Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 28. Juni 2012
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierung von Rheinland-Pfalz hat beschlossen, beim Bundesrat den in der Anlage beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates zum Europäischen Fürsorgeabkommen einzubringen. *
Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der 899. Sitzung des Bundesrates am 6. Juli 2012 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Entschließung des Bundesrates zum Europäischen Fürsorgeabkommen
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, den Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens für Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch zurück zu nehmen.
Begründung:
Nach Artikel 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11. Dezember 1953, das die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet hat, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.
Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - entschieden, dass in Deutschland lebende Ausländer trotz der Ausschlussregelung in § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) grundsätzlich Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, wenn sie sich auf das Europäische Fürsorgeabkommen berufen können. In diesem Fall ist die Ausschlussregelung in § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 SGB II auf sie nicht anwendbar. Bei Artikel 1 EFA handelt es sich - so das Bundessozialgericht - um unmittelbar geltendes Bundesrecht. Seiner Anwendbarkeit steht weder vorrangig anzuwendendes anderes Bundesrecht, noch Gemeinschaftsrecht entgegen. Die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Artikel 1 EFA liegen auch insoweit vor, als es sich bei der im vorliegenden Fall beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II um Fürsorge im Sinne des EFA handelt. Hierzu zählt nicht nur die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII, sondern auch die begehrte Leistung nach dem SGB II.
Im Dezember 2011 hat die Bundesregierung für Leistungen nach dem SGB II folgenden Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen erklärt und beruft sich hierbei auf Artikel 16b EFA:
"Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden."
Der Vorbehalt ist mit Wirkung vom 19. Dezember 2011 in Kraft getreten.
Die Bundesagentur für Arbeit hat die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Geschäftsanweisung SGB II Nummer 8 vom 23. Februar 2012 über die "neue Rechtslage" unterrichtet. Die Ausschlussgründe nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 und 2 SGB II finden danach auf Angehörige der EFA-Staaten in der Praxis wieder Anwendung.
Maßgebliche Argumente, die gegen einen Leistungsausschluss bei in Deutschland lebenden EU-Ausländern sprechen, sind vor allem:
In Deutschland arbeitsuchende EU-Bürger haben einen Gleichbehandlungsanspruch nach Artikel 4 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe h der VO (EG) Nr. 883/2004. Der Gleichbehandlungsanspruch statuiert nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern gewährt auch Inländergleichbehandlung.
Die Rücknahme des Vorbehalts ist auch aus sozialpolitischen Gründen unerlässlich. Die Auswirkungen der Vorbehaltserklärung setzen arbeitsmarktpolitisch falsche Signale. Deutschland ist und bleibt auf qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Vor dem Hintergrund einer ungewissen Absicherung des notwendigen Lebensunterhalts wird das aktuelle Vorgehen dazu beitragen, dass interessierte ausländische Fachkräfte davon absehen, zur Arbeitsuche nach Deutschland einzureisen.
Der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt droht zudem zu einem "Verschiebebahnhof" zu Lasten der Länder und Kommunen zu werden.
Nicht zuletzt sprechen auch humanitäre Gründe dafür, den Vorbehalt zurück zu nehmen. Das Vorgehen der Bundesregierung bedeutet einen Bruch mit der im Rahmen des europäischen Zusammenwachsens normalen europäischen Solidarität und einen Integrationsrückschritt im Bereich der Sozialpolitik. Die einseitige Kündigung der europäischen Solidarität ist ein falsches Signal und muss zurückgenommen werden.
Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung aufgefordert, Rechtsklarheit herbeizuführen, indem sie den Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens für Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch zurücknimmt.
- *. Die Freie Hansestadt Bremen ist mit Schreiben vom 28. Juni 2012 der o.a. Entschließung beigetreten.