891. Sitzung des Bundesrates am 16. Dezember 2011
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Finanzausschuss (Fz), der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (U) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
Zur Vorlage allgemein
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Ziel, die europäische Energieinfrastruktur zu modernisieren und auszubauen. Der Bundesrat betont, dass angesichts des Klimawandels und des weltweit erheblichen Anstiegs anthropogen verursachter CO₂-Emissionen neue Versorgungs- und Transportrouten für Strom und Gas innerhalb der EU entstehen müssen, um alternative Energiequellen zu erschließen und erneuerbare Energien auszubauen. Er verweist auf die gemeinsamen Ziele der EU: Verringerung der Treibhausgasemissionen um 20 Prozent (unter den richtigen Voraussetzungen um 30 Prozent), Verbesserung der Energieeffizienz um 20 Prozent und Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch auf 20 Prozent bis zum Jahr 2020.
- 2. Der Bundesrat begrüßt den Verordnungsvorschlag, mit dem geeignete Rahmenbedingungen für die Marktakteure geschaffen werden können, um den notwendigen Aus- und Umbau der europäischen Energieversorgung voranzutreiben. Der Bundesrat ist der Überzeugung, dass ein koordinierter Ausbau der Energieinfrastruktur auf europäischer Ebene unabdingbare Voraussetzung für das Erreichen des energiepolitischen Ziels einer sicheren, bezahlbaren und klimafreundlichen Energieversorgung sowohl auf europäischer als auch auf mitgliedstaatlicher Ebene ist.
- 3. Angesichts der festgestellten Finanzierungslücken im Energieinfrastrukturbereich begrüßt der Bundesrat die Vorschläge der Kommission, diese Lücken durch neue Finanzierungsinstrumente zu beseitigen und so das Investitionsrisiko zu minimieren. Um Über- und Doppelförderungen zu vermeiden, sollten jedoch bestehende Finanzierungsinstrumente auf europäischer Ebene zunächst evaluiert und ggf. gestärkt und neue Finanzierungsinstrumente sorgfältig auf ihren zusätzlichen Nutzen untersucht werden, bevor diese implementiert werden.
- 4. Der grenzüberschreitende Netzausbau hat zur Sicherung der Versorgung und für die Schaffung eines wirksamen Energiebinnenmarktes eine besondere Bedeutung.
- 5. Der Bundesrat begrüßt auch, dass durch den vorgelegten Vorschlag eine Überarbeitung der Leitlinien, wie sie in der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG enthalten sind, vollzogen werden soll. Eine Überarbeitung dieser Leitlinien kann einen neuen Anstoß geben, um den Ausbau und die Modernisierung grenzüberschreitender Netze zur Vollendung des Energiebinnenmarkts, zur Anbindung isolierter Regionen, zur Entwicklung alternativer Versorgungs- und Transportrouten sowie zur Erschließung alternativer Energiequellen und zum Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben.
- 6. Nach Ansicht des Bundesrates bestehen Zweifel an den Aussagen der Kommission zum Umfang der notwendigen Investitionen in die europäische Energieinfrastruktur. Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, sich gegenüber der Kommission für eine Konkretisierung der Zahlen zum Umfang der notwendigen Investitionen einzusetzen.
- 7. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Finanzierung des als dringend notwendig erkannten Energieinfrastrukturausbaus vornehmlich Aufgabe der Unternehmen ist. Aufgabe der EU und der Mitgliedstaaten ist nach Überzeugung des Bundesrates die politische Begleitung wichtiger Energieinfrastrukturvorhaben und das Schaffen der richtigen Rahmenbedingungen für die Marktakteure. Eine dauerhafte Kofinanzierung von Energieinfrastrukturprojekten auf europäischer Ebene aus EU-Haushaltsmitteln ist aus Sicht des Bundesrates daher nur bei nachweislich unwirtschaftlichen, aber für den europäischen Energiebinnenmarkt unverzichtbaren, Energieinfrastrukturvorhaben hinnehmbar, um Wettbewerbsverzerrungen durch Überförderungen zu vermeiden.
