884. Sitzung des Bundesrates am 17. Juni 2011
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt Bezug auf die BR-Drucksache 698/10(B) , in der er der Kommission zahlreiche Handlungsempfehlungen vorgeschlagen hat, um das Maßnahmenpaket zur Neubelebung des Binnenmarkts zu optimieren, damit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Binnenmarkt wiedergewonnen wird.
Zu Nummer 2.2.: Mobilität der Bürger
- 2. Der Bundesrat begrüßt, dass sich die Kommission für den Aufbau und den Erhalt ergänzender Rentenansprüche einsetzt. In diesem Zusammenhang erinnert der Bundesrat allerdings an seine kritische Haltung gegenüber bisherigen Initiativen auf EU-Ebene zur Portabilität, die auf eine Harmonisierung der nationalen Bestimmungen gerichtet waren. Zwar mag ein europaweit einheitlich geregelter schnellerer Erwerb von unverfallbaren Betriebsrentenansprüchen die Mobilität von Arbeitnehmern erhöhen; es ist aber zu befürchten, dass Arbeitgeber, die diese Anwartschaften auch bei einem Weggang des Arbeitnehmers vom Unternehmen garantieren müssten, unter diesen Rahmenbedingungen seltener Betriebsrenten versprechen. Auch das Ziel, Arbeitnehmer durch Betriebsrenten an das Unternehmen binden zu können, würde verfehlt.
- 3. Im Hinblick auf die Ankündigung der Kommission, die Richtlinie über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (Pensionsfonds) zu überprüfen, nimmt der Bundesrat Bezug auf seine ausführliche Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission zu den Rentensystemen (BR-Drucksache 419/10(B) ). Er erwartet, dass die Kommission mit Augenmaß vorgeht und die Besonderheiten der Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung achtet. Die Kosten für die Unternehmen müssen sich in Grenzen halten und dürfen diese zusätzliche Säule der Altersvorsorge nicht gefährden. Der Bundesrat weist darauf hin, dass für die betriebliche Altersversorgung in Deutschland bereits jetzt ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet ist. Bei einer Überprüfung der Pensionsfondsrichtlinie müssen daher die Besonderheiten der betrieblichen Altersvorsorge - Subsidiaritätshaftung bzw. Nachschusspflicht des Arbeitgebers, Beiträge zur Insolvenzsicherung - berücksichtigt werden. Diese haben sich auch in der aktuellen Finanzkrise bewährt.
Zu Nummer 2. 10.: Sozialer Zusammenhalt
- 4. Der Bundesrat unterstützt die Einschätzung der Kommission, dass der soziale und territoriale Zusammenhalt im Zentrum der EU steht und die Marktkräfte allein nicht ausreichen, um allen Bedürfnissen der Gesellschaft und der Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden. Ebenso teilt der Bundesrat die Einschätzung über die Bedeutung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI). Die Kommission weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die in den Verträgen festgelegte zentrale Rolle und den diesbezüglich großen Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und kommunalen Behörden im Hinblick auf die DAWI hin.
- 5. Der Bundesrat bedauert in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass die Kommission hinsichtlich der in der Mitteilung angekündigten Maßnahmen, die sie bis Ende 2011 vorlegen will und die den Erbringern von DAWI die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtern sollen, nur sehr unklare und missverständliche Ausführungen macht.
So besteht Abschnitt 2. 10. der Mitteilung aus zehn Absätzen, in denen die Artikel 8, 9, 106 und 14 AEUV genannt sind. Nicht ersichtlich wird jedoch zum einen, ob eine oder mehrere dieser Vorschriften seitens der Kommission als Rechtsgrundlage für ein Handeln auf EU-Ebene dienen sollen. Dies wäre im Übrigen dahingehend problematisch, dass es sich bei den Artikeln 8 und 9 AEUV lediglich um sogenannte Querschnittsklauseln handelt, die die Übertragung einer Zuständigkeit an anderer Stelle der Verträge voraussetzen, und dass Artikel 14 Satz 2 AEUV für etwaige Regelungen mit sozialrechtlichem Schwerpunkt nicht herangezogen werden kann.
