Der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg Stuttgart, 23. Juni 2020
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Dietmar Woidke
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierung von Baden-Württemberg hat beschlossen, dem Bundesrat die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates zur wissenschaftlichen Evaluierung von Kinderschutzverfahren und zu Änderungen des Bundeszentralregistergesetzes zuzuleiten.
Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates in die Tagesordnung der 992. Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020 aufzunehmen und sie anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Winfried Kretschmann
Entschließung des Bundesrates zur wissenschaftlichen Evaluierung von Kinderschutzverfahren und zu Änderungen des Bundeszentralregistergesetzes
- 1. Der Bundesrat fordert das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz aufgrund der Empfehlungen der Kommission Kinderschutz auf, eine wissenschaftliche Evaluierung der Kinderschutzverfahren zu veranlassen, durch die - insbesondere aufgrund von Verlaufsstudien - die Wirksamkeit familiengerichtlicher Maßnahmen zur Abwehr von Kindeswohlgefährdungen erforscht wird.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die anhaltende Aktualität der Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch sexuellen Missbrauch, der von einschlägig vorbestraften Personen mit pädophilen Neigungen verübt werden könnte, es erfordert, das Schutzniveau für Minderjährige zu erhöhen.
- 3. Der Bundesrat setzt sich weiterhin für einen umfassenden Schutz von Minderjährigen vor sexuellen Übergriffen ein.
- 4. Der Bundesrat erinnert den Bundestag daher an den durch Beschluss vom 14. Februar 2020 in den Bundestag eingebrachten "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes - Zeitlich unbegrenzte Aufnahme von Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und anderem in das erweiterte Führungszeugnis" (Bundesratsdrucksache 645/19(B) [neu]; Bundestagsdrucksache 19/18019) und bittet, sich mit dem Gesetzentwurf zeitnah zu befassen.
Begründung:
Im Herbst 2017 wurde bekannt, dass ein damals neunjähriger Junge aus Staufen nicht nur von seiner Mutter und ihrem Freund auf schwerste Weise sexuell missbraucht, sondern auch über das Darknet weiteren Männern gegen Geld zu diesem Zweck angeboten und von diesen missbraucht worden war.
Dieser sogenannte "Staufener Missbrauchsfall" hat in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden und zu der Frage geführt, ob und gegebenenfalls wie die bestehenden Verfahren des Kinderschutzes verbessert werden können, um Kindern und Jugendlichen größtmöglichen Schutz zu bieten.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat die Erkenntnisse aus den Ereignissen daher zum Anlass genommen, eine "Kommission Kinderschutz" einzusetzen, um die Verfahren des Kinderschutzes auf allen Ebenen zu analysieren und mögliche Handlungsbedarfe herauszuarbeiten.
Die Kommission Kinderschutz hat über hundert Einzelempfehlungen zur Verbesserung und Weiterentwicklung des Kinderschutzes erarbeitet und der Öffentlichkeit am 17. Februar 2020 in einem Abschlussbericht vorgestellt. Für die Justiz wurden insbesondere Empfehlungen zum Familienverfahren, zum Strafverfahren und zur Fortbildung der mit Kinderschutzverfahren befassten Richterinnen und Richter ausgesprochen.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat in Umsetzung der das familiengerichtliche Verfahren und das Strafrecht betreffenden Vorschläge der Kommission Kinderschutz einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Familienverfahrensrechts sowie einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches erarbeitet.
Der Abschlussbericht der Kommission enthält über die in diesen Gesetzentwürfen umgesetzten Empfehlungen hinaus die Empfehlung, Kinderschutzverfahren wissenschaftlich zu evaluieren (Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz, Band I, Seite 145). In familiengerichtlichen Verfahren stellt sich stets die Frage, welche Mittel zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung geeignet sind. Derzeit muss diese Prognose regelhaft ohne wissenschaftlich fundierte Verlaufsuntersuchungen eingeschätzt werden. Entsprechende Verlaufsstudien sind mit Blick auf die Weiterentwicklung der familiengerichtlichen Verfahren - vorbehaltlich der richterlichen Unabhängigkeit - zu befürworten. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse, beispielsweise über die Eignung der gerichtlichen Maßnahmen, können zur Verbesserung und Weiterentwicklung der Kinderschutzverfahren beitragen.
Damit eine Evaluierung von vornherein den Einwand einer Beeinflussung durch regionale Besonderheiten vermeidet, sollten die Verhältnisse im gesamten Bundesgebiet in den Blick genommen werden. Die von der Kommission empfohlene Evaluierung sollte daher auf Bundesebene durchgeführt werden.
Weiter enthält der Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz die Empfehlung, dass Eintragungen im Bundeszentralregister wegen sexualbezogenen Delikten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen nicht mehr der Löschung unterfallen und auch keiner Aufnahmefrist für ein Führungszeugnis unterliegen sollen. Dem Bundestag liegt diesbezüglich seit März 2020 der Gesetzentwurf des Bundesrates "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes - Zeitlich unbegrenzte Aufnahme von Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und anderem in das erweiterte Führungszeugnis" (Bundestagsdrucksache 19/18019 vom 18. März 2020) vor. Um den Schutz von Minderjährigen vor erneuten Übergriffen bereits verurteilter Sexualstraftäter zu verbessern, soll der Bundestag an den Gesetzentwurf erinnert und gebeten werden, sich damit zeitnah zu befassen.