Der Bundesrat hat in seiner 868. Sitzung am 26. März 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Bericht der Kommission "Bessere Rechtsetzung 2008" zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission trotz seiner wiederholten Aufforderung ihrer Verpflichtung nach Artikel 9 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon, jährlich über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit substantiell zu berichten, auch im 16. Bericht nicht nachgekommen ist.
- 3. Nach seiner Auffassung ist die bloße Aneinanderreihung von Beispielsfällen, in welchen der Subsidiaritätsgrundsatz von den einzelnen Akteuren erörtert wurde, ohne Angabe, aus welchen Gründen die Kommission einen Subsidiaritätseinwand für beachtlich bzw. unbeachtlich gehalten hat, ohne wirklichen Mehrwert für die Beurteilung der Reichweite des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Praxis. Der Bundesrat fordert die Kommission daher auf, ihre Berichterstattung im kommenden 17. Bericht entsprechend zu verbessern. Zudem bittet er die Bundesregierung, gegenüber der Kommission ebenfalls für eine sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht den vertraglichen Anforderungen genügenden Berichterstattung einzutreten.
- 4. Der Bundesrat stellt fest, dass der Vertrag von Lissabon zwar die prozedurale Dimension des Subsidiaritätsprinzips stärkt und hier im Rahmen des neuen Protokolls Nr. 2, insbesondere mit dem Frühwarnsystem und der Einbindung der nationalen Parlamente, Verbesserungen mit sich bringt. Andererseits wird die materielle Dimension des Subsidiaritätsprinzips geschwächt, da anders als noch beim Amsterdamer Protokoll Nr. 30 eine Präzisierung der für die Subsidiaritätsprüfung bedeutsamen materiellen Kriterien nunmehr fehlt. Darin sieht der Bundesrat eine Verschlechterung der Praktikabilität des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
- 5. Der Bundesrat spricht sich daher für eine materielle Konkretisierung der Subsidiaritätskriterien im Rahmen eines interinstitutionellen Prüfbogens aus. Die bislang von der Kommission vorgenommenen Konkretisierungen im Rahmen ihrer Anfang 2009 überarbeiteten Leitlinien für die Durchführung von Folgenabschätzungen sind zwar grundsätzlich als wichtiger Fortschritt für eine kommissionsinterne Subsidiaritätsprüfung zu begrüßen. Jene sind jedoch für eine effektive Exante-Kontrolle durch die nationalen Parlamente im Rahmen des sogenannten "Frühwarnmechanismus" wenig aussagekräftig. Ein derartiges Prüfraster der gesetzgebenden EU-Akteure wäre auch ein wichtiger Beitrag für die Herausbildung eines auch von der Kommission wiederholt eingeforderten europaweiten Konsenses über das Verständnis von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit.
- 6. Vor diesem Hintergrund stellt der Bundesrat klar, dass in Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei jedem Rechtsakt im Einzelnen begründet und nachgewiesen werden muss, warum die Ziele nicht ausreichend auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene erreicht werden können. Als zweite Bedingung muss hinzutreten, dass die Maßnahme wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist. Die Maßnahmen der EU müssen sich daher auf die Regelung von Sachverhalten beschränken, die im Schwerpunkt transnationale Aspekte aufweisen. Der europäische Mehrwert einer Maßnahme muss deutliche Vorteile mit sich bringen - sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht. Soweit die EU nur eine koordinierende und unterstützende Rolle einnimmt, soll sie dies bei jeder Aktion deutlich zum Ausdruck bringen, um die verschiedenen Verantwortungsebenen deutlich aufzuzeigen. Dies muss auch für finanzielle Hilfen der EU gelten. Die Anwendung der allgemeinen Binnenmarktklausel bedarf einer genauen Darstellung, inwieweit das Fehlen einer gemeinschaftsweiten Regelung zu Wettbewerbsverzerrungen führt, die aus gemeinschaftlicher Sicht nicht hingenommen werden können, und deshalb eine Harmonisierung der nationalen Vorschriften unerlässlich ist.
- 7. Der Bundesrat unterstreicht in diesem Zusammenhang seine Auffassung, wonach die Subsidiaritätsprüfung auch eine Prüfung der Zuständigkeit der EU zwingend mit einschließt. Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden. Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt, rügen könnten (Stellungnahme des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 betont, dass die Effizienz des EU-Frühwarnsystems davon abhängen wird, "ob das Klagerecht der nationalen Parlamente und des Ausschusses der Regionen auf die der Überprüfung des Subsidiaritätsgrundsatzes vorgelagerte Frage erstreckt wird, ob die EU über eine Zuständigkeit für das konkrete Rechtssetzungsvorhaben verfügt" (Urteil vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, Rn. 305).
- 8. Unter Anlegung dieses Prüfmaßstabs ist der Bundesrat der Auffassung, dass insbesondere in zwei im Bericht der Kommission genannten Fällen die Voraussetzungen in Bezug auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht erfüllt sind: Der Richtlinienvorschlag zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz (KOM (2008) 232 endg.) beschränkt sich nicht auf die Regelung von Sachverhalten, die im Schwerpunkt transnationale Aspekte aufweisen. Vielmehr ist der Bodenschutz eine Materie, die im Schwerpunkt lokale oder regionale Aspekte aufweist. Dasselbe gilt für das Grünbuch "Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt" (KOM (2007) 551 endg.) hinsichtlich der Problematik des Nahverkehrs in den Städten wie etwa der Verkehrsüberlastung. In beiden Fällen sind Maßnahmen der Mitgliedstaaten ausreichend. Zwar hat die Kommission nunmehr zur urbanen Mobilität lediglich einen Aktionsplan erlassen. Dieser enthält jedoch eine Reihe von konkreten Maßnahmenempfehlungen, auf deren Grundlage die Kommission verschiedene "freiwillige Verpflichtungen" ausarbeiten will, bei denen die Fortschritte durch die Kommission überprüft werden sollen. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es gegen den Gedanken der Subsidiarität verstößt, wenn "durch die Hintertür" quasigesetzliche Verpflichtungen geschaffen werden (Stellungnahme des Bundesrates vom 18. Dezember 2009, BR-Drucksache 756/09(B) ). Nach Auffassung des Bundesrates darf auch durch den Erlass von softlaw oder die offene Methode der Koordinierung das Kompetenzgefüge zwischen EU und Mitgliedstaaten nicht umgangen werden.
- 9. Der Bundesrat begrüßt, dass der seit September 2006 praktizierte politische Dialog der Kommission mit den nationalen Parlamenten parallel zum Verfahren zur Subsidiaritätskontrolle fortgeführt wird. In Anlehnung an die jüngst zwischen Europäischem Parlament und Kommission vereinbarten Eckpunkte einer vertieften Zusammenarbeit zwischen beiden Institutionen regt der Bundesrat an, auch den politischen Dialog und die Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten weiter auszubauen, um der entscheidenden Bedeutung der nationalen Parlamente im demokratischen Gefüge der EU nach dem Vertrag von Lissabon gerecht zu werden.
- 10. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.