Der Bundesrat hat in seiner 865. Sitzung am 18. Dezember 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Allgemeines
- 1. Der Bundesrat erkennt grundsätzlich die Bemühungen der EU an, die Asylsysteme in den Mitgliedstaaten, soweit dies nach Abschluss der "ersten Phase" des Haager Programms geboten ist, weiter zu harmonisieren. Die Vereinheitlichung der nationalen Asylverfahren kann dazu beitragen, Sekundärbewegungen von Asylbewerbern innerhalb der EU zu verringern.
- 2. Der Bundesrat betont jedoch, dass Bemühungen, die auf die einheitliche und vollständige Anwendung der geltenden europäischen Mindeststandards der ersten Harmonisierungsphase in allen Mitgliedstaaten hinwirken, vorrangig sein müssen gegenüber dem mit dem Vorschlag verfolgten Ziel der Kommission, gleichermaßen höhere wie einheitlichere Schutzstandards zu gewährleisten.
- 3. Ungeachtet dessen ist der Bundesrat besorgt, dass angesichts des neuen Zeitplans für den Abschluss der zweiten Phase der Asylrechtsharmonisierung bis 2012, der die Annahme der betreffenden Rechtsakte vor Ende 2010 voraussetzt, ein übereiltes EU-Rechtsetzungsverfahren stattfinden könnte. Der Bundesrat erachtet es daher als notwendig, den Zeitplan den aktuellen Gegebenheiten anzupassen, damit die Schnelligkeit der Arbeit nicht zu Lasten der Qualität geht. Eine derartige Vorgehensweise ist auch im Interesse kohärenter Regelungen angebracht, weil die sich zurzeit auf europäischer Ebene in der Beratung befindlichen Rechtsakte aus dem Asylpaket I vom 3. Dezember 2008 (siehe jeweils BR-Drucksache 961/08 (PDF) , 962/08 (PDF) und 965/08 (PDF) ) wesentliche Strukturen festlegen, die Wirkungen auf die nun vorgelegten Regelungen des Asylpakets II (das den hier zur Beratung anstehenden Vorschlag sowie den Vorschlag KOM (2009) 551 endg., BR-Drucksache 791/09 (PDF) umfasst) haben.
- 4. Der Bundesrat ist darüber hinaus der Auffassung, dass eine verfahrensrechtliche Gleichstellung für Personen, die subsidiären Schutz beantragt haben, weder erforderlich noch angezeigt ist. Die bisherige Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Antragstellern auf subsidiären Schutz ist insbesondere wegen der leistungsrechtlichen Folgen und der unterschiedlichen Kostenträgerschaft sachlich begründet.
- 5. Der Bundesrat weist auf die in Deutschland bestehende Zuständigkeitsverteilung hin und hält das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für die geeignete Behörde, das Verfahren zur Prüfung des Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes zur Sicherung bundeseinheitlicher Maßstäbe wahrzunehmen.
- 6. Der Vorschlag der Kommission weitet die Verfahrensgarantien für Asylbewerber erheblich aus und sieht die Streichung zahlreicher Vorschriften vor, die der Beschleunigung des Asylverfahrens dienen, mit der Folge, dass Asylverfahren schwerfälliger und kostenintensiver werden. In diesem Zusammenhang betont der Bundesrat erneut, dass bei einer weiteren Angleichung der Verfahrensregeln Überlegungen zu effizienteren, schnelleren und somit auch kostengünstigeren Asylverfahren in den Vordergrund und gerade nicht bewährte Regelungen zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung in Frage zu stellen sind. Dies gilt insbesondere für spezielle nationale Verfahren wie das "Flughafenverfahren" und das beschleunigte Asylverfahren bei offensichtlich unbegründeten Anträgen. Der drohenden Aufweichung dieser bewährten Asylstandards durch EU-Regelungen ist entschieden entgegenzuwirken.
