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Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 1302
"Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe"
Stand 6/1985
(BArbBl. 6/1985)
Zur Übersicht in Anlage 1 der BKV
Wissenschaftlichen Stellungnahme (07/2013)
Die Halogenkohlenwasserstoffe (Verbindungen von Kohlenwasserstoffen mit Fluor, Chlor, Brom, Jod) sind eine heterogene Gruppe zahlreicher organischer Verbindungen, die auch in toxikologischer Hinsicht uneinheitlich sind. Halogenkohlenwasserstoffe werden industriell vielseitig verwendet, teilweise auch als Stoffgemische, was die Beurteilung der gesundheitlichen Gefährdung erschwert. Man findet sie auch vielfach als Verunreinigung technischer Produkte. Der Einsatz halogenierter Kohlenwasserstoffe erfolgt vorrangig als Lösemittel, ferner in der Landwirtschaft (Pflanzenschutz, Schädlingsbekämpfung), in der Kühltechnik, als Feuerlöschmittel und im häuslichen Bereich. Wegen der Vielfalt ihrer Anwendung und der stark unterschiedlichen Toxizität einzelner Verbindungen können im folgenden nur Schwerpunkte, ergänzt durch einige weiterführende Hinweise, behandelt werden.
I. Gefahrenquelle
Die nachfolgende Gliederung der Halogenkohlenwasserstoffe nach Anwendungsgebieten soll den praktischen Gegebenheiten Rechnung tragen. Die Anwendungsbereiche können sich überschneiden. Die genannten aliphatischen und cyclischen Halogenkohlenwasserstoffe sind wichtige Beispiele; ihre Aufzählung ist nicht als vollständig anzusehen. Probleme können sich durch Gemische, Verunreinigungen, Stabilisatoren, Weichmacher, Härter und andere Zuschlagstoffe ergeben.
Gefahrenquellen sind das Herstellen, Abfüllen, Verpacken, Transportieren und Anwenden der nachfolgend genannten chemischen Verbindungen insbesondere als:
1.1 Lösemittel
Halogenierte Lösemittel sind in der Mehrzahl leicht flüchtig, angenehm riechend und schwer entzündbar. Ihre Dämpfe sind schwerer als Luft (Anreicherung in Bodenvertiefungen!).
Zu den heute meistbenutzten Lösemittel zählen das Dichlormethan (Methylenchlorid, CH2Cl2), das 1,1,1-Trichlorethan (CCl3CH3), das Trichlorethen (CCl2= CHCl, früher Trichloräthylen, umgangssprachlich "Tri") und das Tetrachlorethen (CCl2= CCl2" früher Tetrachloräthylen oder Perchloräthylen, umgangssprachlich "Per"). Seltener sind das hochtoxische 1,1,2-Trichlorethan und das 1,1,2,2-Tetrachlorethan. In besonderen Bereichen werden Trichlormethan (Chloroform CHCl3) und Tetrachlormethan (CCl4" Tetrachlorkohlenstoff, umgangssprachlich "Tetra") eingesetzt. Trotz der unterschiedlichen Toxität werden im Sprachgebrauch zuweilen Tetrachlorkohlenstoff, Tetrachlorethan und Tetrachlorethen mit der Abkürzung "Tetra" bezeichnet.
Tetrachlorethen ist eines der am häufigsten verwendeten Lösemittel in der Chemischreinigung. Auch Fluorkohlenwasserstoffe (z.B. R 11 = Trichlorfluormethan, CCl3F und R 113 = 1,1,2-Trichlor-1,2,2-trifluorethan, Cl2FC-CF2Cl) werden dort gelegentlich eingesetzt.
Einwirkungen sind auch bei anderen Tätigkeiten möglich, z.B. beim Terrazzo-Schleifen und Fluatieren durch Trichlorethen und Tetrachlorethen.
1.2 Schädlingsbekämpfungsmittel (Pesticide)
Zur Bekämpfung von Insekten (auch Ameisen), Spinnmilben, Würmern und Nagetieren sowie als Saatbeizmittel werden toxikologisch sehr unterschiedliche Stoffe verwendet. Gasförmig ist
In fester Form liegen vor
Die früher häufig verwendeten Insekticide Dichlor-Diphenyl-Trichlorethan (DDT), Dieldrin sowie einige halogenierte Propan- und Propenverbindungen sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zugelassen; ihr Vorkommen ist jedoch nicht auszuschließen.
