Der Bundesrat hat in seiner 892. Sitzung am 10. Februar 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zur Vorlage allgemein
- 1. Der Bundesrat erkennt an, dass der Verordnungsvorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG einige richtige Ansatzpunkte, wie die Einführung von Qualitätsanforderungen und Mindestkriterien an Bodenabfertiger sowie die geplanten Personalübernahmemöglichkeiten bei einem Wechsel des Anbieters, aufgreift. Er hält den Vorschlag insgesamt in der vorliegenden Form allerdings für nicht geeignet, die Qualität und Sicherheit der Bodenabfertigung an Flughäfen der Union zu verbessern. Denn eine weitere Öffnung des Marktes der Bodenabfertigungsdienste und die übrigen vorgesehenen Regelungen - bis auf die Festlegung von Qualitätsstandards und Mindestausbildungsstandards - lösen erhebliche Betriebsrisiken bei den Bodenabfertigungsdienstleistern und den Flughafenbetreibern aus. Der Bundesrat befürchtet sogar einen Rückschritt durch einen ruinösen Preiskampf durch Lohndumping bei den Bodenabfertigungsdienstleistern.
- 2. Der Bundesrat lehnt deshalb den Verordnungsvorschlag insgesamt aus den folgenden Gründen ab und bittet die Bundesregierung, diese Haltung auf europäischer Ebene zu vertreten.
- 3. Ein Wechsel des Rechtsrahmens ist nicht erforderlich; vielmehr ist der derzeit geltende Rechtsrahmen einer Richtlinie beizubehalten. Der Bundesrat hält im Zusammenhang mit einem Modifizierungsbedarf der Bodenabfertigungsdienstbestimmungen eine Änderung der Richtlinie sowie eine Bereitstellung von Leitlinien für ausreichend. Diese Möglichkeit wird im Übrigen auch in der Begründung zum Verordnungsvorschlag (Nummer 2.3 als "Maßnahmenpaket 1 ") angesprochen.
Artikel 5 ff. (Marktöffnung)
- 4. Die vorgesehene weitere Marktöffnung ist in ihrer Herleitung und in ihrer vorgesehenen Durchführung nicht schlüssig. In der vorgesehenen Weise bestehen überwiegend Risiken, die ohne Not eingegangen werden sollen.
Zunächst ist festzustellen, dass die Bodenabfertigung an den deutschen Flughäfen äußerst zuverlässig und sicher funktioniert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Wettbewerb entsprechend der Marktanteile an den deutschen Flughäfen in ausreichender Form bereits realisiert ist. Bereits heute zeigt die Erfahrung, dass sich neue Wettbewerber wirtschaftlich schwer tun, auskömmliche Marktanteile zu sichern, dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die Bodenabfertigung eine äußerst personalintensive Dienstleistung mit ca. 70 Prozent Personalanteil darstellt. Würde man, wie der vorgelegte Vorschlag es vorsieht, in Form einer verbindlichen Rechtsvorgabe am Marktgeschehen vorbei die Anzahl an zuzulassenden Bodenabfertigungsunternehmen erhöhen, so übte man einen nicht zu rechtfertigenden Wettbewerbsdruck auf die einzelnen Standorte aus. Dies würde die am Wettbewerb teilnehmenden Dienstleister unter einen enormen Preisdruck setzen, der sich allein auf die Reduzierung der Personalkosten fokussieren müsste und ggf. zu einem ruinösen Wettbewerb führte. Es steht zu befürchten, dass diese absehbare Entwicklung zulasten der Belegschaften gehen muss und damit auch die Zuverlässigkeit und Sicherheit bei der Bodenabfertigung gefährdet würde. Die konkreten Wirkungen sind dabei weder im Regelungsvorschlag noch in den Mitgliedstaaten auch nur ansatzweise untersucht worden.
- 5. Schwierigkeiten, mit denen die Auswahlbehörde nach geltendem Recht schon heute konfrontiert ist, werden durch den Verordnungsvorschlag nur teilweise behoben. Es fehlen die Festlegung der zeitlichen Abfolge von Verfahrensschritten sowie eine Sonderregelung, mit der die unpraktikable aufschiebende Wirkung von Klagen aufgehoben wird. Der Verordnungsvorschlag vergibt damit die Chance, im Hinblick auf das Auswahlverfahren wichtige Verbesserungen gegenüber dem heutigen Rechtszustand zu schaffen.
