat begrüßt daher, dass die Kommission die notwendige Diskussion durch ihren Vorschlag zur Einführung von Verteilungsschlüsseln für Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedstaaten in Gang gesetzt hat.
- 15. Der Bundesrat teilt die Kritik an der bisherigen Praxis der Verteilung der Zuständigkeiten für die Prüfung von Asylanträgen auf der Grundlage der sogenannten Dublin-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist). Er empfiehlt, den Grundsatz der Zuständigkeit des Mitgliedstaats der Ersteinreise für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß Artikel 3 Absatz 2 Satz 1 der genannten Verordnung abzuschaffen und an seiner Stelle ein quotales System unter Berücksichtigung familiärer und anderer humanitärer Belange zu etablieren.
- 16. Der Bundesrat unterstützt, dass ein für die EU-Mitgliedstaaten verbindliches Programm für die Neuansiedlung bzw. Umverteilung sowie ein solidarischer Umgang zwischen den EU-Mitgliedstaaten bei der Aufnahme von Asylsuchenden und Migranten eingerichtet wird. Dabei sollte die persönliche Situation der Betroffenen (Sprachkenntnisse, berufliche und sonstige Fähigkeiten familiäre Verbindungen, potentielle Familienzusammenführungsmöglichkeiten et cetera) stärkere Berücksichtigung finden.
- 17. Es wird zwar angesichts der Widerstände bei einigen Mitgliedstaaten schwierig, einen Konsens über einen Verteilungsschlüssel, seine Berechnungskriterien und deren Gewichtung zu erzielen. Der Bundesrat hält die Rolle der Kommission im weiteren Prozess und für die Lösung der Fragen für umso wichtiger und unterstützt daher ausdrücklich die Bemühungen der Kommission.
- 18. Der Bundesrat unterstützt zudem die Bundesregierung, in diesem Prozess mit den anderen Mitgliedstaaten voranzukommen, damit Europa seiner Verantwortung gerecht werden kann.
- 19. Das GEAS beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die bereits vereinbarten gemeinsamen Standards beachten, kohärent anwenden und sich gegenseitig darauf verlassen können. Dies ist jedoch oftmals nicht der Fall. Daher bleibt die einheitliche Durchsetzung der Standards des GEAS für die EU eine zentrale Aufgabe. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen unterstützt werden, die vereinbarten gemeinsamen Standards umzusetzen.
- 20. Zudem sollten vor allem junge Asylsuchende und Flüchtlinge, die im aufnehmenden Land eine Ausbildung begonnen haben, einen Abschiebeschutz für die Dauer ihrer Ausbildung unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status erhalten.
- 21. Ferner begrüßt der Bundesrat, dass sich die Kommission für eine neue europäische Politik für legale Migration einsetzen will. Er unterstützt die Schaffung eines GEAS, das einen fairen, humanen und hohen Behandlungsstandard garantiert. Er fordert die Schaffung weiterer legaler und sicherer Einreisemöglichkeiten für Asylsuchende und Migranten in die EU-Mitgliedstaaten.
- 22. Dabei sollte geprüft werden, ob Möglichkeiten der EU zur Migration außerhalb der sogenannten Blue Card entwickelt werden können.
- 23. Der Bundesrat sieht es als gemeinsame Aufgabe der Mitgliedstaaten an, die Anstrengungen zur Integration der anerkannten Schutzberechtigten zu intensivieren. Die Gleichbehandlung hinsichtlich wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Rechte sowie die Anerkennung staatsbürgerlicher und politischer Rechte müssen im Vordergrund stehen.
- 24. Der Bundesrat bittet die Kommission, die nationalen Parlamente und andere relevante Akteure, auch aus der Zivilgesellschaft, stärker in die weiteren Diskussionen zur Gestaltung und Umsetzung der Europäischen Migrationsagenda und ihrer Folgemaßnahmen einzubeziehen.
- 25. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
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- 26. Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten, der Ausschuss für Kulturfragen und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.