Der Bundesrat hat in seiner 950. Sitzung am 4. November 2016 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Allgemeines
- 1. Der Bundesrat betont die Bedeutung der internationalen Gemeinschaft bei der Bewältigung der Herausforderungen in der Asyl- und Migrationspolitik, die nicht zuletzt durch die Wahl des portugiesischen Diplomaten und ehemaligen Chefs des UN-Flüchtlingskommissariats António Guterres zum UN-Generalsekretär unterstrichen wird. Von der EU wird erwartet, dass sie ihrem Rang als weltpolitischer Akteur gerecht wird und angemessene Lösungen für die Herausforderungen angesichts der großen Zahl von Geflüchteten und Schutzsuchenden findet.
- 2. Der Bundesrat bedauert die geringen Fortschritte bei der gerechten Umverteilung von Geflüchteten in der EU. Sie offenbaren eine mangelnde Bereitschaft, den Werten und Zielen der EU gemäß Artikel 2ff. EUV in allen Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund dieser problematischen Ausgangslage erkennt der Bundesrat das Bemühen der Kommission ausdrücklich an, gemeinsame europäische Rahmenbedingungen und Standards für die Asylpolitik zu setzen.
- 3. Der Bundesrat teilt grundsätzlich die Zielsetzung der Kommission, das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu verbessern und durch eine stärkere Harmonisierung zu gewährleisten, dass Asylsuchende überall in der EU gleich und in angemessener Weise behandelt werden und den notwendigen Schutz erhalten, und mit der Neufassung der Dublin-Verordnung eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen.
- 4. Er betont, dass die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele nur nach Maßgabe der Grundrechtecharta, insbesondere Artikel 18 der Charta der Grundrechte der EU, bzw. des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie der bestehenden Verträge ergriffen werden dürfen.
Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates
- 5. Der Bundesrat stellt fest, dass die Prüfung, ob ein Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragstellende in einem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, von Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten häufig unterschiedlich ausfällt und daher auch eine Ungleichbehandlung von Antragstellenden droht. Er hält es daher auch für erforderlich, auf Unionsebene ein schnelles und für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten verbindliches Verfahren zur einheitlichen Prüfung und Feststellung des Vorliegens von systemischen Schwachstellen einzuführen.
Regelungen in Bezug auf unbegleitete Minderjährige
- 6. Der Bundesrat begrüßt, dass der Verordnungsvorschlag der Kommission die Interessen und das Wohl von Minderjährigen grundsätzlich berücksichtigt. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Grundsatz auch bei der Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates (Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 10) bei Folgen von Verstößen gegen die Dublin-Verordnung (Artikel 5), bei der Regelung zur Berücksichtigung des Kindeswohls bei der Prüfung einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens (Artikel 10), bei der Inhaftnahme (Artikel 29) und beim Korrekturmechanismus für die Zuweisung (Kapitel VII) anzuwenden ist.
- 7. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass Nachteile, die aus Verstößen gegen die Dublin-Verordnung entstehen, nicht dazu führen dürfen, dass bei unbegleiteten Minderjährigen der Schutzumfang beeinträchtigt wird. Es ist vielmehr sicherzustellen, dass unbegleiteten Minderjährigen jederzeit und unter allen Umständen ein reguläres Verfahren zur Anerkennung internationalen Schutzes offensteht, um den Schutz der Minderjährigen in jedem Einzelfall, zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom eigenmächtigen Handeln der unbegleiteten Minderjährigen sicherstellen zu können.
- 8. Der Bundesrat sieht es für erforderlich an, bei der Prüfung des Kindeswohls im Rahmen von Artikel 10 des Verordnungsvorschlags statt einer nachzuweisenden Annahme eine grundsätzliche Prüfung vorzunehmen, ob eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen werden kann bzw. ob das Kindeswohl ein Absehen von der Überstellung erfordert.
- 9. Er erachtet Inhaftierungen von unbegleiteten Minderjährigen die auf der "Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist" beruhen, nur aus Gründen der nationalen Sicherheit oder einer erheblichen Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung für zulässig.
- 10. Der Bundesrat hält eine weitere Prüfung für erforderlich, ob die bestehenden Regelungen für den Datenaustausch gewährleisten, dass bei der Übergabe von unbegleiteten Minderjährigen die Übermittlung aller kindeswohlrelevanten Daten zwischen den für die Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen zuständigen Behörden ausgetauscht werden bzw. werden können.
Vorrang der freiwilligen Ausreise
- 11. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich bei der Reform der Dublin-III-Verordnung gegenüber der Kommission und im Rat dafür einzusetzen, dass - in vergleichbarer Weise wie bei der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) - der Vorrang der freiwilligen Ausreise festgeschrieben wird, die sich generell als humaner, effektiver und kostengünstiger als die zwangsweise Überstellung erwiesen hat und Ausreisen ermöglicht, die unter besonderer Achtung der Menschenwürde sowie des Wohls des Kindes stattfinden können.
