Staatsministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten in der Bayerischen Staatskanzlei
Berlin, den 15. Mai 2012
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer
Sehr geehrter Herr Präsident,
gemäß dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung übermittle ich die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates "Schaffung eines Bundesleistungsgesetzes" mit dem Antrag, dass der Bundesrat diese fassen möge.
Ich bitte, die Entschließung gemäß § 36 Abs. 2 GOBR auf die Tagesordnung der 899. Sitzung am 6. Juli 2012 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Emilia Müller
Entschließung des Bundesrates "Schaffung eines Bundesleistungsgesetzes"
Der Bundesrat möge folgende Entschließung fassen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Aufgaben, die eine alternde Gesellschaft mit einem stetig wachsenden Anteil an Menschen mit Behinderung und Menschen mit Demenzerkrankungen an die sozialen Sicherungssysteme stellt, nicht mehr allein mit kommunal finanzierten Daseinsvorsorgeleistungen bewältigt werden können. Die bevorstehenden Herausforderungen haben sich vielmehr zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickelt. Die rechtlichen Grundlagen für eine angemessene Teilhabe von Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen müssen geänderten Lebensverhältnissen und Bedarfslagen angepasst und zu modernen Hilfesystemen weiterentwickelt werden.
Der Bundesrat begrüßt deshalb die Anstrengungen von Bund und Ländern, die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung zu einer zeitgemäßen und zukunftsorientierten Hilfe weiterzuentwickeln, die den behinderten Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt (personenzentrierte Hilfe). Mit dieser Reform sollen nicht nur die Rechte und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderung gestärkt, sondern auch ein wesentlicher Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK) und des Inklusionsgedankens gegangen werden. Inklusion bedeutet für alle Bürgerinnen und Bürger einen Gewinn, da das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen das Leben bereichert, seine Vielfalt erlebbar macht und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert.
- 2. Der Bundesrat fordert deshalb, dass der Bund künftig die Kosten der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Eingliederungshilfe übernimmt. Er ist der Auffassung, dass es vor dem Hintergrund der UN-BRK und dem Leitbild der Teilhabe nicht mehr zeitgemäß ist, Menschen mit Behinderung auf das System der Sozialhilfe zu verweisen. Behinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden Menschen jederzeit treffen kann. Es erscheint deshalb nicht folgerichtig, die Teilhabe von behinderten Menschen dem nachrangigsten System der sozialen Sicherung zuzuordnen. Die Umsetzung der Eingliederungshilfereform und die Kostenübernahme des Bundes müssen nach Auffassung des Bundesrates deshalb in einem eigenen Bundesleistungsgesetz erfolgen, um die Menschen mit Behinderung aus dem "Fürsorgesystem" herauszuführen. Der Bund hat nicht zuletzt mit der Unterzeichnung der UN-BRK für Menschen mit Behinderung signalisiert, dass Teilhabe eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe aller politischen Ebenen ist.
- 3. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Anzahl und die Unterstützungsbedarfe von Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren signifikant angestiegen sind. Zudem haben sich die Lebensverhältnisse und die Bedarfslagen erheblich verändert.
Medizinischer Fortschritt lässt die Lebenserwartung der Menschen stetig ansteigen. Geänderte Anschauungen in der Gesellschaft haben auch die Bedarfslagen geändert. Dazu hat insbesondere die UN-BRK maßgeblich beigetragen. Während früher im Vordergrund stand, die Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu integrieren und dafür entsprechende Einrichtungen und Dienste zur Verfügung gestellt wurden, geht es heute nach dem Inklusionsgedanken darum, die behinderten Menschen "in die Mitte der Gesellschaft" zu nehmen und die Lebensumstände so zu gestalten, dass Menschen mit Behinderung ohne bauliche oder gedankliche Barrieren als selbstverständliche Mitglieder der Gesellschaft an ihr teilhaben können. Das in der UN-BRK verankerte Recht aller Menschen mit Behinderung, Wohnort und Wohnform frei zu wählen, wird eine Beschleunigung des Ausbaus der ambulanten Hilfen erforderlich machen. Die Gestaltung eines Sozialraums, in dem sich Menschen mit Alltagseinschränkungen frei bewegen können, wird eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre sein.
Eine Vielzahl solcher und ähnlicher Faktoren trägt dazu bei, dass die Fallzahlen und Ausgaben für Menschen mit Behinderung seit geraumer Zeit überproportional ansteigen.
Erhielten im Jahr 2000 bundesweit noch 414.000 behinderte Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe mit einem Ausgabevolumen von 8.321,6 Mio. €, waren es im Jahr 2010 bereits 630.000 Menschen mit einem Ausgabevolumen von 12.481,3 Mio. €.
Diese Steigerungen drohen die Leistungsfähigkeit der Länder und Kommunen bei der Eingliederungshilfe - trotz der Entlastung bei der Grundsicherung durch den Bund - auf Dauer zu übersteigen. Mit der Ratifizierung der UN-BRK durch den Deutschen Bundestag ist diese am 26.03.2009 in Deutschland in Kraft getreten. Der Bund hat sich und alle öffentlichen Stellen zur Beachtung der Grundsätze der UN-BRK in Deutschland verpflichtet. Entlastungen der Kommunen sind zwingend erforderlich.
