Für einen individuellen Ausdruck passen Sie bitte die Einstellungen in der Druckvorschau Ihres Browsers an. Regelwerk Arbeitsschutz; Arbeits- und Sozialrecht |
Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2106
"Druckschädigung der Nerven"
Stand:
September 2001
(BArbBl. 9/2001 S. 59)
Zur Übersicht in der Anlage 1 der BKV
Wissenschaftlichen Begründung (08/2001)
Wissenschaftliche Stellungnahme (08/2017)
Wissenschaftlichen Begründung Carpaltunnel-Syndrom (05/2009)
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung - Sektion "Berufskrankheiten" - empfiehlt, den bisherigen Wortlaut der Legaldefinition der Berufskrankheit 2106 "Drucklähmung der Nerven" in "Druckschädigung der Nerven" zu ändern.
Diese Empfehlung wird wie folgt begründet:
1. Aktueller Erkenntnisstand
1.1. Biomechanische und pathophysiologische Charakteristik der ursächlich schädigenden Einwirkung
Nerven können sowohl akut als auch chronisch durch mechanische Druckeinwirkungen geschädigt werden. Es kann sich dabei um eine einmalige Druckeinwirkung oder um sich wiederholende Druckbelastungen handeln (Armstrong 1979, Erdil 1994, Plancher 1996). Druckeinwirkungen können von der Körperaußenseite her auf den Nerv einwirken oder es kann sich um Druckeinwirkungen auf den Nerven innerhalb einer intakten Körperhülle handeln (z.B. Anschwellungen des Weichteilgewebes, Dehnungsvorgänge). Im Weiteren sollen nur diejenigen Druckeinwirkungen betrachtet werden, die aufgrund ihrer Charakteristik einen diagnostizierbaren und evtl. bleibenden Nervenschaden hervorrufen.
Nicht Gegenstand dieser Berufskrankheit sind akute traumatische Nervenschädigungen, das Carpaltunnel-Syndrom (CTS, auch Karpaltunnelsyndrom) bzw. Nervenschäden durch bestimmte Erkrankungen, die über andere Berufskrankheiten erfasst sind (z.B. bandscheibenbedingte Erkrankungen der Hals- oder Lendenwirbelsäule).
1.2. Vorkommen und Gefahrenquellen
Eine arbeitsbedingte Druckschädigung eines Nerven im Sinne dieser Berufskrankheit setzt eine sich wiederholende mechanische und durch Druck schädigende Einwirkung voraus. Betroffen sind meist relativ oberflächlich verlaufende Nerven, die einer von außen kommenden anhaltenden Einwirkung gut zugänglich sind (Lahoda 1988, Rompe 1998, Gelberman 1993). Eine Druckschädigung ist auch dann möglich, wenn ein Nerv diesen wiederholten mechanischen Einwirkungen aufgrund einer anatomischen Enge nicht genügend ausweichen kann, z.B. über einer knöchernen Unterlage, innerhalb eines knöchernen oder fibrösen Kanals (z.B. Sulcus-ulnaris-Syndrom) oder an Sehnenkreuzungen (Debrunner 1988, Plancher 1996). Es können sowohl motorische als auch sensorische Nerven oder Nervenanteile geschädigt werden (Mumenthaler 1980 und 1988, Poeck 1996, Debrunner 1988, Gelberman 1993).
Gefährdend sind vor allem Tätigkeiten mit körperlichen Zwangshaltungen, Haltungskonstanz, einseitigen Belastungen oder Arbeiten mit hohen Repetitionsraten (Rompe 1992, Zeller 1992, Lederman 1995, Löffler 1996, Yassi 1997, Gross 1999).
Als Gefahrenquellen kommen sich ständig wiederholende, gleichartige Körperbewegungen im Sinne von mechanischen Überbelastungen (Menger 1992), überwiegend haltungskonstante Arbeiten mit nicht oder nur schwer korrigierbaren Zwangshaltungen, z.B. Daueraufstützen des Handgelenkes oder der Ellbogen, Andrucken eines Werkzeuges oder bestimmte Gelenkstellungen, die längere Zeit beibehalten werden müssen (Dupuis 1989) sowie Überbeanspruchung von Muskeln mit nachfolgender Druckeinwirkung auf Nerven (Rompe 1992) infrage.
Weiterhin wurden als Schädigungsmechanismen beschrieben:
Schäden können ebenso durch das Ausüben bestimmter Sportarten hervorgerufen werden (Shea 1969, Menger 1992, Plancher 1996). Dies ist sowohl von ätiologischem Interesse als auch beim berufsmäßigen Ausüben bestimmter Sportarten zu beachten (z.B. Radfahrer, Golfer, Kegler, Reiter).
