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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union,
der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik,
der Ausschuss für Familie und Senioren und
der Gesundheitsausschuss
empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die mit dem Grünbuch verbundene Absicht der Kommission ausdrücklich, die Bedeutung psychischer Gesundheit in der EU zu stärken und tragfähige Rahmenbedingungen für den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen. Mit dieser Initiative verbindet der Bundesrat die Erwartung, dass der besonderen Relevanz psychischer Erkrankung und Behinderung für die Entwicklung von Gesundheit und sozialer Sicherheit in den Mitgliedstaaten nunmehr auch auf der Ebene der Gemeinschaft Rechnung getragen wird. Der Bundesrat teilt dabei die Auffassung, dass die Umsetzung der Aufforderungen aus der Europäischen Ministeriellen WHO-Konferenz zur Psychischen Gesundheit im Januar 2005 ein starkes politisches Engagement auf allen Ebenen der Gemeinschaft erfordert.
Die Entwicklung einer umfassenden EU-Strategie für psychische Gesundheit mit den im Grünbuch beschriebenen Schwerpunkten setzt hierzu Prioritäten in angemessener Form. Insbesondere sind der Dialog und der intensive und dabei langfristig angelegte fachliche Austausch zwischen den Mitgliedstaaten der richtige Weg, unterschiedliche Kenntnisstände anzupassen und erfolgreiche Ansätze zu kommunizieren. Daher erscheinen die vorgeschlagenen Initiativen fachlich sinnvoll und geeignet, die intendierten Ziele zu verfolgen, insbesondere dann, wenn diese auch andere Politikfelder außerhalb des Gesundheitssektors mit einbeziehen.
Im weiteren Konsultationsprozess auf europäischer Ebene bittet der Bundesrat, diese grundsätzliche Position sowie folgende Punkte zu vertreten:
- 2. Eine gemeinsame Strategie muss hinreichenden Spielraum für individuelle Ausgestaltungen der Mitgliedstaaten lassen, da die vorhandenen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sowohl hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens psychischer Erkrankungen als auch der Ausgestaltung der psychiatrischen Versorgungssysteme keine einheitlichen Lösungen, sondern individuelle Regelungen erfordern. Deshalb lehnt der Bundesrat Zielvorgaben, Benchmarks, zeitliche Vorgaben, Mechanismen zur Überwachung der Umsetzung auf EU-Ebene sowie eine zusätzliche Bürokratisierung in diesem Zusammenhang ab.
- 3. In diesem Zusammenhang weist der Bundesrat auf die beschränkten Kompetenzen der EU gemäß Artikel 152 EGV hin.
- 4. Bei vielen der im Grünbuch beschriebenen Maßnahmen handelt es sich um Aufgaben, die in den Ländern bzw. auf Länderebene - wie beispielsweise die Entwicklung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - zu organisieren und zu gestalten sind. Bei weiteren strategischen Überlegungen ist dies zu berücksichtigen. Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung weiterhin um eine enge Einbeziehung der Länder.
- 5. Die Notwendigkeit einer Förderung der sozialen Integration psychisch kranker und geistig behinderter Menschen sowie der Schutz ihrer Grundrechte und Menschenwürde werden im Grünbuch wiederholt benannt. Gleiches gilt für den Kampf gegen bestehende Diskriminierung und Stigmatisierung behinderter Menschen. Diese Hervorhebungen werden umfassend unterstützt.
- 6. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Paradigmenwechsel in der Politik für behinderte Menschen in Deutschland deutlich weiter geht als in den Empfehlungen des Kapitels 6.2 beschrieben: Mit der Aufnahme des Benachteiligungsverbotes 1994 in das Grundgesetz und dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen vom 27. April 2002 haben Menschen mit Behinderungen einen rechtlichen Anspruch auf Gleichstellung und Barrierefreiheit. Ergänzt wird diese rechtliche Gleichstellung um den Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zum Ziel hat. Selbstbestimmung weist über den Begriff der "Mitwirkung" deutlich hinaus.
- 7. Mit Bezug auf die unterschiedlichen Gruppen behinderter Menschen ist dabei zumindest für die deutsche Diskussion und Entwicklung eine differenzierte Betrachtung erforderlich. In Deutschland unterscheiden sich Unterstützungs- und Assistenzmaßnahmen für Menschen mit einer seelischen Behinderung und für Menschen mit einer geistigen Behinderung fachlich deutlich voneinander. Hier haben sich seit Mitte der 70er Jahre in den Ländern zwei unterschiedliche Angebotssysteme für diese beiden Personenkreise entwickelt. Diese Differenzierung sollte sich im Interesse der Menschen auch in der weiteren Diskussion widerspiegeln.