- 7. Die geplante Ausdehnung der Verfahrensstandards auf Asylbewerber im Dublin-Verfahren lehnt der Bundesrat ab. Im Dublin-Verfahren geht es um die rasche und effiziente Ermittlung des für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaats. Die materielle Prüfung des Asylbegehrens, innerhalb dessen die Asylverfahrensrichtlinie ein faires Verfahren gewährleisten soll, erfolgt in der Verantwortung des zuständigen Staates erst nach Abschluss des Dublin-Verfahrens.
Zu Artikel 18
- 8. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die im Richtlinienvorschlag vorgesehene unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung auch für erstinstanzliche Verfahren das Erstentscheidungsverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) umfassen würde. Gegenwärtig wird in Deutschland erst nach der Entscheidung des BAMF im Verfahren vor einem Verwaltungsgericht gegebenenfalls Prozesskostenhilfe gewährt. Mit der Neuregelung dürften erhebliche Mehrkosten verbunden sein, von denen nicht absehbar ist, ob sie durch die Länder zu tragen sind. Zudem ist nicht erkennbar, welcher konkrete Mehrwert für die Schutzsuchenden mit dieser Regelung verbunden wäre. Das formelle Verfahren beim BAMF besteht für Schutzsuchende im Wesentlichen darin, das eigene Verfolgungsschicksal zu schildern. Durch die Verfahrensrichtlinie wird bereits geregelt, den Betroffenen in diesem Zusammenhang alle notwendigen Hilfen (Dolmetscher, ggf. Befragung durch Personen gleichen Geschlechts usw.) zukommen zu lassen. Einer unbedingten Notwendigkeit um Unterstützung durch eine Rechtsberatung oder einen Rechtsvertreter bedarf es in diesem Verfahrensabschnitt daher nach Auffassung des Bundesrates nicht.
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Streichung des (bisher in Artikel 15 Absatz 3 Buchstabe d der Richtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Asylverfahrensrichtlinie)) geregelten Erfordernisses in Artikel 18 Absatz 3 des Richtlinienvorschlags, dass unentgeltliche Rechtsberatung nur bei hinreichenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs gewährt wird, in Widerspruch zum deutschen Prozesskostenhilferecht ( § 114 Satz 1 ZPO) steht. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die bestehende Regelung beibehalten werden sollte.
Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, im weiteren Verfahren darauf hinzuwirken, dass in Artikel 18 Absatz 3 des Richtlinienvorschlags eine der Regelung des Artikels 15 Absatz 3 Buchstabe d der Asylverfahrensrichtlinie entsprechende Bestimmung aufgenommen wird.
- 10. Der Bundesrat weist weiter darauf hin, dass der Richtlinienvorschlag dazu führen würde, dass in Verfahren nach Kapitel III Rechtsberatung schon dann unentgeltlich zu gewähren ist, wenn der Antragsteller nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt (Artikel 18 Absatz 3 Buchstabe a). Anders als die bestehende Vorschrift des nationalen Rechts zur Beratungshilfe (§ 2 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 in Verbindung mit § 1 Absatz 1 Nummer 3 BerHG) fordert der Richtlinienvorschlag nicht einen Ausschluss der Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung. Der Verzicht auf diese die Gewährung von Beratungshilfe begrenzende Voraussetzung würde zu einer Erhöhung der von den Ländern zu tragenden Kosten in diesem Bereich führen.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, im weiteren Verlauf der Rechtssetzung auf europäischer Ebene dafür Sorge zu tragen, dass die Gewährung von unentgeltlicher Rechtsberatung in Verfahren nach Kapitel III des Richtlinienvorschlags auch erfordert, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht mutwillig erscheint.