- 6. Das bisherige Vergabekriterium "Höhe der Abfertigungspreise" ist nicht explizit in Artikel 9 Absatz 3 des Verordnungsvorschlags als Vergabekriterium genannt. Diesem Vergabekriterium kommt aber eine besondere Bedeutung zu, da es dem Bewerber nur durch ein Preiselement im Angebot ermöglicht wird, die von ihm angebotene Qualität auch zu einem angemessenen und realistischen Preisniveau darstellen zu können.
- 7. Der Bundesrat hält es für angebracht, dass in den Fällen, in denen die zuständige Behörde die Vergabeentscheidung trifft und im Vorfeld dazu die nach Artikel 9 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags erforderliche Anhörung des Nutzerausschusses am Flughafen und des Leitungsorgans des Flughafens stattfindet, dem Nutzerausschuss und dem Leitungsorgan wie bisher Zugang zu den Geboten der Bieter eingeräumt wird. Der Sachverstand der am Flughafen Tätigen ist für eine objektive und sachgerechte Entscheidung unerlässlich.
- 8. Weiterhin hält es der Bundesrat aus verwaltungsökonomischen Gründen für wichtig, dass in den Fällen, in denen die zuständige Behörde die Vergabeentscheidung trifft, das Ausschreibungsverfahren wie bisher auch durch das Leitungsorgan des Flughafens durchgeführt werden kann. Die Objektivität der Auswahlentscheidung wird dadurch nicht tangiert.
Artikel 29 (Rechtliche Trennung (Legal separation))
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Verordnungsvorschlag erheblich in die unternehmerischen Belange der Flughafenbetreiber eingreifen würde. Er spricht sich daher insbesondere gegen die vorgesehene rechtliche Trennung von Bodenverkehrsdienst- und Zentrale Infrastrukturaktivitäten sowie der Unterauftragsregelung aus.
- 10. Gemäß Artikel 29 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags ist bei Flughäfen, die ein jährliches Verkehrsvolumen von nicht weniger als zwei Millionen Passagieren oder 50.000 t Fracht aufweisen, durch das Leitungsorgan des Flughafens oder den Verwalter/Betreiber der Zentralen Infrastruktur, sofern sie Bodenabfertigungsdienste für Dritte anbieten, eine getrennte juristische Person für die Erbringung dieser Dienste zu schaffen. Gemäß Artikel 29 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags hat diese juristische Person in ihrer Rechtsform, Organisation und Entscheidungsfindung unabhängig zu sein von jeder zur Verwaltung der Infrastruktur des Flughafens in Beziehung stehenden Einheit.
Die Auslegung des Merkmals der Unabhängigkeit ist nicht klar erkennbar. So besteht die Sorge, dass eine strenge Auslegung dieser organisatorischen Trennungsvorschrift nicht mit deutschem Gesellschaftsrecht zu vereinbaren ist (vgl. § 18 Absatz 1 Satz 1 AktG). Der vorgesehene Ansatz geht weit über die "Legalunbundling-Ansätze" im Eisenbahnwesen (Artikel 6 der Richtlinie 091/440/EWG), im Energie- (Artikel 14 der Richtlinie 096/92/EG) sowie im Telekommunikationsbereich (Artikel 11 der Richtlinie 2002/19/EG) hinaus. So statuiert Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie 91/440/EWG ein Wahlrecht; Artikel 29 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags hingegen ordnet die gesellschaftsrechtliche Trennung zwingend an. Auch liegen den Bestrebungen im Eisenbahn-, Energie- und Telekommunikationssektor nur Richtlinien und keine Verordnungen zu Grunde. Diese Regelungsform wird auch in Bezug auf die rechtliche Trennung bei den Bodenabfertigungsdiensten ausdrücklich präferiert, da sie eine gesellschaftsrechtlich harmonische nationale Umsetzung ermöglichen würde.
Artikel 30 (Flughafen als Infrastruktur-Manager)
- 11. Artikel 30 des Verordnungsvorschlags normiert die Verpflichtung der Flughafenbetreiber, für eine sichere sowie krisenfeste BVD-Koordination unter Einhaltung von Minimumqualitätsstandards (Artikel 32) zu sorgen. Es ist zwar zu begrüßen, dass dies ausdrücklich genannt wird. Allerdings geht die vorgesehene Regelung weit über das rechtlich Durchsetzbare hinaus. Denn es gibt keine Rechtsgrundlage, die es dem Flughafenbetreiber ermöglicht, das Innenverhältnis zwischen BVD-Anbietern und seinen Mitarbeitern zu überwachen. So ist zum Beispiel auch die Verpflichtung des Flughafenbetreibers, auf die Einhaltung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 durch die BVD-Anbieter zu achten, rechtlich nicht schlüssig, denn die Verpflichtungen aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 treffen ausschließlich Airlines und nicht Flughäfen.