1.3. Kenntnisse zur Wirkung am Menschen
1.3.1. Pathomechanismen
Kennzeichnend für das Vorliegen einer Berufskrankheit gemäß dieser Begründung ist eine eindeutige Beziehung zwischen der Lokalisation des einwirkenden Drucks und dem anatomisch zuzuordnenden klinisch-neurologischen Befund. Der periphere Nerv reagiert relativ uniform auf unterschiedliche Noxen und bei jeder Nervenläsion ist die Nervenleitung gestört. Eine spontane Wiederherstellung der Nervenleitung hängt von Art und Ausmaß der Läsion und der Beseitigung der schädigenden Einwirkung ab.
Für Druckschädigungen der Nerven wurden folgende physiologische Unterscheidungen getroffen:
Jede Druckschädigung am peripheren Nerv beginnt mit einer Neurapraxie. Bei chronischem oder intermittierendem Weiterwirken der Druckbelastung kommt es jedoch zum umschriebenen Untergang der Myelinscheide (segmentale Demyelinisierung); dieses nosologisch typische Stadium ist in der o. g. Klassifizierung nicht erfasst. Gleichzeitig oder später kann es zur Axonotmesis kommen. Eine Neurotmesis ist nicht zu erwarten.
Mehrfachen und unterschiedlich lokalisierten Einwirkungen auf den Nerven, sog. Double-Crush-Syndromen, wird ein kumulativer Effekt zugeschrieben (Upton 1973, Mackinnon 1992). Ein geringfügiger proximal lokalisierter Druck, der allein nicht ausreicht, um einen Schaden zu verursachen, kann die Empfindlichkeit der distal gelegenen Nervenanteile gegenüber Druck deutlich erhöhen (Simpson 1996).
1.3.1.1. Histologisches Bild und Pathophysiologie
Die histologischen Veränderungen der Nervenfasern können vielfältig sein: Quellung und Invagination der Myelinscheide mit Absplitterung der äußeren Lamellen, Senkung des Serum-Plasmalogengehaltes in der Myelinscheide und Auflösung des Axons durch Lysophosphatide, Entmischung und Verklumpung des Axoplasmas, diffuse Granulierung der axonalen Mitochondrien, Aufnahme von Markfragmenten in das Zytoplasma der Schwann´schen Scheide sowie das Auftreten von Fettkörnchenzellen und Bildung von Markballen (Lahoda 1988, Tackmann 1989).
Druck- oder Zugeinwirkungen verursachen mechanische Deformationen in den direkt betroffenen Nervenoberflächen und in den Übergangsbereichen zwischen druckbelasteten und unbelasteten Zonen. Der intrazelluläre axonale Stoffwechsel wird ebenso gestört wie die Durchlässigkeit intraneuraler Blutgefäße. Ein Ansteigen des intraneuralen interstitiellen Druckes und Veränderungen der intraneuralen Mikrozirkulation kann im Experiment schon bei relativen geringen Drucken beobachtet werden. Steigender Druck und länger anhaltende Druckbelastungen verursachen Struktur- und Funktionsveränderungen der peripher gelegenen Nervenanteile und der Nervenzellkörper (Gelberman 1993).
1.3.2. Krankheitsbilder und Diagnosen
Das typische pathophysiologische und klinische Bild einer durch Druck verursachten Nervenschädigung ist ein Nebeneinander von segmentaler De- und Remyeliniserung. Betroffen sein können die Nervenwurzel, ein Plexusbereich (z.B. Plexus cervicalis, Plexus brachialis, Plexus lumbosa-cralis) und periphere Nerven (Rosenbaum 1994). Isolierte Ausfälle peripherer Nerven (Mononeuropathien) haben nahezu immer mechanische Ursachen (Debrunner 1988). Unterbrechungen im peripheren motorischen Neuron zwischen der Vorderhornzelle und der Endaufzweigung des Neuriten führen zu einer schlaffen Lähmung, deren Symptomatik vom Schweregrad der Schädigung abhängig ist. Frühsymptome sind Reizerscheinungen, Sensibilitätsstörungen und Kraftminderung in den betroffenen Regionen. Bei fortgeschrittener Schädigung sind Muskelhypotonie und -atrophie sowie ausgeprägte Paresen oder Paralysen zu beobachten.
Bei Druckschädigungen von Nerven werden typischerweise schon in frühen Stadien anamnestische Angaben über "Kribbeln, pelziges Gefühl, Ameisenlaufen, eingeschlafener Körperteil etc." oder "allgemeines Ermüdungsgefühl" gemacht. Insbesondere bei Kompressionssyndromen finden sich ebenfalls schon früh Schmerzen im Versorgungsgebiet des Nerven. Diese treten häufig auch in Ruhe und nachts auf und können über den unmittelbar schädigenden Druckbereich hinausgehen. Typischerweise finden sich bei diesen Nervenläsionen auffällige elektromyographische und elektroneurographische Befunde, beispielsweise eine herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeit (Gelberman 1993, Johnson 1993, Ross 1995).