1.3 Kältemittel, Treibgase für Aerosole, Trennmittel
Einige chlorierte Fluorkohlenwasserstoffe der Methan- und Ethanreihe werden wegen ihres niedrigen Siedepunktes, ihrer relativen Ungiftigkeit und chemischen Widerstandsfähigkeit in Aggregaten für die Erzeugung von Kälte sowie als Treibmittel für Aerosole und Plastikschäume verwendet. Zum Trennen von Formen bei der Kunststoff- und Schaumstoffherstellung werden diese Stoffe ebenfalls eingesetzt. Sie sind unter Handelsnamen wie "Frigene", "Freone", "Kaltron ", "Arklone"...... "Algofrene", "Flugene" bekannt. Wichtigste Vertreter (Bezeichnung nach DIN 8962) sind
Brommethan und Chlormethan sind ungleich toxischer, werden heute aber selten verwendet.
1.4 Feuerlöschmittel
Halogenierte Kohlenwasserstoffe werden derzeit als Brom-Chlor-Fluorkohlenwasserstoffe (z.B. "Halon 1211", CF2ClBr, Bromchlordifluormethan) und als Bromtrifluormethan ("Halon 1301", CBRF3) zum Löschen brennender flüssiger oder gasförmiger Stoffe, auch in elektrischen Anlagen, herangezogen. Der Einsatz von Tetrachlormethan ist in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 1.3.1964, der von Bromchlormethan seit dem 1.1.1975 verboten.
1.5 Syntheseausgangsstoffe und Zwischenprodukte in der chemischen Industrie
1.6 Isoliermittel in der Elektroindustrie
Isoliermittel, auch in Transformatoren und Kondensatoren
1.7 Narkose und Desinfektionsmittel, vorwiegend im medizinischen und hygienischen Bereich
Narkosernittel wie
Desinfektionsmittel und Mittel zur Geruchsverbesserung ("Toilettensteine"):
II. Pathophysiologie
Die Gesundheitsgefährdung wird auch bei den Halogenkohlenwasserstoffen wesentlich durch deren jeweilige Toxizität sowie Intensität und Dauer der Exposition bestimmt. Dabei sind speziell Flüchtigkeit, Lipoidlöslichkeit, Resorption, Verteilung, Metabolismus und Elimination von Bedeutung. Halogenierte Kohlenwasserstoffe wirken durch lokalen Kontakt oder nach erfolgter Resorption unterschiedlich stark gesundheitsschädigend. Insbesondere werden durch eine Reihe von ihnen das Zentralnervensystem, Leber und Niere betroffen.
Die Aufnahme erfolgt vorwiegend über die Atemwege, z. T. auch über die Haut. Bei direkter Einwirkung auf Haut und Schleimhäute können lokale Reizwirkungen auftreten, z.B. an den Konjunktiven und im Respirationstrakt. Durch Kontakt mit Lösemitteln wird die Haut entfettet und es kann zu Dermatosen (degenerativen Ekzemen etc.) kommen.
Halogenkohlenwasserstoffe können zu Störungen im Zentralnervensystem führen, die alle Stadien einer Narkose (Erregung, Bewußtseinstrübung und -verlust) bis hin zum Tode durchlaufen können. Die narkotische Wirkung beruht wesentlich auf ihrer hohen Lipoidlöslichkeit. Einige Lösemittel besitzen euphorisierende Wirkung, die mit Suchtgefahr verbunden ist (z.B. "Tri-Sucht", "Schnüffler").
Viele industriell verwendete Fluorkohlenwasserstoffe sind im Organismus außerordentlich stabil und werden größtenteils unverändert wieder abgeatmet. Chlor- und Bromverbindungen werden hingegen oxidativ oder reduktiv dehalogeniert. Die entstehenden Metabolite entscheiden über die Giftigkeit der Ausgangssubstanz. Zwei Wirkmechanismen werden diskutiert: Die Bildung von Epoxiden bei halogenierten Olefinen, ferner die Entstehung freier Radikale nach Abspaltung eines Chloratoms (z.B. bei Tetrachlorkohlenstoff.) durch die Monooxygenasen der Leberzelle und weitere biochemische Mechanismen reaktiver Metabolite (z.B. metabolische Bildung von Phosgen aus Chloroform). Als weitere Möglichkeit kommt die direkte Alkylierung im Falle reaktiver Halogenverbindungen (z.B. Allylchlorid, Allylbromid, Brommethan) in Frage. Es entwickeln sich Veränderungen an verschiedenen subzellulären Bestandteilen, die zu Zellschädigungen (z.B. an Leber, Niere und Nervensystem) führen können. Aus Dichlormethan wird metabolisch Kohlenmonoxid gebildet.
