Punkt 36 der 948. Sitzung des Bundesrates am 23. September 2016
Der Bundesrat möge zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung nehmen:
Zu Artikel 2
- a) Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass überprüft werden sollte, wie bestehende Ungleichbehandlungen zulasten Angehöriger von Pflegebedürftigen gegenüber Angehörigen von Empfängern der Leistungen "Grundsicherung im Alter" ausgeglichen werden können.
- b) Der Bundesrat fordert daher, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob und wie die im Recht zur Grundsicherung im Alter bestehende Einkommensgrenze, derzufolge Kinder und Eltern von Leistungsberechtigten erst ab einem jährlichen Mindesteinkommen von 100 000 Euro zu Leistungen verpflichtet sind, auch in der Hilfe zur Pflege eingeführt werden kann. Dabei sind auch die finanziellen Auswirkungen auf die Sozialhilfeträger und mögliche Ausgleichsmechanismen mitzuberücksichtigen. Eine nach Saldierung möglicher Be- und Entlastungen verbleibende zusätzliche Belastung für die kommunalen Träger der Sozialhilfe ist auf bundesgesetzlicher Ebene auszuschließen.
Begründung:
Nach den Grundsätzen des Familien- und des Sozialrechts sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Dieser sozialpolitisch grundsätzlich richtige und wichtige Grundsatz wird allerdings verschiedentlich durch Ausnahmeregelungen eingeschränkt, um ungerechtfertigte Härtefälle zu vermeiden.
Im Bürgerlichen Gesetzbuch existieren Ausnahmeregelungen, beispielsweise zur Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten oder zum Selbstbehalt, welche die Unterhaltspflicht einschränken; im SGB XII wurde der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe unter anderem gegenüber Leistungen Unterhaltspflichtiger ( § 2 SGB XII) teilweise eingeschränkt:
So ist im Rahmen der Grundsicherung im Alter (§§ 41 bis 46b SGB XII) bereits vor rund 15 Jahren eine jährliche Einkommensgrenze von mindestens 100 000 Euro eingeführt worden. Unterhaltsansprüche der Bezieher von Grundsicherungsleistungen gegenüber Angehörigen mit einem Einkommen unterhalb dieser Einkommensgrenze werden nicht berücksichtigt ( § 43 Absatz 5 SGB XII). Zur Stärkung des Entlastungsgedankens in der Praxis ist sogar die Beweislast umgekehrt worden. Das Gesetz vermutet grundsätzlich, dass die Einkommensgrenze nicht überschritten wird, und überlässt es dem zuständigen Sozialhilfeträger, zur Widerlegung der Vermutung Auskünfte über das Einkommen einzuholen.
Eine vergleichbare Vorschrift existiert in der Hilfe zur Pflege bisher nicht. Bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit im Alter können die Kinder für die Kosten von Sozialhilfeträgern in Regress genommen werden. Das führt zu einer deutlichen Benachteiligung der Mittelschicht und kann negative Auswirkungen auf die pflegerische Versorgung der betroffenen Menschen haben.
Gerade erwachsene Kinder, die aus einkommensschwachen Familien stammen und sich aus engen wirtschaftlichen Verhältnissen hochgearbeitet haben, werden von dieser Regelung hart getroffen. Dies wiegt umso schwerer, als infolge der demographischen Entwicklung demenzbedingte Pflegebedürftigkeit immer häufiger anzutreffen ist, mit der Folge oft jahrelanger Pflegebedürftigkeit und entsprechender jahre- oder im Einzelfall sogar jahrzehntelanger (Regress-) Forderungen der Sozialämter ( § 94 SGB XII).
Eltern sollen und müssen ihr Vermögen zur Deckung des eigenen Unterhalts unverändert aufwenden. Die Pflegeversicherung ist als Teilkostenversicherung konzipiert - das verpflichtet jeden Einzelnen, für das Alter vorzusorgen. Daran soll sich nichts ändern. Durch Angleichung an die Vorschriften der Grundsicherung würde jedoch allen die Sorge vor dem Elternunterhalt im Falle der Pflegebedürftigkeit genommen und die Schaffung tragfähiger Pflegearrangements erleichtert.
Angehörige, denen der soziale und wirtschaftliche Aufstieg gelungen ist, würden nicht mehr durch die Pflegebedürftigkeit ihrer Eltern finanziell belastet. Dies dient dem gesamtgesellschaftlichen sozialen Frieden sowie dem familiären Zusammenhalt und hebt den Anreiz für Kinder aus sozial schwächeren Familien, sich aus ihren Verhältnissen hochzuarbeiten, so wie es die Grundsicherung bereits seit 15 Jahren vorsieht.
Im Hinblick auf die pflegerische Versorgung der betroffenen Pflegebedürftigen ist die Situation ebenfalls mit der Grundsicherung im Alter vergleichbar. Bei der Grundsicherung wurde der Angehörigenregress damals auch deshalb abgeschafft, damit ältere und sozial bedürftige Menschen nicht aus Scham oder aus Rücksicht auf ihre Kinder in der Altersarmut verbleiben, statt staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Auch bei der Hilfe zur Pflege darf keine Motivationslage entstehen, in der Pflegebedürftige nur aus Rücksicht auf ihre Kinder die erforderliche Pflege nicht in Anspruch nehmen. Zudem darf nicht verkannt werden, dass mit den heutigen Regelungen zur Angehörigenheranziehung viele Kinder, die auch die pflegerische Versorgung ihrer Eltern organisieren bzw. sogar als Betreuerinnen und Betreuer bestellt sind, in einen Zielkonflikt zwischen optimaler Versorgung der Eltern und eigener finanzieller Belastung geraten können. Eine aus diesen Gründen resultierende Einschränkung der erforderlichen pflegerischen Versorgung gilt es nicht nur vorrangig im Hinblick auf die gesundheitliche Situation und die Lebensqualität der älteren Menschen zu vermeiden. Vielmehr würde eine defizitäre Versorgung auch medizinischpflegerische Folgekosten verursachen, die dann von den Sozialleistungssystemen zu tragen wären.
Die finanziellen Auswirkungen der vorgeschlagenen Angleichung in der Hilfe zur Pflege sind im Rahmen der Prüfung ebenfalls zu berücksichtigen. Dabei stehen den Mehrausgaben zum einen ein höheres Steueraufkommen aufgrund der geringeren steuerlichen Geltendmachung der Kosten durch die unterhaltspflichtigen Kinder gegenüber; zum anderen fallen durch Berechnung und Eintreibung Personal- und Sachkosten an, die dann in einem gewissen Umfang wegfallen würden. Verbleiben nach der Saldierung möglicher Be- und Entlastungen höhere Belastungen für die Kommunen, müssen diese in ähnlicher Weise bundesgesetzlich ausgeschlossen werden, wie dies seinerzeit bei der Angehörigenfreistellung in der Gundsicherung im Alter geschehen ist (zweckgebundene Bundesbeteiligung nach § 46a a. F. SGB XII).