Folgende Sensibilitätsstörungen sind zu unterscheiden:
Meist bestehen Reiz- und Ausfallsymptome sowie trophische Störungen nebeneinander. Partielle Leitungsstörungen sind bei arbeitsbedingten Druckschädigungen kaum zu erwarten. Bei Plexusschäden oder Läsionen peripherer Nerven, die auch autonome Fasern führen, ist auch mit Reiz- oder Ausfallserscheinungen der vegetativen Innervation zu rechnen. Eine vollständige Unterbrechung eines peripheren Nerven verursacht dann beispielsweise eine Anhidrose. Die Symptome sind auf das Versorgungsgebiet des jeweiligen Nerven begrenzt und besitzen somit hohe diagnostische Bedeutung (Poeck 1996, Lahoda 1988, Hopf 1993). Histologisch ist zu beachten, dass aufgrund der Markscheidenveränderungen die Symptomatik über der Bereich der unmittelbaren Druckeinwirkung hinausreichen kann.
Weitere mögliche Symptome sind ohne wertende Rangfolge in Tabelle 1 aufgelistet.
Tab. 1 Symptome bei Nervenschäden
|
Nachfolgend werden beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit für betroffene Nerven (N) die typischen morphologischen Schädigungsmöglichkeiten, ggf. mit Hinweisen auf anatomische Varianten (V), und bekannte arbeitsbedingte Belastungen (B) sowie ggf. bestimmte Krankheitsbilder aufgelistet.
1.3.2.1. Nervenschäden an der oberen Extremität
N.: | Armplexusschaden im Wurzelbereich (C4) C5 - Th1 ("thoracic outlet"-Syndrom) |
V.: | Engpassproblematik im Bereich der Skalenuslücken, der kostoklavikulären Passage und/oder des Korakoids |
B.: | Lastendruck auf der Schulter, Lastenzug am Arm, repetitive Abduktions- und Adduktionsbewegungen im Schultergelenk, Überkopfarbeiten mit nach hinten gestrecktem Arm, Spielen von Streichinstrumenten (Erdil 1994, Feldman 1983, Leahy 1992, Lederman 1995, Menger 1992, Mumenthaler 1980 u.1993, Simpson 1996, Yassi 1997 u. 2000) |
N.: | N.axillaris |
V.: | Einengung der lateralen Achsellücke |
B.: | Passiver Druck in der Axilla durch Hebel (Anto 1996, Leahy 1992, Menger 1992, Mumenthaler 1980) |
N.: | N.medianus (mit Ausnahme des Carpaltunnel Syndroms) |
V.: | Beeinträchtigung der A. brachialis und des Muskelbauches des M. brachialis, suprakondyläre Prozesse ("Struthers ligament"), M. pronator teres, Muskelkopf M. flexor pollicis longus, M. interosseus anterior. Wird der Nerv in der Ellenbeuge oder proximal davon geschädigt, fallen die Hand- und die langen Fingerbeuger aus ("Schwurhand"). |
Bei einer Schädigung distal der Ellenbeuge kommt es vorwiegend zu Sensibilitäts- und vegetativ-trophischen Störungen, aber auch zu motorischen Störungen. | |
B.: | Pronatorteres-Syndrom: Repetitive Pro- und Supinationsbewegungen bei gleichzeitigen repetitiven Fingerbewegungen, insbesondere Fingerflexion
Interosseus-anterior-Syndrom (Kiloh-Nevin): Forcierte Pronation mit gleichzeitiger Beugung, Tragen von Lasten auf dem gebeugten Unterarm (Anto 1996, Erdil 1994, Feldman 1983, Gelbermann 1993, Hopf 1993, Ivins 1996, Leahy 1992, Lewit 1992, Menger 1992, Mumenthaler 1980, 1988 u. 1993, Simpson 1996, Tackmann 1989) |
N.: | N. musculocutaneus |
V.: | Meist im Rahmen einer Armplexusschädigung |
B.: | Tragen schwerer Lasten, am gebeugten Unterarm hängendes Gewicht, exzessives fortlaufendes Schrauben (Menger 1992) |
N.: | N. radialis |
V.: | Axilla, Humerusschaft, M. triceps brachii, Radialistunnel .bzw. M.supinator (Supinatorsyndrom), Kompression des Ramus superficialis N. radialis. Wird der Nerv proximal der Ellenbeuge geschädigt, finden sich muskuläre Störungen bei der Unterarmstreckung bis zu einem Totalausfall, Sensibilitätsauffälligkeiten und Supinationsstörungen ("Fallhand"). Beim Supinatorsyndrom finden sich motorische Ausfalle der Hand- und Fingerstrecker, aber keine Sensibilitätsausfälle. |
B.: | Axilla und Oberarmkompression: Druck von Hebeln ("Krückenlähmung"), chronische Überbeanspruchung des M. triceps brachii, z.B. bei Maurern, Zimmerleuten |
Supinatorsyndrom: Repetitive Pro- und Supinationsbewegungen bei extendiertem Ellbogengelenk | |