Zum anderen geht aus den Ausführungen der Kommission nicht hervor, um welche Art von Maßnahmen es sich bei den angekündigten Vorhaben handeln wird sowie welchen Umfang und welche Intensität diese haben sollen. Es werden vielmehr verschiedene sozialpolitische Begriffe und Ziele miteinander vermengt, so dass dem Bundesrat eine einheitliche Deutung und Interpretation an dieser Stelle der Mitteilung nicht möglich ist. Die umfassende und langwierige Auslegung einer Mitteilung der Kommission kann aber nicht primäre Aufgabe des Bundesrates sein.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die Kommission ausdrücklich aufzufordern, bei diesem, aber auch bei sonstigen Vorhaben konkrete Ermächtigungsgrundlagen für ihr Handeln zu benennen und diese den jeweils geplanten Maßnahmen eindeutig zuzuordnen. Nur eine strukturierte und hinreichend verständliche Beschreibung des geplanten Vorhabens kann Gegenstand einer fundierten Bewertung durch die Mitgliedstaaten bzw. deren Länder sein.
- 6. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass der von der Kommission festgestellte Zusammenhang zwischen der Erleichterung der Wahrnehmung der Dienste und dem Zugang zu den Dienstleistungen nicht ohne Weiteres festzustellen ist.
Zu Nummer 2.7.: Digitaler Binnenmarkt
- 7. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, wonach zu den wesentlichen Voraussetzungen für elektronische Transaktionen zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen sowie Behörden vertrauenswürdige elektronische Dienste gehören, die den Schutz der Privatsphäre garantieren, Rechtssicherheit bieten und den sicheren Datenaustausch gewährleisten. Der Bundesrat begrüßt daher das Bestreben der Kommission nach weiterer Rechtsvereinheitlichung im EU-Binnenmarkt und einer Überarbeitung der Signaturrichtlinie.
- 8. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung im Interesse einer Begrenzung der Belastungen für die Länderhaushalte, bei den Beratungen auf EU-Ebene dafür Sorge zu tragen, dass bei dem nach Nummer 2.7. der Binnenmarktakte beabsichtigten Erlass von EU-Rechtsvorschriften zur gegenseitigen Anerkennung der E-Identifizierung und E-Authentifizierung eine Festlegung auf ein oder wenige Signaturstandards (Referenzformate) erfolgt. Hierbei bedarf es über die Regelungsinhalte des Beschlusses 2011/130/EU hinausgehend vorrangig der Festlegung einheitlicher technischer Spezifikationen für die Signaturen sowie für die Schnittstelle zur jeweiligen (nationalen) Zertifizierungsstelle, die den sicheren Nachweis der Identität des Signaturinhabers gewährleistet.
- 9. Der Bundesrat hält es für notwendig, dass spätestens im Zuge der Überarbeitung der Signaturrichtlinie durch die Kommission die Einheitlichkeit der Rechtsterminologie im deutschen und europäischen Recht bezüglich der Bestimmungen über elektronische Signaturen hergestellt wird.
Begründung zu Ziffern 7 bis 9 [(nur gegenüber dem Plenum)]:
Die in der Binnenmarktakte zu Nummer 2.7. genannte Leitaktion des Erlasses von Rechtsvorschriften für die EU-weite gegenseitige Anerkennung der E-Identifizierung und E-Authentifizierung sowie der Überarbeitung der EU-Signaturrichtlinie ist begrüßenswert. Damit würde für den Einsatz von E-Signaturen im EU-Binnenmarkt ein einheitlicher und verbindlicher Rechtsrahmen geschaffen, der zu größerer Investitionssicherheit für Signatur-Diensteanbieter und stärkerer Verbreitung des Einsatzes von E-Signaturen im privaten wie öffentlichen Rechtsverkehr beitragen kann. Allerdings bedarf es hierbei der Beschränkung auf ein oder wenige Signaturstandards, um für Bund, Länder und Kommunen kostenintensive technische Entwicklungsleistungen und Infrastrukturen zu vermeiden, die bei gegenseitiger Validierung einer Vielzahl unterschiedlicher nationaler Signaturformate erforderlich würden.