Das wenig metabolisierbare 1,1,1-Trichlorethan findet häufig anstelle von Tri- und Tetrachlorethen Verwendung. Die Wirkung von zugesetzten Stabilisatoren (s. u.) ist zu berücksichtigen. Dem 1,1,1-Trichlorethan gegenüber ist das 1,1,2-Trichlorethan sehr toxisch, insbesondere für Herz, Leber und Niere.
Vinylchlorid wird über die Zwischenstufen Chlorethenoxid und Chloracetaldehyd zu den überwiegend im Urin erscheinenden Metaboliten Thiodiessigsäure und 2-Hydroxyethylmerkaptursäure abgebaut. Das Stoffwechselprodukt Chlorethenoxid vermag Nukleinsäuren zu alkylieren und gilt als nach Vinylchloridexposition ultimal wirkendes Karzinogen. Bei einer Reihe weiterer halogenierter Kohlenwasserstoffe ist der Verdacht auf Kanzerogenität zu beachten.
Der Abbau von Trichlorethen geht über eine Umwandlung in Chloralhydrat, das einerseits zu Trichloressigsäure oxidiert und andererseits zu Trichlorethanol reduziert wird. Trichloressigsäure und das Glukuronid des Trichlorethanols werden als Hauptmetabolite unterschiedlich schnell im Harn ausgeschieden.
Viele, insbesondere als Insekticide verwendete Halogenkohlenwasserstoffe reichern sich infolge ihrer guten Lipoidlöslichkeit und hohen Beständigkeit gegenüber metabolisierenden Enzymen im Gewebe an. Noch länger als z.B. "DDT" persistiert (über Jahre und Jahrzehnte) sein Metabolit Dichlordiphenyldichlorethen ("DDE"). Einige chlorierte Kohlenwasserstoffe zeigen in hohen Gewebskonzentrationen eine Fähigkeit zur Enzyminduktion unspezifischer Oxygenasen der Leber, deren pathogenetische Bedeutung heute noch nicht abgeschätzt werden kann.
III. Krankheitsbild und Diagnose
Der Heterogenität der Halogenkohlenwasserstoffe entsprechen unterschiedliche akute und/oder chronische Krankheitsbilder.
Die durch Lösemittel verursachte Entfettung der Haut begünstigt lokale Infektionen und Ekzeme. Nach Benetzung mit direkt alkylierenden Verbindungen kommt es in schweren Fällen zur Blasenbildung. Symptomatische kutane Porphyrien wurden nach Aufnahme von Hexachlorbenzol beobachtet. Chlorphenole und Chlornaphtaline können an der Haut akneähnliche Effloreszenzen ("Chlorakne", "Perna-Krankheit") hervorrufen. Auch polychlorierte Biphenyle haben bei akzidentellen akuten Intoxikationen zu ähnlichen Gesundheitsstörungen ("Yusho") geführt. Heute wird jedoch zumeist davon ausgegangen, daß die Chlorakne nicht direkt auf die hier genannten Verbindungen zurückgeht, sondern auf Verunreinigungen oder sekundäre Bildung hochtoxischer Stoffe wie 2,3,7,8-Tetrachlor-dibenzo-para-dioxin ("TCDD") (s. BK Nr. 1310). Bei der Herstellung von Chlorkautschuk kann es durch Einwirkungen von Chloropren zu vorübergehendem Haarausfall kommen.
Typische Anzeichen einer akuten oder subakuten Vergiftung mit Halogenkohlenwasserstoffen sind Symptome von seiten des Zentralnervensystems wie Benommenheit, Kopfschmerz, Schwindel, Somnolenz sowie psychische Alterationen. Einzelfälle chronischer Vergiftungserscheinungen in Form peripherer Neuritiden (toxische Neuropathie) oder einer retrobulbären Neuritis sind bekanntgeworden. Ausgesprochen neurotoxisch wirken die Monohalogenmethane Chlor-, Brom- und Jodmethan. Stark narkotisch wirken Tri- und Tetrachlormethan, 1,2-Dichlorethan, Tetrachlorethan sowie Tri- und Tetrachlorethen. Neurologische Symptome stehen auch bei Intoxikationen mit den insekticid wirkenden chlorierten Kohlenwasserstoffen (z.B. Lindan oder DDT) im Vordergrund: Beschrieben werden in diesen Fällen Unruhe, Parästhesien im Mundbereich, Hyperästesien im Gesicht und an den Extremitäten, Reizbarkeit, Lichtscheu, Schwindel und Übelkeit, Kopfschmerzen, Sprachstörungen, Verwirrtheit und akute enzephalotoxische Reaktionen in Form von Tremor, tonisch-klonischen Krämpfen sowie komatösen Zwischenperioden. Der Tod kann durch Atemlähmung, Herzrhythmusstörungen oder zentrales Kreislaufversagen auch noch nach Wochen eintreten. Nach überlebten schweren Intoxikationen sind Polyneuropathien beobachtet worden.
