992. Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020
A
1. Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, den Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 1 des Grundgesetzes nach Maßgabe folgender Änderung beim Deutschen Bundestag einzubringen:
Zu Artikel 1 Nummer 1 (§ 453 Absatz 1a - neu - StPO), Nummer 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa (§ 454 Absatz 1 Satz 4 StPO)
Artikel 1 ist wie folgt zu ändern:
- a) Nummer 1 ist wie folgt zu fassen:
"1. Nach § 453 Absatz 1 wird folgender Absatz 1a eingefügt:
(1a) Das Gericht kann anordnen, dass die mündliche Anhörung des Verurteilten zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Verurteilte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Die Anhörung im Wege der Übertragung in Bild und Ton ist unzulässig, wenn der Verurteilte ihr widerspricht. Das Gericht weist ihn zuvor auf die Möglichkeit eines solchen Verfahrens und des Widerspruchs hin und gibt ihm Gelegenheit, sich zu äußern." "
- b) In Nummer 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa ist § 454 Absatz 1 Satz 4 wie folgt zu fassen:
" § 453 Absatz 1a gilt entsprechend."
Folgeänderungen:
- a) Das Vorblatt ist wie folgt zu ändern:
- aa) Abschnitt B ist wie folgt zu ändern:
- aaa) In Absatz 1 ist das Wort "Strafvollstreckung." durch die Wörter "Strafvollstreckung, ohne das aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsgrundrecht und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ( Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) folgende Recht des Verurteilten auf eine Anhörung, bei der sich der Richter ein möglichst umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person verschafft, zu beeinträchtigen." zu ersetzen.
- bbb) Absatz 2 ist wie folgt zu fassen:
"In der Strafvollstreckung bestimmt § 454 Absatz 2 Satz 4 StPO, dass die Anhörung des Sachverständigen unter Verzicht auf dessen persönliche Anhörung erfolgen kann. Für die in § 453 Absatz 1 Satz 3 und § 454 Absatz 1 Satz 4 StPO vorgesehene Anhörung des Verurteilten gilt dies, wenn der Verurteilte dem nach Belehrung nicht widerspricht."
- ccc) In Absatz 5 Satz 3 ist das Wort "indes" durch das Wort "bislang" zu ersetzen.
- bb) Der Abschnitt D ist wie folgt zu fassen:
"Der Kostenaufwand für die Umsetzung der geplanten Gesetzesänderung dürfte davon abhängen, in wie weit in den Gerichten und Justizvollzugsanstalten bereits eine Videokonferenztechnik vorgehalten wird, die den Anforderungen an eine sichere, datenschutzkonforme, stabile und einfach zu bedienende Kommunikation genügt. Auch muss die Videokonferenztechnik in den Justizvollzugseinrichtungen an einem für die Verteidigung zugänglichen Ort zum Einsatz kommen. Je nachdem ob bereits eine geeignete Videokonferenztechnik vorhanden ist, weil dies in der Vergangenheit, insbesondere im gerichtlichen Bereich, schon Voraussetzung für die Vernehmungen nach den §§ 58b, 233 Absatz 2, § 247a Absatz 1 StPO und für die Übertragungen aus dem oder in das Ausland nach dem IRG war, dürften Beschaffungsmaßnahmen und organisatorische Aufwände für die Ausstattung der Gerichte und Vollzugsanstalten von Bundesland zu Bundesland variieren. Die dadurch entstehenden Kosten würden jedoch perspektivisch dadurch ausgeglichen, dass Kosten für Transporte eingespart würden."
- aa) Abschnitt B ist wie folgt zu ändern:
- b) Die Begründung ist wie folgt zu ändern:
- aa) Abschnitt A ist wie folgt zu ändern:
- aaa) Absatz 4 ist durch folgende Absätze zu ersetzen:
"Es ist weiterhin zutreffend, dass die StPO eine verpflichtende mündliche Anhörung gerade in den Fällen vorsieht, in denen es um das Freiheitsgrundrecht geht und das Gericht eine schwierige Prognoseentscheidung zu treffen hat. Es muss die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse sowie die Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind, im Wege einer "prognostischen Gesamtwürdigung" umfassend abwägen.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Videokonferenztechnik bei Menschen, die der Technik gegenüber nicht aufgeschlossenen oder misstrauisch sind, Ängste auslösen oder Hemmungen verursachen kann. Auch wenn mit der Zunahme von "digital natives" diese Bedenken an Gewicht verlieren, können sich doch im Einzelfall Einbußen in der Kommunikation ergeben, entweder psychologisch durch die Situation des "Redens gegen eine Wand" ohne ein real existierendes menschliches Gegenüber oder qualitativ durch Einbußen bei der Übertragung von Bild- und Tonsignalen.
Aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsgrundrecht und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ( Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) folgt deshalb ein Anspruch des Verurteilten auf eine Anhörung, bei der sich der Richter ein möglichst umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person verschafft. Dem Verurteilten darf nicht die Möglichkeit genommen werden, sich persönlich vor dem Gericht zu "präsentieren", d.h. sich positiv darzustellen und einen etwaigen negativen Eindruck hinsichtlich seiner Person, der sich aus den Berichten der Justizvollzugsanstalt ergeben mag, zu revidieren. Primär arbeitsökonomischen oder fiskalischen Interessen gegenüber muss das Freiheitsgrundrecht grundsätzlich nicht zurücktreten (vergleiche OLG Frankfurt, NStZ-RR 2006, 357, beckonline).
Dem Grundrechtsschutz wird ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass der Verurteilte einer vom Gericht intendierten Videoanhörung widersprechen kann. Denn eine Videoanhörung kann für den Verurteilten auch Vorteile haben, weil ihm nicht nur der Gefangenentransport erspart bleibt, sondern auch die stigmatisierende Wirkung einer Fesselung, die unbewusst in die vom Gericht zu treffende Prognoseentscheidung eingehen kann (vergleiche dazu Esser, NStZ 2003, 464, beckonline)."
- bbb) Der bisherige Absatz 5 ist wie folgt zu fassen:
"Aufgrund der fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten bei einer Anhörung im Wege der Videokonferenz handelt es sich bei modernen Videokonferenzen inzwischen nämlich um eine Anhörung, die aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten den persönlichen Eindruck im erforderlich erscheinenden Umfang grundsätzlich ermöglichen. In der forensischen Praxis wird die Videokonferenz zudem gerade aktuell aufgrund der COVID-19-Pandemie in nahezu allen justiziellen in Bereichen eingesetzt. Mit Zustimmung der Betroffenen erfolgt dies auch bei gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen."
- ccc) Im bisherigen Absatz 6 Buchstabe d sind Satz 6 und 7 zu streichen.
- aaa) Absatz 4 ist durch folgende Absätze zu ersetzen:
- bb) In Abschnitt B ist die Begründung zu Artikel 1 wie folgt zu ändern:
- aaa) In der Einzelbegründung zu Nummer 1 Satz 2 sind nach dem Wort "Tonübertragung" ein Komma und die Wörter "wenn der Verurteilte dem nach Belehrung nicht widerspricht" einzufügen.
- bbb) In der Einzelbegründung zu Nummer 2 Buchstabe a ist Satz 3 wie folgt zu fassen:
"Die Anordnung steht im Ermessen des Gerichts, das den Verurteilten zuvor auf die Möglichkeit eines solchen Verfahrens und das Widerspruchsrecht hinweisen muss."
- ccc) Der Einzelbegründung zu Nummer 2 Buchstabe b ist folgender Absatz anzufügen:
"Insoweit bedarf es eines Widerspruchsrechts nicht, denn der Sachverständige hat den Verurteilten bereits im persönlichen Kontakt exploriert, bei komplexen Fragestellungen und einem bislang unbekannten Probanden meist sogar über mehrere Termine (vergleiche Empfehlung der interdisziplinären Arbeitsgruppe für Mindestanforderungen an Prognosegutachten, NStZ 2006, 537, beckonline). Die mündliche Anhörung dient nicht mehr der Überzeugungsbildung des Sachverständigen, sondern der Wahrung des rechtlichen Gehörs vor der Verwertung des Gutachtens durch das Gericht (vergleiche BVerfG, NJW 1964, 293, beckonline.). Es muss dem Verurteilten möglich sein, tatsächliche Behauptungen gegebenenfalls zu widerlegen oder zu entkräften. Dem Verurteilten und seinem Verteidiger ist deshalb vom Gericht zu ermöglichen, das Gutachten sowie die diesem zugrundeliegende Methodik zu diskutieren, es in Frage zu stellen und zu den Ausführungen Stellung zu nehmen (vergleiche Esser, NStZ 2003, 464, beckonline). Dies ist auch im Wege einer Videokonferenz möglich."
- aa) Abschnitt A ist wie folgt zu ändern:
Begründung (nur gegenüber dem Plenum):
Die Änderungen tragen dem Umstand Rechnung, dass aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsgrundrecht ein Anspruch des Verurteilten auf eine Anhörung folgt, bei der er sich dem Gericht in Person vorstellen kann. Eine Videovernehmung gegen den erklärten Willen des Verurteilten ist jedenfalls in den Fällen, in denen das Gesetz die mündliche Anhörung vorschreibt oder in denen das Gericht eine solche für erforderlich hält (§ 453 Absatz 1 Satz 2 StPO), mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ( Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) nicht in Einklang zu bringen.
Bezüglich der Einzelheiten darf auf die Änderungen in der Begründung Bezug genommen werden.
B
2. Der Rechtsausschuss schlägt dem Bundesrat ferner vor, Ministerin Barbara Havliza (Niedersachsen) gemäß § 33 der Geschäftsordnung des Bundesrates zur Beauftragten für die Beratungen des Gesetzentwurfs des Bundesrates im Deutschen Bundestag und in seinen Ausschüssen zu bestellen.