Rechtsbehelfe
- 12. Der Bundesrat spricht sich dagegen aus, für die Entscheidung der Gerichte über Rechtsbehelfe gegen die Überstellungsentscheidung eine starre Frist von 15 Tagen vorzusehen (Artikel 28 Absatz 3 des Verordnungsvorschlags). Eine starre Frist für die gerichtliche Entscheidung lässt sich mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bzw. dem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Artikel 47 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der EU, Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) und der sachlichen Unabhängigkeit der Gerichte (Artikel 47 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 97 Absatz 1 des Grundgesetzes) nicht vereinbaren. Die effektive Gewährung von Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren wird innerhalb einer 15-tägigen Frist regelmäßig nicht zu erreichen sein. Die Prüfung, ob aufgrund systemischer Schwachstellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, sowie die Klärung familiärer Verhältnisse oder humanitärer Belange können umfangreichere Ermittlungen des Gerichts erfordern. Der Amtsermittlungsgrundsatz kann in verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen eine Überstellungsentscheidung nicht außer Kraft gesetzt werden. Über den Rechtsbehelf (Hauptsacheentscheidung) ist aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Den Beteiligten ist eine angemessene Frist zur Ladung, Stellungnahme und Einarbeitung einzuräumen. Bei mittellosen Klägern kann die Entscheidung erst erfolgen, wenn über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe und bei dessen Ablehnung auch über etwaige Rechtsmittel entschieden worden ist (vergleiche Artikel 47 Absatz 3 der Charta der Grundrechte der EU) .
Zu beachten ist zudem, dass bei der innerhalb der Frist zu treffenden Entscheidung in der Sache (Hauptsacheentscheidung) eine lediglich summarische oder vorläufige Prüfung nicht zulässig ist. Eine starre Entscheidungsfrist kann schließlich zu einer zwingenden Priorisierung dieser Verfahren gegenüber anderen, ebenfalls eilbedürftigen gerichtlichen Verfahren führen, die im Einzelfall nicht gerechtfertigt erscheint.
- 13. Der Bundesrat hält unabhängig hiervon jedenfalls eine Klarstellung für erforderlich, ob die 15-tägige Entscheidungsfrist und die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs auch für die Entscheidung über etwaige Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung erster Instanz gelten und inwieweit Rechtsmittel gegen die Überstellungsentscheidung zulässig sein sollen. Insoweit stellt sich die Frage, ob über ein Rechtsmittel ebenfalls innerhalb von 15 Tagen zu entscheiden ist und ob eine Überstellung vor einer rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erfolgen kann, wofür Artikel 30 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags sprechen könnte.
- 14. Der Bundesrat sieht die inhaltliche Beschränkung der gerichtlichen Prüfung (Artikel 28 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags) unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kritisch und hält jedenfalls eine Klarstellung im Hinblick auf die Gewährleistungen des Artikels 30 Absatz 1 Unterabsatz 3 des Verordnungsvorschlags für erforderlich. Die gerichtliche Prüfung einer Überstellungsentscheidung mit der Festlegung der Art ihres Vollzugs (kontrollierte Ausreise oder Ausreise in Begleitung) muss im Hinblick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 47 der Charta der Grundrechte der EU, Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) und das Recht von Flüchtlingen auf freien Zugang zu den Gerichten (Artikel 18 der Charta der Grundrechte der EU in Verbindung mit Artikel 16 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951) grundsätzlich alle subjektiven Rechte des Betroffenen umfassen, die durch eine Überstellungsentscheidung oder deren Vollzug verletzt sein können. Im Rahmen des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung oder deren Vollzug ist daher auch zu prüfen, ob eine Überstellung im Einzelfall und unabhängig von systemischen Schwachstellen aus humanitären Gründen oder wegen einer drohenden Selbstverletzung oder wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands ausscheidet oder ob wegen der überlangen Dauer des Dublin-Verfahrens eine Überstellung nicht mehr erfolgen kann. Soweit Artikel 28 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags dagegen lediglich dahin zu verstehen sein sollte, dass die Verletzung anderer als der ausdrücklich in der Vorschrift genannten Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen der Dublin-Verordnung als objektive Verfahrensregelungen keine subjektiven Rechte der Betroffenen begründet und deshalb im Rechtsbehelfsverfahren nicht zu prüfen ist, müsste dies im Verordnungstext deutlicher als bislang Ausdruck finden.
- 15. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung sicherzustellen, dass das bislang im nationalen Recht vorgesehene, auf der geltenden Dublin-Verordnung beruhende und mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes vereinbare Rechtsbehelfsverfahren gegen Dublin-Entscheidungen durch die vorgeschlagene Neufassung keine nachteilige Änderung erfährt.
Delegierte Rechtsakte
- 16. Der Bundesrat erachtet die Ermächtigung zum Erlass von Durchführungsrechtsakten kritisch und hält eine erneute Prüfung für erforderlich, ob mit den Durchführungsrechtsakten nicht doch zentrale, die Länder betreffende Regelungen getroffen werden, für die es einer weitergehenden Abstimmung mit den Ländern bedarf, um den Verfahrensvollzug zu gewährleisten.
Direktzuleitung der Stellungnahme
- 17. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.