- 8. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, für strenge Kriterien sowohl bei der vorhabensspezifischen Kosten-Nutzen-Analyse für Projekte von gemeinsamem europäischen Interesse als auch bei der Bewertung der kommerziellen Tragfähigkeit dieser Projekte auf europäischer Ebene einzutreten.
- 9. Der Bundesrat unterstützt die von der Kommission vorgesehene regelmäßige Überprüfung der Liste über Vorhaben von gemeinsamem Interesse. Die Netzausbauplanung ist den veränderten Anforderungen regelmäßig anzupassen.
- 10. Aus Sicht des Bundesrates ist es erforderlich, dass die Benennung eines europäischen Koordinators sowie eine etwaige Verlängerung seines jeweiligen Mandats, als Ausdruck der primären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Genehmigungsverfahren, nur im Einvernehmen mit den jeweils betroffenen Mitgliedstaaten erfolgen können.
- 11. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, in den weiteren Verhandlungen darauf hinzuwirken.
- 12. Der Bundesrat ist der Überzeugung, dass der Ausbau der Energieinfrastruktur erheblich beschleunigt werden muss, um den Umbau zu einer weitgehend CO₂- freien Energieversorgung möglichst bald zu schaffen.
- 13. Dies ist eine zwingende Voraussetzung für die Reduktion der Treibhausgasemissionen und den Ausbau der erneuerbaren Energien; hinzu kommt die deutsche Besonderheit des Ausstiegs aus der Kernenergie bis 2022.
Zu den Verfahrensregelungen
- 14. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Kommission mit dem vorgelegten Vorschlag, insbesondere mit den Regelungen in Kapitel III, derart detaillierte Vorgaben macht, dass sich diese in ihrer Gesamtheit nicht mehr auf Grundzüge der im Bereich der transeuropäischen Netze in Betracht gezogenen Aktionen im Sinne des Artikel 171 Absatz 1 1. Spiegelstrich AEUV beschränken.
- 15. Die Verordnung soll "Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur" verbindlich vorgeben. Nach Artikel 171 AEUV "stellt die Union eine Reihe von Leitlinien auf, in denen die Ziele, die Prioritäten und die Grundzüge der im Bereich der transeuropäischen Netze in Betracht gezogenen Aktionen erfasst werden; in diesen Leitlinien werden Vorhaben von gemeinsamen Interessen ausgewiesen". Der Bundesrat befürwortet den Erlass von Leitlinien durch Richtlinienerlass, lehnt jedoch über Artikel 171 AEUV hinausgehende Verordnungsregelungen ab. Das Subsidiaritätsprinzip ist zu beachten, insbesondere bei Vorgaben zu Behördenzuständigkeiten und Verwaltungsverfahren. Föderalen Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland muss ein hinreichender Umsetzungsspielraum verbleiben, um die verfassungsrechtlich garantierte Verwaltungsvollzugshoheit der Länder (Artikel 30 GG) angemessen zu wahren.
- 16. Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, die Regelungsvorschläge auf das für die europäische Koordination und Harmonisierung notwendige Maß zurückzuführen. Das gilt insbesondere für die Vorschläge zu Behördenzuständigkeiten (Artikel 6), die Organisation des Genehmigungsverfahrens (Artikel 9) sowie die Dauer und Durchführung des Genehmigungsverfahrens (Artikel 11). Die Zuständigkeiten und die konkrete Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens bedürfen der Anpassung an die nationalen Rechtssysteme, um einen zügigen Verwaltungsvollzug zu gewährleisten. Der Bundesrat erwartet ferner eine Klärung, in welchen Bereichen eine Straffung der Umweltverträglichkeitsprüfung (Artikel 8 Absatz 4) für notwendig erachtet wird. Änderungen sind angesichts der grenzüberschreitenden Thematik vordringlich in der UVP-Richtlinie selbst vorzunehmen.
- 17. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass die Straffung der Genehmigungsverfahren für Energieinfrastrukturprojekte potentiell einen starken Eingriff in das Planungsrecht der Mitgliedstaaten sowie in die Beteiligungsrechte von Betroffenen und der Öffentlichkeit darstellen kann. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf, sich dafür einzusetzen, dass die verfassungsmäßig garantierte Zuständigkeit der Länder für die Durchführung und Ausgestaltung der Planungs- und Genehmigungsverfahren auch bei Vorhaben von europäischer Bedeutung beachtet wird.