Ein weiterer bedeutsamer Gesichtspunkt ist die Anpassung und Vereinheitlichung der nationalen und europäischen Rechtsterminologie, um Signatur-Akzeptanzprobleme der Nutzer zu minimieren und die Umsetzung europäischer Rechtsvorgaben auf nationaler Ebene zu erleichtern. Derzeit fallen insbesondere die Begriffsdefinitionen zu den unterschiedlichen Signaturtypen auseinander: Während nach deutschem Recht gemäß § 2 Nummer 2 SigG unter der "fortgeschrittenen elektronischen Signatur" die auf einem einfachen Zertifikat, ohne sichere Signaturerstellungseinheit beruhende Signatur verstanden wird, werden nach Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 1999/93/EG die Rechtsfolgen für "fortgeschrittene elektronische Signaturen, die auf einem qualifizierten Zertifikat beruhen und die von einer sicheren Signaturerstellungseinheit erstellt werden" geregelt. Letztere entsprechen den Rechtswirkungen, die nach § 126a Absatz 1 BGB an die "qualifizierte elektronische Signatur" im Sinne des § 2 Nummer 3 SigG geknüpft werden. Terminologisch uneinheitliche Rechtsregelungen im nationalen und europäischen Recht sind jedoch geeignet, zur Verunsicherung der Hersteller bei der Entwicklung technischer Signaturkomponenten, der Zertifizierungsdiensteanbieter bei dem Angebot dieser Dienste sowie der Nutzer bei der Entscheidung über die Verwendung von Signaturen beizutragen. Die Folge könnten Wettbewerbsnachteile deutscher Signaturkartenhersteller und Zertifizierungsdiensteanbieter sowie eine mangelnde Akzeptanz elektronischer Signaturen in Deutschland beim Bürger und in der Wirtschaft sein. Die Vereinheitlichung der Rechtsterminologie im Bereich der elektronischen Signatur kann durch Anpassung der nationalen Begrifflichkeiten an die europäische Terminologie oder im Wege der Durchsetzung der deutschen Begriffsdefinitionen auf der europäischen Ebene erfolgen.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Beschluss der Kommission 2011/130/EU, in welchem Signatur-Mindestanforderungen und -Referenzformate für die grenzüberschreitende Verarbeitung elektronischer Dokumente im Anwendungsbereich der EU-Dienstleistungsrichtlinie geregelt werden. Der Beschluss entfaltet unmittelbare Rechtswirkung für die Mitgliedstaaten als Adressaten. Danach haben die Mitgliedstaaten u.a. Vorkehrungen zu treffen, die es ihnen ermöglichen, elektronisch signierte Dokumente von Behörden anderer Mitgliedstaaten weiter zu verarbeiten, sofern diese mit einer fortgeschrittenen XML-, CMS- oder PDF-Signatur im BES- oder EPES-Format gemäß den im Anhang des Beschlusses festgelegten technischen Spezifikationen signiert worden sind.
Es ist davon auszugehen, dass der v. b. Beschluss, dessen Geltungswirkung auf den Anwendungsbereich der EU-Dienstleistungsrichtlinie beschränkt ist, Leitbildcharakter für andere Wirtschaftsbereiche der EU besitzen und Beispiel gebend für den beabsichtigten Erlass weiterer Rechtsakte nach Nummer 2.7. (Leitaktion) der Binnenmarktakte sein wird. Bei den im Beschluss spezifizierten Referenzformaten handelt es sich allerdings bisher lediglich um die Festlegung von "Container"-Formaten, mit denen die Einbindung der genannten Signaturen in Dokumente vorgegeben wird. Aus finanzieller und technischer Sicht weitaus größere Bedeutung besitzen demgegenüber diejenigen technischen Spezifikationen, die beispielsweise den Kryptoalgorithmus für die Verschlüsselung und die Programmierschnittstelle zur Zertifizierungsstelle (Certification Authority - CA) betreffen. Der Kryptoalgorithmus dient der fälschungssicheren Verschlüsselung der Signatur, während die Programmierschnittstelle zur CA für den sicheren Nachweis der Identität des Signaturinhabers und dessen Zuordnung zu einer bestimmten natürlichen Person notwendig ist. Die weitere Rechtsvereinheitlichung und Festlegung der Bedingungen für die gegenseitige Anerkennung elektronischer Signaturen im EU-Binnenmarkt wird diese Spezifikationen zwingend mit zu berücksichtigen haben, um im finanzpolitischen Interesse aller Mitgliedstaaten die Kosten für den Aufbau und die Unterhaltung der entsprechenden technischen Infrastrukturen auf einem angemessenen Niveau zu halten.
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- 11. Der Finanzausschuss, der Ausschuss für Kulturfragen, der Rechtsausschuss, der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, der Verkehrsausschuss, der Wirtschaftsausschuss und der Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß § § 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.