Ramus superficialis (Cheiralgia paraesthetica): Repetitive Pro- und Supination mit Drehbewegungen, z.B. Wickeln, Blumenbinden; Druck auf den Unterarm bei gestrecktem Handgelenk, z.B. Steinetragen, Spielen von Tasteninstrumenten etc. (Anto 1996, Debrunner 1988, Gelbermann 1993, Hopf 1993, Menger 1992, Mumenthaler 1980, 1988 u. 1993, Poeck 1996, Roquelaure 2000, Tackmann 1989) | |
N.: | N. supraseapularis |
V.: | Relative Fixation des Nerven in der Incisura scapulae mit mechanischem Reibungsschaden |
B.: | Repetitive kombinierte Außen/Innenrotationsbewegungen in Abduktion zur Gegenseite, z.B. Spielen von Musikinstrumenten, repetitive Überkopfarbeiten, einseitiges Heben und Tragen schwerer Lasten über der Schulter (Anto 1996, Feldmeier 1988, Lederman 1995, Menger 1992, Mumenthaler 1980) |
N.: | N. thoracicus longus |
V.: | Untere Armplexusschädigung (C8, Th1) oder klavikulärer Engpass |
B.: | Tragen starrer und schwerer Lasten auf den Schultern ("Rucksacklähmung"), Arbeiten im Liegen mit Zwangshaltungen (z.B. Untertage), wuchtige Schläge mit schwerem Werkzeug (Anto 1996, Mumenthaler 1980) |
N.: | N. ulnaris |
V.: | Medialer Epikondylus bzw. Sulcus ulnaris, Muskelkopf M. flexor carpi ulnaris (Kubitaltunnelsyndrom), Guyon´sche Loge. Die motorischen Ausfälle bei Nervenschädigungen proximal des Handgelenkes sind unter dem Begriff "Krallenhand" bekannt. |
B.: | Sulcus-ulnaris-Syndrom: von außen einwirkender Druck, z.B. bei aufgestützem Ellbogen, Friktionstrauma im Sulcus durch repetitive Flexion und Extension im Ellbogengelenk, z.B. bei Pianisten, Bläsern und Saiteninstrumentalisten |
Kubitaltunnel-Syndrom: Repetitive Bewegungen im Ellbogengelenk und Druckeinwirkungen am proximalen Unterarm bei gebeugtem Ellbogengelenk, z.B. Hämmern, Heben/Tragen | |
Guyon'sche Loge: Druck von Arbeitsmitteln im Hohlhandbereich, gelegentlich mit Hyperextension im Handgelenksbereich verbunden, z.B. Kristallglasschleifer, Elektronikarbeiter, Kellner (Anto 1996, Erdil 1994, Feldman 1983, Feldmeier 1988, Gelbermann 1993, Hopf 1993, Ivins 1996, Leahy 1992, Ledermann 1995, Löffler 1996, Lukas 1986, Mumenthaler 1980 u.1993, Schäcke 1986, Schuppert 1999, Shea 1969, Simpson 1996, Tackmann 1989, Yassi 2000, Zeiss 1992) |
1.3.2.2. Nervenschäden an der unteren Extremität
N.: | Beinplexusschaden im Wurzelbereich Th12 - S5 |
V.: | N. ilioinguinalis beim Durchtritt durch die Mm. transversus abdominis und obliquus internus abdominis, N. cutaneus femoris lateralis, N.obturatorius, N. ischiadicus |
B.: | Anhaltende Ventralbeugung des Rumpfes, anhaltend angespannte Bauchmuskulatur, Hyperflexion oder Hyperextension im Hüftgelenk, selten Druckparesen des N. ischiadicus, z.B. bei Reitern (Menger 1992, Poeck 1996, Seyfert 1993) |
N.: | N. tibialis |
V.: | Kompression unter dem Retinaculum flexorum (Tarsaltunnelsyndrom) |
B.: | Enges Schuhwerk, langes Gehen unter Belastung, repetitive Fußbeugung und -streckung, z.B. Pedalbetätigungen, Arbeiten im Knien mit zurückgelegter Körperhaltung, Arbeiten im Sitzen mit hängenden Beinen (Feldman 1983, Menger 1992, Poeck 1996) |
N.: | N. peronaeus (N. fibularis) |
V.: | Oberflächliche Lage des Nerven am Capitulum fibulae |
B.: | Hocken und Knien, z.B. Fliesenlegen, Asphaltieren; längerdauernde Kälteexposition (Debrunner 1988, Menger 1992) |
1.3.2.3. Sonstige Nervenschäden
N.: | N. facialis, N. trigeminus |
V.: | Druckneuropathie |
B.: | Druckbelastungen im Versorgungsbereich des Nerven, z.B. beim Gebrauch von Blasinstrumenten, Ansatzstörung, fokale Dystonie (Lederman 1995, Schuppen 1999, Zeller 1992) |
1.4. Differentialdiagnostische Erwägungen
Nichtarbeitsbedingte Ursachen für Nervenschädigungen müssen ggf. ausgeschlossen werden. Beim Zusammenwirken von arbeitsbedingten und nichtarbeitsbedingten Faktoren muß deren jeweilige Bedeutung abgewogen werden. Die wichtigsten differentialdiagnostischen Erwägungen zur Druckschädigung von Nerven sind in Tab. 2 zusammengefasst.