Zu Artikel 24
- 11. Die beabsichtigte Regelung, dass ein Antragsteller nach förmlicher Einstellung einer Antragsprüfung unter anderem wegen Nichtbetreiben des Verfahrens oder Untertauchen zu einem späteren Zeitpunkt berechtigt sein soll, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen, wird durch den Bundesrat kritisch beurteilt. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb ein Verfahren, dass aus vom Schutzsuchenden selbst zu vertretenden Gründen eingestellt wurde, später wiedereröffnet werden soll. In diesen Fällen ist es nach Auffassung des Bundesrates ausreichend, auf die Möglichkeit einer Folgeantragstellung zu verweisen. Diese Vorgehensweise entspräche sehr viel mehr der Zielsetzung der Richtlinie, Verfahren effizient und wirtschaftlich durchzuführen.
Zu Artikel 27
- 12. Der Bundesrat begrüßt die Einführung einer allgemeinen Frist von sechs Monaten für die Klärung des Schutzstatus im erstinstanzlichen Verfahren. Durch eine schnelle Antragsprüfung und die Herbeiführung einer bestandskräftigen Schlussentscheidung kann zugleich der faktischen Aufenthaltsverfestigung von abgelehnten Asylbewerbern wirksam begegnet werden.
Zu Artikel 32 ff
- 13. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Beibehaltung der "Gemeinsamen Minimalliste der als sichere Herkunftsstaaten geltenden Drittstaaten" ein Instrument sein könnte, das die EU-weite Einheitlichkeit der asylrechtlichen Entscheidungen fördert. Der Bundesrat regt an, die Bundesregierung möge prüfen, ob an Stelle der bisherigen, laut EuGH-Urteil vom 6. Mai 2008 (C-133/06) nichtigen Bestimmung nicht Durchführungsbefugnisse in der Form an den Rat übertragen werden können, dass ihm weiterhin die letztendliche Entscheidung über die in die Liste aufzunehmenden Staaten obliegt (Artikel 290, 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union).
Zu Artikel 41
- 14. Nach dem Vorschlag der Kommission sollen Antragsteller bis zur Entscheidung über einen Rechtsbehelf grundsätzlich im Mitgliedstaat verbleiben dürfen.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass Artikel 41 Absatz 5 des Richtlinienvorschlags im Widerspruch zu dem nationalen Asylrecht ( § 75 AsylVfG) steht, wonach Klagen gegen Entscheidungen grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben. Der Vorschlag wird vom Bundesrat abgelehnt. Der Bundesrat ist vielmehr der Auffassung, dass der bestehenden deutschen Regelung aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung der Vorzug zu geben ist.
Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, im weiteren Verfahren darauf hinzuwirken, dass Artikel 41 Absatz 5 des Richtlinienvorschlags gestrichen wird.
- 15. Der Bundesrat weist darauf hin, dass Artikel 41 Absatz 9 des Richtlinienvorschlags die Festlegung von gerichtlichen Entscheidungsfristen auch für erstinstanzliche Hauptsacheverfahren festlegt. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass diese weitere, über die bisherigen Fristenregelungen im einstweiligen Rechtsschutz hinausgehende Beschränkung des richterlichen Entscheidungsspielraums unterbleiben sollte.
Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, im weiteren Verfahren darauf hinzuwirken, dass die bisher in Artikel 39 Absatz 4 der Richtlinie 2005/85/EG enthaltene Regelung beibehalten wird.
- 16. In jedem Fall müsste dem Gericht eine Fristverlängerung ermöglicht werden, wenn dies im Einzelfall mit Blick auf die Besonderheiten des Verfahrens erforderlich ist. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen weitere Sachverhaltsermittlungen notwendig werden. Auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens kann zu einer wesentlichen Verzögerung des gerichtlichen Verfahrens führen, auf deren Dauer das Gericht nur sehr begrenzt Einfluss nehmen kann. Eine zwingende gesetzliche Frist für das gerichtliche Verfahren könnte daher im Ergebnis zu einer künstlichen Verkürzung des Gerichtsverfahrens ohne erschöpfende Sachverhaltsermittlung führen. Dies widerspräche gerade der Zielsetzung des Richtlinienvorschlags, eine Verbesserung der Standards zu erreichen.