Zu den Artikeln 8, 9 und 10
- 18. Artikel 8 und 9 des Vorschlags beinhalten weitgehende Eingriffe in die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern und in die Verwaltungskompetenzen der für die Genehmigungsverfahren zuständigen Körperschaften.
Insbesondere verlangt Artikel 8 Absatz 3, dass den Vorhaben von gemeinsamem Interesse von allen betroffenen Behörden hinsichtlich der zugewiesenen Ressourcen in größtmöglichem Umfang bevorzugte Behandlung eingeräumt wird. Neben dem Ausbau der Übertragungsnetze darf der Ausbau der Verteilnetze vor dem Hintergrund des verstärkten Angebots an dezentral erzeugtem Strom aus erneuerbarer Energie nicht vernachlässigt werden. Die in Rede stehende Bestimmung des Verordnungsvorschlags zielt aber auf eine derartige abzulehnende einseitige Prioritätensetzung für die Verwaltungsressourcen. Die Vorschrift sollte deshalb gestrichen werden.
- 19. Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b entspricht nicht der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern bei der Planfeststellung von Leitungen des Übertragungsnetzes. Eine Aufhebung von Entscheidungen zuständiger Planfeststellungsbehörden der Länder durch eine zentrale Bundesbehörde widerspricht den Grundsätzen der föderalen Ordnung, die eine Aufsicht des Bundes nur in Ausnahmefällen zulässt. Die Vorschrift sollte daher gestrichen werden.
- 20. Die in Artikel 9 Absatz 4 festgelegte Anforderung zur Behandlung von Rechtsmitteln ist in ihrer Reichweite unklar und bedarf der Konkretisierung. Es sollte in der Formulierung klargestellt werden, dass weder ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Gerichte beabsichtigt ist noch die Rechtsschutzmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger beschränkt werden sollen.
- 21. Im Übrigen hält der Bundesrat die im Verordnungsvorschlag enthaltenen Instrumente zur Schaffung einer effektiven europäischen Energieinfrastruktur für unzureichend. So verlangt der Verordnungsvorschlag ein gestrafftes Genehmigungsverfahren, das innerhalb einer bestimmten Frist abzuschließen ist und von einer nationalen Behörde koordiniert wird. Ferner werden so genannte prioritäre Vorhaben definiert (Vorrangstatus). Gegenstand des Verordnungsvorschlags sind also in erster Linie Verfahrens- oder Organisationsfragen.
Daher hält es der Bundesrat für nicht zielführend, dass die materiellen Standards, denen die fraglichen Vorhaben unterliegen, nicht an diesen Vorrangstatus angepasst werden. Materiellrechtlich bewirkt der Verordnungsvorschlag demnach keine wesentliche Erleichterung. Besonders deutlich wird dies an Artikel 8 Absatz 5: Im Hinblick auf die Anforderungen der FFH- sowie der Wasserrahmenrichtlinie der EU sollen die Vorhaben zwar im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen; allerdings soll dies ausdrücklich nicht die materiellen Voraussetzungen dieser Vorschriften berühren. Insofern bleibt der Verordnungsvorschlag ambivalent. Überdies bleibt unverändert eine Kommissionsstellungnahme nach Artikel 6 Absatz 4 Unterabsatz 2 der FFH-Richtlinie 92/43/EG notwendig, obwohl die Kommission die Liste der Vorhaben von gemeinsamem Interesse erstellen soll. Dies ist eine unnötige Doppelprüfung.
Indem für die Dauer der Genehmigungsverfahren Fristen vorgesehen werden, wird die Verantwortung für die Straffung der Verfahren vor allem den Genehmigungsbehörden zugewiesen, welche ihre Verwaltungspraxis an dem Vorrangstatus ausrichten sollen. Die zumal von der EU gesetzten materiellen Standards werden demgegenüber im Wesentlichen beibehalten. Insofern blendet der Verordnungsvorschlag die tatsächlichen Probleme der Verwaltungspraxis aus. Die Vorlage gibt daher nach Auffassung des Bundesrates eine Verfahrensstraffung vor, ohne in der Sache eine echte Hilfestellung anzubieten.