- 8. Der Bundesrat stimmt der Kommission darin zu, dass neben einer qualifizierten Behandlung und sozialintegrativen Betreuung eine sinnvolle Tätigkeit sowie die (Re)-Integration in Arbeit und Beschäftigung eine zentrale Rolle für psychisch erkrankte Menschen spielt. Diesem Feld ist bei der Fassung einer gemeinsamen Strategie die ihm zustehende Bedeutung zuzumessen.
- 9. Wesentlicher Bestandteil der umgesetzten Psychiatrie-Reform in Deutschland war die Deinstitutionalisierung der psychiatrischen Versorgung und die Hinwendung zu einer gemeindenahen Psychiatrie. Damit wurde insbesondere auf eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität der Menschen mit einer chronischen psychischen Erkrankung gezielt. Die Lebensqualität dieses Personenkreises ist somit ein zentraler Indikator für das Gelingen der Psychiatrie-Reform. Daher ist der Vorrang der Versorgung chronisch psychisch erkrankter Menschen als ein prioritäres Ziel im Rahmen einer gemeinsamen Strategie zu verankern ebenso wie der Grundsatz des Vorrangs ambulanter vor stationären Hilfen.
- 10. Die vorliegenden Empfehlungen betonen den Gedanken der Gesundheitsförderung und der Prävention sehr deutlich. Dieser Ansatz ist zu unterstützen und zu begrüßen. Bei der Entwicklung einer Strategie sollte dieser Ansatz auch konsequent umgesetzt werden. Besonderer Wert sollte auf die Prävention von Depressionen sowie die Etablierung von Anti-Stigma-Kampagnen und psychoedukative Ansätze gelegt werden. In diesem Zusammenhang wird beispielhaft auf das in Deutschland bereits bestehende Kompetenznetz Depression verwiesen.
- 11. Bei der weiteren Ausgestaltung sollten zudem geschlechtsspezifische Bedürfnisse und Besonderheiten (Gender Mainstreaming) berücksichtigt werden.
- 12. Aufgrund der wachsenden Zahlen älter werdender EU-Bürgerinnen und EU-Bürger ist der steigenden Prävalenz von Demenzen und depressiven Störungen und hierzu notwendigen Interventionen unter Berücksichtigung der Lebenslagen in den Mitgliedstaaten besondere Bedeutung beizumessen.
- 13. Wünschenswert wäre ein enger fachlicher Austausch zwischen den verschiedenen Regionen in Europa über den Stand und die Strategie der Umsetzung einer Psychiatrie-Reform im Sinne eines gegenseitigen Lernens. Von einer Gesamterhebung in den einzelnen Staaten sollte zu Gunsten eines Vergleichs zwischen einzelnen unterschiedlichen Regionen abgesehen werden. Durch einen Vergleich der Regionen kann erfasst werden, wie die jeweilige Region bestimmte Probleme löst. In einem solchen Erfahrungsaustausch erhalten die Regionen Anregungen, wie sie von einander lernen und ihr eigenes Gesundheits- und Sozialsystem optimieren und fortentwickeln können.
- 14. Die Einrichtung einer "Schnittstelle zwischen Politik und Forschung" und einer "EU-Plattform für psychische Gesundheit" werden grundsätzlich als ein sinnvoller Schritt begrüßt. Aus Sicht des Bundesrates sollte die Etablierung zusätzlicher Gremien im Hinblick auf schlanke Strukturen und vermeidbaren bürokratischen Aufwand auf das für die Zielerreichung unabdingbar erforderliche Maß beschränkt werden. Insofern sind institutionelle Anbindung, Zusammensetzung, Befugnisse und Finanzierung noch zu klären.
- 15. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung weiterhin um enge Einbeziehung der Länder in den weiteren Diskussionsprozess.
Diese Stellungnahme ist gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 EUZBLG maßgeblich zu berücksichtigen, da die Gesetzgebungszuständigkeit für die Organisation und Ausgestaltung der psychiatrischen Versorgung ausschließlich bei den Ländern liegt.
B
- 16. Der Ausschuss für Frauen und Jugend empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.