Punkt 53 der 953. Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2017
Der Bundesrat möge zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung nehmen:
Zu Artikel 2 Nummer 3 - neu - (§ 105 Absatz 1, Absatz 1a - neu - JGG)
Dem Artikel 2 ist folgende Nummer 3 anzufügen:
'3. § 105 wird wie folgt geändert:
- a) Absatz 1 wird wie folgt gefasst:
(1) Auf die Straftaten eines Heranwachsenden ist das allgemeine Strafrecht anzuwenden."
- b) Nach Absatz 1 wird folgender Absatz 1a eingefügt:
(1a) Bestand zum Zeitpunkt der Tat bei dem Heranwachsenden eine erhebliche Verzögerung in der sittlichen oder geistigen Entwicklung und ist deshalb eine erzieherische Einwirkung geboten, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nummer 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an." '
Begründung:
Die neue Gliederung und Formulierung der Vorschrift stellt klar, dass der Regelfall die rechtliche Gleichstellung der Heranwachsenden mit den Erwachsenen ist und nur ausnahmsweise bei erheblichen Entwicklungsverzögerungen die Anwendung von Jugendstrafe in Betracht kommt.
Der Begriff der Jugendverfehlung und die bisherige Differenzierung zwischen den Nummern 1 und 2 in § 105 Absatz 1 JGG werden ebenso aufgegeben wie die Anknüpfung an einen tatsächlich nicht bestehenden Normtypen des Jugendlichen.
Die Feststellung, ob der Täter entwicklungsmäßig "noch einem Jugendlichen gleichstand" oder ob eine "Jugendverfehlung" vorliegt, erfordert nach geltendem Recht einen Vergleich des Täters mit einem "normalen" Jugendlichen. Hierbei handelt es sich aber um eine fiktive Größe, die in der Realität mit ihren vielfältigen Abstufungen und Nuancen keine Entsprechung findet. Ein empirisch abgesichertes Leitbild eines "normalen" Jugendlichen konnte die Wissenschaft bisher nicht erbringen (vgl. Eisenberg, JGG, 18. Aufl. 2016, § 105 Rn. 7). Die Beurteilung der Frage, ob Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht anzuwenden ist, hängt daher häufig von äußerlichen Umständen und Zufälligkeiten ab. Zum Teil wird sogar die Auffassung vertreten, dass die Entscheidungen nach § 105 Absatz 1 JGG in einem im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes problematischen Ausmaß von der Subsumtion normativer Begriffe abhängt (vgl. Eisenberg, JGG, 10. Auflage 2004, Rn. 3). Die dadurch hervorgerufenen Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung können in der Praxis zu Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit führen (vgl. Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, Einleitung II Rn. 2).
Der Begriff der "Jugendverfehlung" nach § 105 Absatz 1 Nummer 2 JGG hat sich zudem als zu unbestimmt und in seinem Verhältnis zur Regelung in § 105 Absatz 1 Nummer 1 JGG als problematisch erwiesen. Es erscheint daher vorzugswürdig, auf diesen Begriff völlig zu verzichten und ausschließlich auf die Entwicklung des Heranwachsenden abzustellen. Die Anwendung von Jugendstrafrecht ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine erhebliche Verzögerung in der sittlichen oder geistigen Entwicklung gegeben ist. Das Vorliegen dieser Voraussetzung ist im Einzelfall festzustellen, eine schematische Bejahung von Entwicklungsverzögerungen ist verfehlt. Die Entwicklungsverzögerung muss dabei so schwerwiegend sein, dass es ausnahmsweise geboten erscheint, den Heranwachsenden nicht wie einen Erwachsenen, sondern noch wie einen Jugendlichen zu behandeln und das erzieherische Instrumentarium des Jugendstrafrechts anzuwenden.
Ferner wird klargestellt, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts nur bei solchen Tätern in Betracht kommt, die mit den jugendspezifischen Maßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes noch zu erreichen sind. Sind solche erzieherischen Maßnahmen zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung nicht (mehr) erforderlich oder von vornherein aussichtslos, gilt das allgemeine Strafrecht, das allerdings bei der Ahndung der Straftaten auch die Berücksichtigung erheblicher Reifeverzögerungen zum Zeitpunkt der Tat in vielfältiger Weise - zum Beispiel durch die Annahme eines minder schweren Falles - zulässt.