Tab. 2 Differentialdiagnostische Überlegungen
|
(Debrunner 1988, Lahoda 1988, Rompe 1992, Neundörfer 1992, Hopf 1993, Seyfert 1993, Erdil 1994, Rosenbaum 1994, Lederman 1995, Ivins 1996, Bingham 1997, Poeck 1996, Yassi 1997)
2. Validität und Reliabilität der vorliegenden Erkenntnisse
Es gibt eine Vielzahl epidemiologischer Erkenntnisse zu arbeitsbedingten Nervenschäden, allerdings befaßt sich ein Großteil neuerer Publikationen mit bestimmten Stoffeinwirkungen (Aluminium, Mangan, Blei etc.) und daraus resultierenden Nervenschäden (z.B. Sjögren 1996, Yeh 1995) oder mit dem Auftreten eines Carpaltunnel-Syndroms (Übersicht bei Hagberg 1992 und Gerhardt 1996). Diese Publikationen finden im folgenden keine Bewertung.
Nilsson (1994) vergleicht in einer Querschnittsstudie insgesamt 179 Metallarbeiter mit Vibrationstätigkeiten und Büroangestellte ohne derartige Arbeiten. Die Untersuchung zeigt einerseits, daß Vibrationseinflüsse von ergonomisch-biomechanischen Faktoren nicht oder nur sehr schwer zu trennen sind, daß aber andererseits druckbedingte Nervenschäden durch ergonomisch-biomechanische Belastungen wie Greifen mit hohem Kraftaufwand oder extreme Handpositionen auch ohne zusätzliche Vibrationen verursacht werden.
Analoge Hinweise finden sich auch in der vergleichenden Untersuchung von Brismar (1992) bei Arbeitern mit Vibrationsbelastung im Vergleich zu Arbeitern mit Heben und Tragen schwerer Lasten.
Für Nervenkompressionssyndrome in der Guyon';schen Loge liegen vereinzelt Kasuistiken, zusammenfassende Arbeiten oder sonstige Hinweise vor (Mumenthaler 1980, Tackmann 1989, Löffler 1996). Diese Literaturhinweise lassen Analogieschlüsse zu einer arbeitsbezogenen Verursachung zu.
Roquelaure und Co-Autoren (2000) weisen in einer Fall-Kontroll-Studie mit 21 Fällen und ebensovielen nach Alter und Geschlecht vergleichbaren Kontrollpersonen aus 3 unterschiedlichen Fabriken in Frankreich (TV-Geräteherstellung, Schuhfabrikation und Fahrzeugbremsenproduktion) auf die Notwendigkeit hin, bei der Diagnose einer Epikondylitis bzw. eines CTS differentialdiagnostisch auch an ein Radialtunnel-Syndrom (RTS) zu denken, d.h. an eine mögliche Druckschädigung des N. radials beim Durchtritt durch den M. supinator. Das Bewegen von Lasten über 1 kg mit der Hand mehr als 10 mal in der Stunde, längerdauernde statische Belastung des Unterarms und der Hand sowie vorwiegend supinierte Arbeitshaltungen mit gestrecktem Ellbogen, z.B. beim Halten von Werkzeugen sind in dieser Untersuchungen als die drei wesentlichsten arbeitsbedingten Risikofaktoren für ein RTS benannt. Kein Zusammenhang wurde für repetitive Arbeitsaufgaben beschrieben.