Die Lebertoxizität von Halogenkohlenwasserstoffen mit hepatotoxischer Wirkung äußert sich in einer Vergrößerung des Organs, Anstieg der Transaminasen im Serum und in unterschiedlichen histologischen Bildern. Die Lebertoxizität steigt etwa in der Reihenfolge Dichlorrnethan (Methylenchlorid) - 1,1,1-Trichlorethan - Trichlorethen ("Tri") -- Tetrachlorethen ("Per") - 1,1,2,2-Tetrachlorethan - Trichlormethan (Chloroform) - Dichlorethan - 1,1,2-Trichlorethan Tetrachlormethan ("Tetra"). Die Abgrenzung zum alimentären Alkoholschaden ist schwierig. Folgezustände einer infektiösen Hepatitis sind ebenfalls zu berücksichtigen.
Vergiftungen mit Trichlorethen und anderen chlorierten Lösernitteln können Reizbildungs- und Reizleitungsstörungen des Herzens hervorrufen.
Einige Halogenkohlenwasserstoffe können Beeinträchtigungen der Nierenfunktion verursachen, z.B. Chloroform, 1,1,2-Trichlorethan, Tetrachlorkohlenstoff und Dichloracetylen.
Leber- und Nierenschäden können auch nach langfristiger Exposition gegenüber geringen Konzentrationen von Halogenkohlenwasserstoffen auftreten.
Vinylchlorid besitzt eine krebserzeugende Wirkung (Hämangioendothelsarkom der Leber). Außerdem kann es zu einer Raynaudartigen Symptomatik sowie zu sklerodermieartigen Hautveränderungen und zu Akroosteolysen an den Fingern führen. Des weiteren wurden Thrombozytopenien, Leberfunktionsstörungen, Leber- und Milzvergrößerung sowie portale Fibrose z. T. mit Ösophagusvarizen beobachtet.
IV. Weitere Hinweise
Bestimmten Halogenkohlenwasserstoffen werden Stabilisatoren zur Vermeidung der Selbstzersetzung oder chemischer Reaktionen mit Leichtmetallegierungen bei der Entfettung zugesetzt. Besonders beim wenig toxischen 1,1,1-Trichlorethan, das heute als Ersatz für Trichlorethen verwendet wird, kann der Stabilisatoranteil mehrere Prozent betragen. Während früher häufig aliphatische Amine und Phenolderivate (darunter auch das allergene Butylhydroxytoluol, "BHT") eingesetzt worden sind, wurden später auch Stabilisatorensysteme verwendet, die karzinogene Epoxide enthielten. Besonders bei Halogenkohlenwasserstoffen und Redestillaten (Regeneraten) unbekannter Herkunft ist auf diese Möglichkeit zu achten. Der Verdacht, daß Trichlorethen ("Tri") krebserzeugend sei, hat sich nicht bestätigt.
Eingehende Untersuchungen zeigten, daß chemisch reines "Tri" keine kanzerogene Potenz besitzt, sondern vielmehr bestimmte Stabilisatoren, z.B. Epichlorhydrin.
Unter Einwirkung hoher Temperaturen, beispielsweise in der Schweißflamme, an heißen Oberflächen oder in der Zigarettenglut können hochtoxische Zersetzungsprodukte von Halogenkohlenwasserstoffen entstehen. Die Halogenkohlenwasserstoffe sowie die meisten Kohlenstoffoxihalogenide (Säurehalogenide) wirken stark ätzend auf die Atemwege. Phosgen (Carbonylchlorid, COCl2 ruft nach Einatmung, meist nach mehrstündiger Latenz, durch Störungen des Zellstoffwechsels ein toxisches Lungenödem hervor (s. BK Nr. 4302).
Alkoholkonsum verstärkt die Giftwirkung der meisten Halogenkohlenwasserstoffe.
Der Nachweis von Halogenkohlenwasserstoffen und ihren Metaboliten im biologischen Material erfolgt mit der Gaschromatografie oder der Hochdruckflüssigkeits-Chromatografie. Für eine Reihe dieser Stoffe gibt es BAT-Werte (Biologische Arbeitsstoff-Toleranzwerte).
Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-Aryl-Oxide und die entsprechenden -sulfide sind gesondert unter BK Nr. 13 10 und 13 11 in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt.
V. Literatur
ENDE