- 4. Eine Eingliederungshilfereform darf sich allerdings nicht auf eine Kostenübernahme des Bundes beschränken. Auch die Verfahrens- und Leistungsinstrumente, die derzeit im SGB XII geregelt sind, müssen aktuellen Anforderungen angepasst werden. Änderungsbedarf besteht insbesondere in den folgenden Bereichen:
- - Die UN-BRK verfolgt vor allem das Ziel, die Rechte von Menschen mit Behinderung zu sichern. Diese Rechte sind im Leistungs- und Verfahrensrecht der Eingliederungshilfe noch nicht ausreichend abgebildet.
- - Heute hängen die zu gewährenden Eingliederungshilfen noch vielfach davon ab, wie und wo der Leistungsberechtigte wohnt und betreut wird (ambulant, teilstationär, stationär). Die Leistungsgewährung ist einrichtungsorientiert und berücksichtigt nicht ausreichend die individuelle Situation des Leistungsberechtigten (Personenzentrierung).
- - Bei der Bedarfsfeststellung ist der Leistungsberechtigte derzeit zu wenig in das Bedarfsfeststellungsverfahren einbezogen.
- - Die in vielen Fällen notwendige Zusammenarbeit verschiedener Sozialleistungsträger ist ebenfalls unzureichend geregelt. Eine ganzheitliche Betrachtung des hilfebedürftigen Menschen unter einer verantwortlichen Federführung ist nicht installiert.
- - Fachliche Leistungen der Eingliederungshilfe und Hilfen zur Bestreitung des Lebensunterhalts werden nach aktuellem Rechtsstand unsystematisch miteinander vermengt, statt die Leistungen der Eingliederungshilfe auf ihren Kernbereich zu konzentrieren.
- - Die Hilfen für behinderte Menschen zur Teilhabe am Arbeitsleben müssen noch mehr auf individuelle Maßnahmen für den Einzelnen zugeschnitten und weiter ausgebaut werden. Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung leisten eine wertvolle Arbeit und werden auch künftig benötigt. Aber auch alternative Formen der Teilhabe am Arbeitsleben müssen entwickelt und angeboten werden, um die Pluralität des Arbeitslebens auch für Menschen mit Behinderung nutzbar zu machen. Der Bundesrat fordert, dass solche Unzulänglichkeiten des bisherigen Systems möglichst rasch behoben werden. Er bekennt sich zum Gedanken der Inklusion und tritt dafür ein, dass Menschen mit Behinderung durch entsprechende Nachteilsausgleiche in die Lage versetzt werden, ohne Einschränkungen am allgemeinen Leben teilzuhaben.
- 5. Der Bundesrat fordert deshalb die Bundesregierung auf, unverzüglich die Arbeiten für ein Bundesleistungsgesetz aufzunehmen mit dem Ziel, dass dieses spätestens in der nächsten Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Die Länder bieten dazu ihre Unterstützung an.
Das Bundesleistungsgesetz soll insbesondere folgenden Anforderungen genügen:
- - Kostenübernahme des Bundes für die Eingliederungshilfe und damit Entlastung der Länder und Kommunen.
- - Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung bei der Festlegung und Umsetzung ihrer Leistungsansprüche. Verstärkte Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Wünsche in ein bundeseinheitliches Bedarfsfeststellungsverfahren.
- - Loslösung der Leistungen der Eingliederungshilfe vom System der Sozialhilfe.
Das Sechste Kapitel wird aus dem SGB XII herausgelöst und unter Anpassung an zeitgemäße Anforderungen sowie Bewahrung der hergebrachten Grundsätze der Sozialhilfe (z.B. Bedarfsdeckungsprinzip, Nachranggrundsatz) in ein eigenes Bundesleistungsgesetz überführt. Übergang von der einrichtungsorientierten zur stärker personenzentrierten Hilfe. Maßstab für die Leistungserbringung sollte der individuelle Bedarf des einzelnen Menschen mit Behinderung - unabhängig von seiner Wohnform - sein.
- - Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung.
Als längerfristiges Ziel muss angestrebt werden, Menschen mit Behinderung so weit wie möglich vom Einsatz eigenen Einkommens und Vermögens freizustellen. Dazu gehört, den behinderungsbedingten Mehraufwand zu erstatten und gleichzeitig das individuelle Leistungsvermögen angemessen zu berücksichtigen.
- - Etablierung eines bundesweit einheitlichen Bedarfsbemessungssystems und -verfahrens unter Einbeziehung aller beteiligten Sozialleistungsträger. Die bisherigen Vorarbeiten von Bund und Ländern sind dabei heran zu ziehen.
- - Konzentration der Eingliederungshilfe auf ihre (fachlichen) Kernaufgaben.
Das bedeutet insbesondere Trennung von Leistungen zum Lebensunterhalt und Eingliederungshilfeleistungen.
- - Die Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben müssen flexibilisiert und personenzentriert ausgestaltet und stärker auf eine Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet werden.
- - Die Wechselwirkungen zwischen der (reformierten) Eingliederungshilfe einerseits und der Sozialen Pflegeversicherung andererseits werden berücksichtigt, wobei auf eine für beide Seiten kostenneutrale Regelung zu achten ist.