Nervenschäden aufgrund physikalischer Schädigungsfaktoren wie repetitive Tätigkeiten mit hohen Wiederholungsraten, z.B. bei Arbeiten mit einer PC-Tastatur, ungünstigen Körperhaltungen und Vibrationen sind häufig zusätzlich mit muskuloskelettalen Beschwerden vergesellschaftet (McFarland 1998, Novak 1998, Gross 1999). Dies kann eine direkte Kausalitätsbeurteilung im Einzelfall schwierig machen und dadurch auch die Einflußnahme durch ergonomische Gestaltungsmaßnahmen relativieren (Amell 1998). Auch Yassi (2000) weist in einer Übersichtsarbeit zu arbeitsbedingten muskuloskelettalen Beschwerden auf diesen Umstand hin. Er führt weiter aus, dass in der Literatur oft auch Nervenschäden unter dem Oberbegriff "musculoskeletal disorders" erfasst werden. Dabei werden im Allgemeinen weniger bestimmte Berufszuordnungen diskutiert, als vielmehr unterschiedliche Tätigkeiten und Arbeitshaltungen beschrieben, wie beispielsweise arbeitsbedingte Ulnar- oder Radialdeviation im Handgelenksbereich, repetitive Arbeiten über Schulter- oder Armhöhe, längeres Lastentragen auf einer Körperseite, Tragen von Rucksäcken oder Lasten auf der Schulter usw.
Ein mittlerweile im Hinblick auf druckverursachte Nervenschäden gut untersuchtes Berufsfeld sind Berufsmusiker. Lederman (1995) kann anhand einer Untersuchung von 640 Instrumentalmusikern (Streicher, Pianisten, Holz- und Blechblasinstrumente, Zupfinstrumente, Perkussionsinstrumente) fast alle Formen der Nervenkompressionsyndrome sowie auch Druckneuropathien, z.B. an den Nn.digitales, aufzeigen (Tab. 3). Das Zusammentreffen von kraftintensiven und repetitiven Arm-, Hand- und Fingerbewegungen mit häufig ungünstigen Körperpositionen wird als eine der Hauptursachen angesehen. Druckneuropathien werden auch als Ursache von Blasansatzstörungen bei Blechblasinstrumentalisten betrachtet (Schuppert 1999, Zeller 1992 u. 1996).
Tab. 3 Nervenkompressionssyndrome bei 640 Musikern (Lederman 1995)
Anzahl | ||
Thoracic outlet | 45 | |
N.medianus | 40 | |
davon Karpaltunnel | 35 | |
andere | 5 | |
N. ulnaris | 33 | |
davon Ellenbogen | 29 | |
andere | 4 | |
Cervicale Wurzelreizung | 14 | |
Fingernerven | 7 | |
N. radialis | 2 | |
Sonstige | 2 | |
Summe | 143 |
Das konsequente Vermeiden der schädigenden Druckbelastungen und eine entsprechende Umstellung der Arbeitsgewohnheiten und Arbeitstechniken können zu einer dauerhaften Beschwerdelinderung oder Heilung führen (Mumenthaler 1987, Rompe 1992, Hopf 1993, Poeck 1996).
Die vorliegenden arbeitsmedizinischen Erkenntnisse und epidemiologische Untersuchungsdaten sind in sich schlüssig und plausibel. Ergänzt und bestätigt werden diese Daten außerdem durch Veröffentlichungen aus chirurgischen, orthopädischen, neurologischen und sportmedizinischen Fachgebieten. Durch diese Untersuchungen kann gut belegt werden, daß Druckschädigungen der Nerven durch eine Vielzahl arbeitsbedingter Einflußfaktoren verursacht oder wesentlich mitverursacht werden können. Eine sorgfältige Einzelfallprüfung auf objektivierbare und reproduzierbare neurologische und neurophysiologische Parameter, differentialdiagnostische Überlegungen sowie eine sorgfältige Arbeitsanamnese sind unentbehrlich, um eine eindeutige Diagnose vor allem im Hinblick auf eine arbeitsbedingte Ursache stellen zu können. Die Expositionsvermeidung mit Ausschaltung der schädigenden Druckbelastung ist für die Heilung bzw. für die Besserung der Symptome unerläßlich.
3. Abgrenzung bestimmter Personengruppen
In der Literatur lassen sich Hinweise auf vermehrt betroffene Berufsgruppen finden, z. B Berufsmusiker, Schleifer, Metzger, Lebensmittelhändler, Beschäftigte in der Tiefkühlkostherstellung, Supermarktkassiererinnen und Bodenreiniger. Zusätzlich gibt es zahlreiche Verweise auf bestimmte schädigende berufliche Expositionsfaktoren (z.B. großer Kraftaufwand bei Greifbewegungen, repetitve Bewegungen im Handgelenk, gebeugtes bzw. überstrecktes Handgelenk). Diese Expositionsfaktoren treten in den untersuchten Berufsgruppen vermehrt auf, sind aber auch bei einer Vielzahl anderer Tätigkeiten zu finden.