- 22. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass im Hinblick auf den dringend erforderlichen Netzausbau eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren sowie eine Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich sind.
- 23. Die im Verordnungsvorschlag gegenüber der heutigen Rechtslage deutlich frühere und breitere Öffentlichkeitsbeteiligung (Konsultation) sieht der Bundesrat als zielführend im Sinne einer Erhöhung der Akzeptanz für Infrastrukturprojekte an; denn der Kreis der zu Konsultierenden ist nicht auf solche Personen beschränkt, welche eigene Belange geltend machen. Zudem erfolgt die Konsultation zeitlich vor Einreichung der Antragsunterlagen. Darin liegen wesentliche begrüßenswerte Unterschiede zum deutschen Planfeststellungsrecht nach derzeitiger Rechtslage.
Zum Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht
- 24. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, auf eine angemessene Ausgestaltung der europäischen Vorgaben hinzuwirken. Es wird darauf hingewiesen, dass Deutschland mit dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) das Planungs- und Genehmigungsverfahren für Übertragungsstromnetze völlig neu gestaltet und erheblich beschleunigt hat. Das Verfahren gliedert sich in eine Bundesfachplanung und eine Planfeststellung und unterliegt zahlreichen Behördenfristen. Als Verfahrensinstrumente der Beschleunigung sind zudem neue Instrumente, zum Beispiel der Projektmanager, die Antragskonferenz und die Abschichtung der Umweltverträglichkeitsprüfung, eingeführt worden. Die Verordnungsvorschläge stellen diese Neuerungen wieder in Frage. Zweifel bestehen, ob der europäische Vorschlag, das Genehmigungsverfahren in ein zweijähriges Vorantragsverfahren und ein einjähriges formales Genehmigungsverfahren zu unterteilen, vorzugswürdig und praxisgeeignet ist.
Zu den Anhängen
- 25. Nach Ansicht des Bundesrates bedarf es auch einer Überprüfung der im Kommissionsvorschlag ausgewiesenen vorrangigen Energieinfrastrukturkorridore und -gebiete (Anhang I) sowie der Energieinfrastrukturkategorien (Anhang II). Der Vorschlag legt den Fokus auf eine Energieinfrastruktur für fossile Energieträger und soll "die Nutzung fossiler Brennstoffe ermöglichen, die in den nächsten Jahrzehnten eine wichtige Stromerzeugungsquelle bleiben werden" (BR-Drucksache 653/11 (PDF), Seite 4). Eine Vereinbarkeit mit den energie- und klimaschutzpolitischen Zielen der EU muss dabei allerdings sichergestellt werden.
- 26. Der Bundesrat lehnt insbesondere die Einbeziehung der CO₂-Infrastruktur ab. Es besteht die Befürchtung, dass die Schaffung einer europaweiten Infrastruktur mit einem Finanzvolumen von 2,5 Milliarden Euro faktisch zu einem endgültigen Einstieg in die CCS-Technologie führt, ohne dass absehbar ist, ob die CCS-Technologie wirtschaftlich betrieben werden kann und zudem umwelt- und gesellschaftsverträglich ist. Ein Bedarf an CO₂-Infrastruktur kann in der Phase der Technologieerprobung an regionalen CO₂-Netzen für konkrete Projekte entstehen, sofern diese in einem Mitgliedstaat zugelassen sind bzw. werden.
Weiteres
- 27. Der Bundesrat sieht durch die engen Vorgaben zu den Verwaltungsabläufen die Gefahr, dass die Haushalte der Länder zusätzlich belastet werden, da die Vorgaben möglicherweise nur mit zusätzlich einzustellendem Personal eingehalten werden können.
- 28. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, sich dafür einzusetzen, den Vorgaben ihren bindenden Charakter zu nehmen.
B
- 29. Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.