Artikel 34 (Aus- und Fortbildung)
- 12. Der Bundesrat hält es aus Sicherheitsaspekten und zur Vermeidung von Unfällen zum Schutz der Arbeitnehmer für sehr wichtig, dass jeder Mitarbeiter eine seinen Aufgaben entsprechende relevante Schulung erfahren muss. Allerdings bewertet er die in Artikel 34 des Vorschlags getroffene Regelung, wonach jeder Mitarbeiter eine seinen Aufgaben entsprechende relevante Schulung "von mindestens zweitägiger Dauer" besuchen muss, als nicht ausreichend und nicht geeignet, um die angestrebten Qualitätsverbesserungen zu erreichen.
Artikel 35 (Unterauftragsvergabe (Subcontracting))
- 13. Die avisierte Lösung in Artikel 35 des Verordnungsvorschlags zur Unterauftragsvergabe ist nicht nachvollziehbar, da es den Flughafenbetreibern nicht erlaubt sein soll, Unterauftragsvergabe zu betreiben, Drittanbietern aber schon. Dies erscheint deutlich wettbewerbsverzerrend und widerspricht der Intention des Verordnungsvorschlags auf Stärkung des Wettbewerbs an den Standorten.
Arbeitnehmerrechte
- 14. Mit der derzeit geltenden Richtlinie 96/67/EG, in Deutschland umgesetzt durch die Verordnung über Bodenabfertigungsdienste auf Flugplätzen (BADV), wurde eine Marktöffnung im Bereich der Bodenabfertigungsdienste eingeführt. Der Flugplatzunternehmer hat Selbstabfertigern und Dienstleistern (derzeit mindestens einem) die Erbringung von Bodenabfertigungsdiensten zu ermöglichen. Insbesondere von Arbeitnehmerseite und Gewerkschaften ist diese Marktöffnung erheblich kritisiert worden, da sie zu prekären Beschäftigungsverhältnissen und Lohndumping bei den Bodenabfertigungsdiensten geführt habe. Die Kommission hat u.a. auch zu den sozialen Folgen der Marktöffnung mehrere Studien in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jedoch uneinheitlich sind. Die Kommission räumt - wie auch bisher in Artikel 18 der Richtlinie 96/67/EG - mit dem vorliegenden Vorschlag den Mitgliedstaaten Möglichkeiten ein, die sozialen Arbeitnehmerrechte individuell in jedem Mitgliedstaat zu schützen. Hiervon muss in Deutschland zwingend Gebrauch gemacht werden, da ansonsten Leiharbeit und Arbeit zu Dumpinglöhnen zunehmen und dies zu einem ruinösen Wettbewerb allein über
Arbeitsbedingungen und Lohnkosten führen könnte. Der Bundesrat bittet deshalb die Bundesregierung, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Schutz der Arbeitnehmerrechte zu gewährleisten und zu unterstützen.
Betriebsübergang
- 15. Der Verordnungsvorschlag überlässt die Regelung des Übergangs von Personal den Mitgliedstaaten (vgl. Vorbemerkungen des Vorschlags). Die Bundesrepublik Deutschland hatte zu dieser Problematik eine Regelung in der BADV im Rahmen der Umsetzung der BAD-Richtlinie 96/67/EG vorgesehen, welche jedoch infolge eines Vertragsverletzungsverfahrens wieder gestrichen werden musste. Befürwortet wird eine einheitliche europäische Regelung für den Übergang von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Denn die derzeit bestehende nationale Rechtsgrundlage (§ 613a BGB) ist hier nicht anwendbar.
- 16. Außerdem sollte die Bundesregierung sich im weiteren Verordnungsverfahren dafür einsetzen, dass von der Möglichkeit des Artikels 12 des Verordnungsvorschlags zu Regelungen des Personalübergangs bereits unmittelbar aus der Verordnung entsprechend Artikel 4 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 durch die Vergabestellen ohne weitere Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht werden kann. Damit könnte an dieser Stelle der Tendenz zum weiteren Sozialabbau bei Bodenabfertigungsdiensten auf Flughäfen zum Teil Einhalt geboten werden.
Weiteres
- 17. Im Übrigen verweist der Bundesrat auf seine Stellungnahme vom 17. Juni 2011 (BR-Drucksache 179/11(B) , Ziffer 36), mit dem er sich bereits gegen eine weitere Liberalisierung der Bodenabfertigungsdienste ausgesprochen hat.
Direktzuleitung der Stellungnahme an die Kommission
- 18. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.