4. Literatur
Anto C., Aradhya P.: Clinical diagnosis of peripheral nerve compression in the upper extremity
Orthopedic Clinics of North America, 1996, 27(2), 227-236
Amell T.K., Kumar S.: Cumulative trauma disorders and keyboarding work
Int J Ind Ergonom 1998, 25, 69-78
Armstrong T.J., Chaffin DB.: Some biomechanical aspects of the carpal tunnel
J Biomech 1979, 2, 567
Ashbury F.D.: Occupational repetitive strain injuries and gender in Ontario 1986-1991
J Occ Environ Med 1995, 37, 479-485
Bingham R.C., Rosecrance J.C., Cook Th.: Prevalence of abnormal
Median nerve conduction in applicants for industrial jobs Am J Ind Med 1996, 30, 355-361
Brismar T., Ekenvall L.: Nerve-conduction in the hands of vibration exposed workers
Electroencephalog Clin Neurophys 1992, 85(3), 173-176
Debrunner A.M.: Orthopädie
Verlag Huber Verlag Bern 1988
Dupuis H.:Körperhaltung in: Konietzko J., Dupuis H.: Handbuch der Arbeitsmedizin,
Ecomed Verlag Landsberg 1989
Erdil M., Dickerson O.B., Glackin E.: Cumulative trauma disorders of the upper extremity in: Zenz C., Dickerson O.B., Horvath E.P.: Occupational Medicine, Mosby St. Louis 1994
Feldman R.G., Goldman W., Kayserman M.: Classical syndromes in occupational medicine. Peripheral nerve entrapment syndromes and ergonomic factors Am J Ind Med 1983, 4, 661-681
Feldmeier Ch.: Verletzungen und Schäden der Hand
Zuckschwerdt Verlag München 1988
Gelberman R., Eaton R., Urbaniak J.: Peripheral nerve compression
J Bone Jt Surg Ser A, 1993, 75(12), 1854-1878
Gerhardt R.H. Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und dem Auftreten des Carpaltunnel-Syndroms - eine Literaturübersicht Medizinische Inauguraldissertation, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz 1996
Gross P.T., Tolomeo E.A.: Proximal median neuropathies
Neurol Clin 1999, 17(3), 425-445
Hagberg M., Morgenstern H., Kelsh M.: Impact of occupations and job tasks on the prevalence of carpal tunnel syndrome Scand J Work Environ Health 1992, 18, 337-345
Hopf H. Ch., Poeck K., Schliack H. (Hrgs.): Neurologie in Klinik und Praxis Band III
Thieme Verlag Stuttgart New York 1993
Ivins G. K., Fulton MO.: Supracondylarprocess syndrome: a case report
J Hand Surg 1996, 21(2), 279-28 1
Johnson E.W.: Diagnosis of carpal tunnel syndrome: the gold standard
Am J Phys med Rehabil 1993, 72 (1), 1
Lahoda F.: Neurologische Untersuchung in der Praxis - Erkrankungen des peripheren Nervensystems
5. Auflage Einhorn-Presse Verlag Reinbek 1988
Leahy P.M., Mock III L.E.: Myofascial release technique and mechanical compromise of peripheral nerve of the upper extremity Chiropractic Sports Medicine 1992, 6(4), 139-150
Lederman R.J.: Neurologische Probleme in: Blum J. (Hrsg.): Medizinische Probleme bei Musikern
Thieme Verlag Stuttgart New York 1995
Lewit K.: Manuelle Medizin
6. überarb. u. erg. Auflage, Barth Verlag Leipzig 1992
Löffler M., Kukowski B., Exsternbrink T., Emde B.: Das Nervenkompressionssyndrom der Guyonschen Loge, gutacherliche Kausalbeurteilung als Variante der Berufskrankheit Nr 2106 BeKV - ein kasuistischer Beitrag
Zbl Arbeitsmed 1996, 46, 220-224
Luka´s E., Simko A.: Exogene und endogene Ursachen der Ulnarisparese in: Schäcke G. et al (Hrsg): Berufliche Schädigung des Nervus ulnaris
Dr. Curt Haefner Verlag Heidelberg 1986
Mackinnon SE.: Double and multiple "crush" syndromes
Hand Clin 1992, 8, 389
Magun R.: Drucklähmungen der Nerven in: Baader W. (Hrsg.): Handbuch der gesamten Arbeitsmedizin
Urban und Schwarzenberg Berlin München Wien 1961
Masuhr K.F.: Neurologie
Hippokrates Verlag Stuttgart 1989
McFarland EG., Curl L.A.: Shoulder problems in musicians
Maryland Med J 1998, 47(1), 19-22
Menger H.: Affektionen peripherer Nerven im Sport
Dt Z Sportmed 1992,43 (2), 44-58
Merkblatt zur ärztlichen Untersuchung zu Nr. 2106 der Anlage 1 zur BeKV
in: Berufskrankheiten Merkblätter, Düringshofen Verlag Berlin 1988
Mumenthaler M. (Hrsg.): Der Schulter-Arm-Schmerz - Leitfaden für die Praxis
Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien 1980
Mumenthaler M., Schliack H.: Läsionen peripherer Nerven
6. Auflage Thieme Verlag Stuttgart New York 1993
Mumenthaler M.: Klinische Untersuchung und Analyse neurologischer Syndrome
Thieme Verlag Stuttgart New York 1988
Neundörfer B., Claus D.: Periphere Nervenerkrankungen und ihre berufliche Verursachung - Teil 1
Arbeitsmed Sozialmed Präventivmed 1992, 27, 357-363
Nilsson T., Hagberg M., Burström L., Kihlberg S.: Impaired nerve conduction in the carpal tunnel of platers and truck assemblers exposed to hand-arm vibration
Scand J Work Environ Health 1994, 20, 189-199
Novak Ch.B., Mackinnon S.: Nerve injury in repetitive motion disorders
Clin Orthop Rel Diseas 1998, 351, 10-20
Plancher K.D., Peterson RK., Streichen J.B.: Compressive neuropathies and tendinopathies in the athletic elbow and wrist Clinics in Sports Medicine 1996, 15(2), 331-371
Poeck K.: Neurologie
9. neubearbeitete Auflage, Springer Verlag Berlin 1996
Rompe G., Erlenkämper A.: Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane
Thieme Verlag Stuttgart, 2. Aufl. 1992
Roquelaure Y., Raimbeau G., Dano C., Martin YH., Pelier-Cady C., Mechali S., Benetti F., Mariel J., Fanello S., Penneau-Fontbonne D.: Occupational rsik facorts for radial tunnel syndrome in industrial workers
Scand J Environ Health 2000, 26(6), 507-513
Rosenbaum R.B., Donaldson J.O.: Peripheral nerve and neuromuscular disorders
Neurologie Clinics 1994, 12(3), 461-478
Ross M., Kimura J.: AAEM case report #2: the carpal tunnel syndrome Muscle and Nerve 1995, 18, 567-573
Schäcke G., Wolff H.J.: Die Schädigung des Nervus ulnaris in verschiedenen Berufen in: Schäcke G. et al (Hrsg): Berufliche Schädigung des Nervus ulnaris Dr. Curt Haefner Verlag Heidelberg 1986
Schuppert M., Altenmüller E.: Berufsspezifische Erkrankungen bei Musikern
Versicherungsmedizin (1999), 51(4), 173-179
Seddon J.H.: Three types of nerve injury Brain 1943, 66, 237
Seyfert S., Schliack H.: Läsionen der langen Beinnerven in: Hopf H.Ch., Poeck K., Schliack H. (Hrgs.): Neurologie in Klinik und Praxis Band III Thieme Verlag Stuttgart New York 1993
Shea J.D., McClain F.J.: Ulnar Nerve Compression Syndromes at and below the Wrist
J Bone It Surg 51 A(1969), 1095
Simpson R.L., Fern S.A.: Multiple compression neuropathies and the double crush syndrome
Orthopedic Clinics of North America, 1996, 27(2), 381-388
Silverstein B.A., Fine L.J., Armstrong T.J.: Occupational factors and carpal tunnel syndrome
Am J Ind Med 1987, 11, 343-348
Sjögren B., Iregren A., Frech W., Hagman M., Johansson L., Tesarz M., Wennberg A.: Effects on the nervous system among welders exposed to aluminium and manganese Occup Environ Med 1996, 53, 32-40
Tackmann W., Richter H.P., Stöhr M.: Kompressionssyndrome peripherer Nerven
Springer Verlag Berlin, Heidelberg, New York 1989
Upton A., McComas A.: The double crush in nerve entrapment syndromes
Lancet 1973, 2, 359
Yassi A.: Repetitve strain injuries
Lancet 1997, 349, 943-947
Yassi A.: Work-related musculoskeletal disorders
Current Opinion in Rheumatology 2000, 12, 124-130
Yeh J.H., Chang Y.C., Wang J.D.: Combined electroneurographic and electromyographic studies in lead workers Occup Environ Med 1995, 52, 415-419
Zeiss J., Jakab E., Khimji T., Imbriglia J.: The ulnar tunnel at die wrist (Guyon's canal): normal MR anatomy and variants Am J Roentgenol 1992, 158 (5), 1081-1085
Zeller H.J.: Neurogene Ansatzstörungen bei Blechblasinstrumentalisten in: Kreutz R., Piekarski C. (Hrsg), Verh Dtsch Ges Arbeitsmed, 764-768, Gentner Verlag Stuttgart 1992
Zur Übersicht in der Anlage 1 der BKV
ENDE